Der Sinn des Begriffs „Straßenkunst“ verwässert jedes Jahr ein wenig mehr. Das ist keine meteorologische Anspielung, aber warum zieht es die Künstler zunehmend in die vier Wände? Wenn diese, wie bei Babylone, auf Rädern stehen, mit denen die Kompanie über Land zieht, bleibt der Bezug gewahrt. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass so manche Agitatoren der ersten Stunde sich nach einem Hafen sehnen. Wer mag es ihnen verdenken? Nur: müssen sie dann weiterhin behaupten, sie kreierten „für die Straße“? Bei vielen entsteht der Eindruck, dass sie weiter auf den Straßenfestivals touren, weil sie die Subventionen für ein ganzjähriges Indoor-Projekt nicht zusammenbekommen und gerne weiter in ländlicher Umgebung leben und arbeiten möchten. Inhaltlich aber sind sie längst „indoor“ gelandet. Unter jenen, die die Idee hochhalten, dass ein Bezug zum öffentlichen Raum der Stadt künstlerisch und politisch weiterhin Sinn ergibt, finden sich auffallend viele Performer und Choreografen. Darum seien einige von ihnen, und gerade die weniger Bekannten, im Folgenden vorgestellt.
Frauen. Genauer gesagt: „Ladies“. So heißt die Kreation für vier Tänzerinnen (und einen Brunnen!) der Compagnie Gianni Joseph (Frankreich). Sie tanzen im rosaroten Kleid, einen Luftballon in der Hand, was einer Frau so als glücklich machend eingeflüstert wird: allerlei Geschenke, Kleider und Brillanten. Bringt das Radio („This is your voice of Hollywood“) einen Schlager über Romanzen, so werden die Ladies schnell zu Konkurrentinnen. Das Quartett ist großgewachsen und von bester Tanzausbildung, gereift in den Kompanien von Bouvier/Obadia, Carolyn Carlson, Raimund Hoghe u. a. Ihre Gesten spielen zwischen Träumerei und Entschlossenheit. Die Damen schreien, weinen oder feiern ekstatisch. In Hawaii-Bikinis steigen sie schließlich in den Brunnen und tanzen unter Blumen und Fontänen, wie echte Nymphen. „Ladies“ ist die Geschichte einer Befreiung von den Fesseln des Künstlichen. Das führt über manchen Moment der Slow-Motion, in dem sich die Figuren des Absurden ihrer Konsumwünsche bewusst werden. Im Wasser finden sie zu sich selbst. Die „Ladies“ nehmen nicht einfach irgendeinen Platz in der Stadt. Ohne Bauwerk mit Wasser keine Aufführung. Das direkte Zusammenspiel mit der Architektur unterstreicht, wie sehr die „Ladies“ allen Zuschauerinnen aus der Seele sprechen, nein: tanzen. (ciegiannijoseph@wanadoo.fr)
Ein Solo im Baum, an einem Ort der Freiheit an sich. In „Calao“ spielt eine junge Choreografin und Artistin mit ihren Ängsten und Freuden. Corine Cella war eine schöne Überraschung im Off. Ihre Kompanie Rouge Elea bietet Choreografie in der Luft und Gitarrenbegleitung am Boden. Cella schwingt in ihren Tüchern hoch über dem Boden in so kreativen, unvorhersehbaren Figuren, dass das Gefühl der Freiheit nicht nur eins mit der Schwindelfreiheit ist, sondern ein ganz und gar künstlerisches. Baum und Himmel werden zu einem Blatt, das sie mit der Kalligrafie ihres Körpers ausfüllt, bis das Gedicht auch ohne ihre Präsenz zwischen Ästen und Blättern sichtbar bleibt. (pitithea@yahoo.fr)
Yukiko Nakamura reibt sich dagegen gerne an der Materie. Die japanische Performerin beherrscht die Kunst des Verschwindens. So kann sie plötzlich unter(!) einem Caféhaustisch hangeln, sodass dem Gast vor Erstaunen fast die Tasse aus der Hand fällt. Butoh ist eine Kunst des sich Durchdringenlassens. Nakamura verschmilzt mit Steinen, Pflanzen oder dem Publikum. Mal ist ihre Präsenz völlig diaphan, dann wieder scheint sie in den Bodenplatten zu versinken, rollt sich in scheinbar tödlichem Schmerz oder scheint vor unseren Augen zu verwesen. Aber sie kann auch machtvoll und lautlos knurrend wie ein Raubtier daherkommen. In jeder Improvisation entdeckt man neue Facetten ihrer Verwandlungskunst. Wahrscheinlich sogar sie selbst.
Mit dem architektonischen Erbe setzt sich die Performerin Julie Desprairies auseinander. Sie horcht in industrielle oder öffentliche Gebäude hinein, erforscht deren Bezug zur Gemeinschaft und deren Geschichte. Dann kreiert sie Choreografien, in denen das Gebäude, meist von außen, die Hauptrolle spielt, sei es ein Rathaus, eine Manufaktur oder ein Wohnheim. Ihre Kreationen sind immer für das Gebäude selbst konzipiert, und binden neben Tänzern/Kletterkünstlern auch Musiker und Sänger ein. Sie choreografierte aber auch schon für das und mit dem Kunstmuseum Istanbul, mit einer Kaimauer in Split, einem Kanal oder einem Park.
