Brände, Stürze, Überfälle. Die Straße ist kein Ort der Sicherheit. Straßenkünstler waren immer bereit, Risiken einzugehen, wirtschaftlich und künstlerisch. Der Preis der Freiheit ist der Lohn der Zuschauer, die beim Aufeinandertreffen mit den Kompanien aus ihrem Alltag gerissen werden.
Brandgefahr! Buschfeuer, einsame Farmen und Fragen zum Status der Aborigines bilden das Gerüst der australischen Kompanie Stalker. Deren Regisseurin Rachael Swain hat sich auf Inszenierungen spezialisiert, in denen die Kultur der Ureinwohner im Zentrum steht. „Incognita“ ist da beinahe eine Ausnahme. Hier teilt sie sich die Arbeit mit dem belgischen Choreografen Koen Augustinjen aus der Kompanie von Alain Platel. Die jazzigen Akzente des aktuellen flämischen Tanzes passen perfekt zum Road-Movie-Ambiente der großen Weiten. Eines ganz normalen Abends betrinken sich der Farmbesitzer und seine Angestellten, hören Country-Rock (live gespielt) und balgen sich um Frauen. Derweil eine junge Aborigine, scheinbar integriert, ihre Verbitterung über den Verlust ihrer Sprache und Kultur tanzt. Alle liefern ein Feuerwerk aus Tanz, Akrobatik, Theater und Gesang, das auf Mimos zu Recht abräumte. Denn trotz der politischen Botschaft ist „Incognita“ eine Komödie voller Situationskomik. Und mit viel Feuer, im konkreten und übertragenen Sinn. Eine der überzeugendsten, stationären Outdoor-Produktionen der letzten Zeit (www.stalkertheatreco.com.au).
Höhensausen! Aus der Steppe in die Wipfel. Armelle Devigon und die Tänzer ihrer Cie LLE verzauberten die Zedern von Périgueux. Fünf Tage lang erforschten sie das Geäst. Dann hieß es: „Hommage aux cèdres“. Zwei Vertikaltänzer in rot, schwebend, als spräche aus ihnen die Seele des Baumes. Kopfüber am Stamm gleitend oder unter einem Ast hängend, wie verwachsen. Baum Nummer zwei, meterhoch eingewickelt in Klarsichtfolie. Darin eine Akrobatin, sich langsam aus dem Schleier befreiend. Und schließlich, am Boden, drei Männerkörper, die Köpfe in die Erde eingegraben, langsam die Beine in die Höhe schwingend. Endgültig Baum geworden, die Symbiose vollendend. Maßschneidern und für einen Ort kreieren, so wie hier mit Finesse zelebriert, das ist leider allzu selten in der Outdoor-Kunst (armelledevigon @9online.fr).
Unfälle! Längst nicht so originell, aber dafür Liebling der Kinder ist Olivier Parisis. Ein äußerst rührender Straßenclown, dem alles durcheinander fliegt. Kata heißt er. Das bedeutet: Katastrophe. Der Tollpatsch wird allen schnell zum Freund. Ist reiner Franzose, hat aber in seinem Stil eindeutig eine deutsche Note. Fuchtelt mit einem Radio herum, das die Schwingungen der Zuschauer empfängt und in Wellen verwandelt, die Kata gehörig durcheinander wirbeln. Er sieht so ehrlich aus und so verletzlich, hätte es so sehr verdient, dass ihm auch mal ein Handgriff gelänge. Er träumt von „Tea Time“. Doch ist er immer wieder ganz allein schuld an den Situationen, aus denen er sich nur durch noch größeren Schaden befreien kann. Allein, sein guter Wille bleibt ungebrochen. Kata ist auf ewig ein Optimist (katacie@hotmail.com).
Überfälle! Im Off von Mimos (Mim’off) wird streng darauf geachtet, dass jeder spielen darf, aber nur die halbe Woche. Vorherige Anmeldung ist Pflicht. Die Organisation klappte bestens. Und doch gelang es einem Kommando in gelben T-Shirts, unangemeldet einzufallen, die Straße zu erobern und zuzuschlagen, wann und wo sie wollten. Fünf unbekannte Schöne überfielen eines Abends ein Restaurant und tanzten zwischen den Tischen, was die Beine hergaben. Verweigerten jede Auskunft über ihre Identität, während ein Bär, mit Keule bewaffnet, von den Zuschauern das Geld eintrieb. Die gelben Tänzerinnen spielten Vögel, Gänse oder andere Beutetiere. Die Plüschbestie sperrte die Straße und ihre Präsenz reichte aus, auch Luxuskarossen in die Flucht zu schlagen. Anarchie! Aber wenn sie so charmant und gekonnt tanzend daher kommt ... Reiner Spaß! Sie brauchten auch nicht, wie manche Clowns, den Essenden in die Nudeln zu fassen oder das Glas auszuschütten. Unglaublich geschickt, wie sich hier Provokation und Sympathie verbanden. Erst als sie nach gelungenem Überfall selbst beim Eis essen saßen, gaben sie ihr gelbes Geheimnis preis. Der illustre ex-Chef der Kompanie Sandman führt hier das Kommando, quer durch Europa reisend. Die Sonnenblumen weigern sich, ihre Überfälle ankündigen zu lassen. „Wir gehen dahin, wo das Publikum schon ist, und dazu braucht es auch kein Festival“, lautet ihre Devise. So kämpfen sie auch politisch, für die immer mehr beschnittenen Freiheiten im öffentlichen Raum.
Mysterien! Im geregelten Mim’off gibt es in jedem Jahr drei oder vier Entdeckungen, aber auch alte Bekannte. So wie Yukiko Nakamura, Chamäleon des Butoh, die unendlich viele Wege erfinden kann, um zu verschwinden. Immer wieder scheint sie mit Pflanze, Stein oder gar einem Zuschauer zu verschmelzen, sich in Verwesung zu krümmen oder, im Gegenteil, Urkraft und Donner zu enthalten. So zierlich sie auch sein mag. Wer sonst versteht es, eine Stunde lang totales Mysterium über einen Ort zu verhängen?
Balkonstürze! Kurios eine Kompanie aus London, in der eine Deutsche und eine Spanierin zu Posaunentönen eines Briten tanzen. La Ventana Company heißt das originelle Trio. Vier gespannte Gummiseile über einer schiefen Ebene und Wäschestücke im Korb. Ihrer Kleidung nach gehören die Schwestern oder Alter Egos dem einfachen Volk an. Während sie noch Hemden und Röcke an die Leine klammern, gleiten sie plötzlich ab, und der Posaunist versetzt sie in Trance. Nun gleiten sie, verschlingen sich ineinander oder federn in den Wäscheleinen. Wie Terzen und Quinten, die über ein Notenblatt schweben. So sanft ihre Hingabe an die Töne auch sein mag, hier ist doch von Gefangenschaft die Rede. Und vom Mythos einer Frau in Barcelona, die beim Wäsche aufhängen fünf Etagen tief vom Balkon fiel und, von der Wäsche gebremst, überlebt haben soll. „Barceloneta“ heißen das Arbeiterviertel der Anekdote und die Choreografie von La Ventana (das Fenster). Eigentlich Körpertheater an der Schwelle zum Tanz, indoor kreiert und für Mimos erstmals auf outdoor umgepolt. Ein Volltreffer. Die originelle Konstellation (Tanz und Posaune), die vitale Intimität der Figuren, die persönliche Bewegungssprache schlagen sofort in ihren Bann (jamiecraggs@hotmail.com).
Verwesung! Und nun zum Festival VivaCité in Sotteville-lès-Rouen und den zwei Superproduktionen der Saison. Zum einen Mischief La-Bas, eine Kompanie aus der Retorte, pardon, aus Schottland, (eigens?) kreiert für das Abschöpfen von EU-Geldern aus dem Programm In-situ, Street Arts in Europe und Kultur 2000. Unausweichlich: Wer Schottland sagt, sagt Gruseln. Immerhin, die „Painful Creatures“ beweisen Humor. Sie verwesen in der Badewanne, locken als Sirene, als King of Bones oder mit einer Grusel-Peep-Show. Allerlei Mythen die uns ihr Leid erklären, ob mit Worten oder Gesten, und zum Abschluss die übliche Zeremonie der Elemente, Feuer eingeschlossen. Eine Mischung aus Installation und szenischer Aufführung, deren Gelingen stark von der Auswahl des Geländes abhängt. Im nächtlichen Wald von Sotteville war der Gruselzauber schnell hergestellt. Dann standen wir, einen „Pass“ in der Hand, vor einem Schlagbaum und ließen uns von miesen Grenzern schikanieren (vor allem durch Missachtung), so dass ich es vorzog, meine Lieblingskreaturen noch einmal zu besuchen. Ein unterhaltsamer Spaziergang, aber von einer Kreation solchen Ausmaßes hätte man schon etwas mehr thematische und szenische Substanz erwarten dürfen (www.mischieflabas.co.uk).
Shaker! Nichts schuldig bleiben in diesem Sinne Transe Express mit ihrem Mammutspektakel „Les rois feignants“ (Die faulen Könige). Drei Paraden ziehen vom Stadtrand ins Zentrum und treffen dort zu einer königlichen Zeremonie zusammen. Wunderbar die Paraden. Poetisch, humorvoll, schwungvoll. Ob man den Kuhglocken folgt, jungen Akrobaten oder Tänzern, dem Wagen des Alpenkönigs oder der nordischen Nixe etc. Die große Abschluss-Show steigt natürlich wieder hoch in die Luft, diesmal aber an einem zentralen Mast statt am Kran. So schweben die Könige, Musiker und Sänger noch freier. Und am Boden spielen die Orchester. Les rois feignants integriert Amateure in großer Zahl aus den jeweiligen Städten. Die Eroberung des Raumes aus drei Richtungen hat ihren sozialen Aspekt, denn sie kann Menschen aus – auch sozial – verschiedenen Vierteln zusammenführen. Unmöglich, sich nicht zu vermischen, wenn die Menschenmassen zum Abschlusskonzert aufeinander prallen wie in einem großen Shaker. Der Sternmarsch birgt raffinierte Choreografien, Gesang, Live-Musik. Selten erreichte eine Straßenaufführung eine derart komplette Dimension von Ritual, Unterhaltung, Freiheit, Kraft und Poesie. Würde man es jedes Jahr wiederholen, könnte hier ein modernes Ritual entstehen, eine moderne Form der antiken Theatertage (www.transe-express.com).
Reisefieber! In der europäischen Festivallandschaft dürften die 235 Straßenkunstfestivals, die in diesem Jahr in Frankreich stattfinden, den Rekord halten (dazu kommen 56, die Straße und Zirkus mischen), eine Verdoppelung in zehn Jahren. So dass der neu erschienene Festivalführer Street Arts and Circus Arts Festivals, herausgegeben von Hors les murs, schon eine strenge Auswahl treffen musste, um die Zahl der Einträge aus ganz Europa, von Finnland bis Griechenland, von Irland bis Litauen, auf 150 zu begrenzen. In Französisch, Englisch und Spanisch enthält das Werk, neben allen wichtigen Angaben zu Festivalprogrammen, Kontaktadressen, Websites etc., auch Texte, die die Situation der Straßenkunst im jeweiligen Land erörtern. 176 Seiten, 10 € (www.horslesmurs.asso.fr).
Redaktion: Thomas Hahn