Männer. Genauer gesagt: Five Angry Men. Sie tragen Schwarz wie die Handwerksburschen vor einem Jahrhundert. Sie kommen aus Australien, fallen ein auf alten Fahrrädern und scharen sich um einen Mast, an dem sie eine Flagge hissen wollen. Auf ihren Blasinstrumenten spielen sie Fanfaren, die mitunter an Klezmer erinnern. Zur Zeremonie gehört auch eine zünftige Rede in unverständlicher Sprache. Doch das Podest, auf dem der Mast steht, kippt immer in Richtung der stärker beschwerten Seite, also der Mehrheit. Die Kultur des common sense, der Flaggen und Rituale wirkt auf einmal gefährlich wie ein Schiff im Sturm, das jeden Moment zu sinken droht. Five Angry Men mischen Akrobatik, Musik, Choreografie und Slapstick unter freiem Himmel. Beim Festival d’Aurillac konnten sie auch Wolkenbrüche nicht davon abhalten, die Performance auf ihrem wackeligen, schrägen, rutschigen Boden zu Ende zu bringen. (www.fransbrood.com)
In Schwarz treten auch du & nichts auf, ein Konzepttheater aus Innsbruck. Drei Herren in schwarzen Nylonjacken, weiße Rosen im Knopfloch und wasserstoffblonde Perücken auf dem Kopf. Auf den Straßenasphalt malen sie ein okzidentales Mantra, mit dem sie das Denken, das Hoffen etc. beschwören. Sie sind Dadaisten des Zeitlichen, wechseln die Geschwindigkeit ihrer Nicht-Handlungen nach Belieben von Zeitlupe bis -raffer. „Eins zwei drei, du bist tot“: abgezählt und sterbenslangsam abgedankt. „All you need is love“: drei Äpfel. Da bleibt von unseren intellektuellen Lebensummauerungen kein Stein auf dem anderen. Das Trio spielt seine Performance „Die Stille der Leere“ in einer Konzentration, einer Intensität des Befremdens, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. Sie kommen daher wie surrealistische Todesengel, Geheimagenten der Konzentration auf das wirklich Wesentliche, die ihr magisches Spiel mitten auf dem Asphalt treiben. Wen oder was werden sie in ihrem kleinen Plastiksarg beerdigen? Allein die Gewissheiten? (www.du-nichts.net)
Ein Michael Schumacher muss nicht immer im Boliden die Luft verpesten. Sei sein Name also rehabilitiert, ausgerechnet Dank eines Amerikaners. Der heißt nun mal genauso wie der rote Brummer und lebt in den Niederlanden. Als Tänzer wurde er an der Julliard School in New York ausgebildet. Er arbeitete mit Twyla Tharp, heute mit dem Nederlands Dans Theater. Wenn er aber zwischen Hecken und Blumen, ganz in Weiß, in einem Garten die Harmonie des Körpers mit Musik und Natur feiert, dann tritt er solo auf, begleitet nur von einem Cellisten. „Im Garten“ ist ein dezentes Barock-Vergnügen in aller Schlichtheit. Schumacher tanzt in himmlischer Reinheit, verschwindet mal in der Hecke, spielt den Clochard auf dem Grab, rollt sich im Gras, strolcht auf dem Brunnenrand, spielt mit den Zuschauern, die ihm von Station zu Station hinterhertrotten, und das alles himmlisch elegant zu Bach-Suiten für Cello. Ein Vergnügen, gerade wegen der Feinfühligkeit von Choreografie und Interpretation.
Pärchen. Es ist ja schon ein besonderer Akt, eine Tanzperformance von allen Seiten her sichtbar zu machen. Da sitzt das Publikum an allen vier Seiten eines elegant lackierten Holzbodens und lauscht der Compagnie UBI (Frankreich). Das Duo erzählt nicht etwa mit Worten, sondern allein durch Bewegung, Gestik und den Bezug zum Partner. Der Partner ist das Gegenüber, oder der Gegenstand. „Duo pour bâton et corde“: Stab und Seil. Sie schwingt das Seil, er den Stab. Objekte der Lust, des Streits. Aber auch der Meditation. Die Reinheit des Holzbodens, das Meditative im Spiel lassen ein asiatisches Ambiente entstehen. Und doch erzählt dieses Duo die Geschichte eines Paares, recht wahrscheinlich eines jeden europäischen Paares. Harmonie, Neid und Streit, List und Täuschung. Die Beziehung ist ein (getanztes) Machtspiel, in dem gewinnt, wer die Reaktion des Partners am besten vorhersieht, der dessen psychische Schwächen kennt und nutzt. Hier tanzen weibliche und männliche Energie in Harmonie, und daraus mag bei UBI dieses Asien-Flair entstehen. (www.cie-ubi.com)
Gleich drei Paare sind bei der Compagnie d’ailleurs (Frankreich/Uruguay) unterwegs. Eins in Blau, eins in Rot, eins in Gelb. Die drei Grundfarben. Sie tanzen Tango, mitten auf der Straße, und so ziehen sie langsam durch das Viertel, von einem hölzernen Karren begleitet, auf dem ein Vogelbauer thront. Sie tragen schweres Tuch, und jeder trägt schwer an seinem Doppel. Denn die besseren Hälften jedes Paares sind rollende Puppen, von genau der gleichen weißen Maske anstelle des Kopfes. Aus dem Wagen tönen exzellente Tangos und Milongas. Die Kompanie hat nicht umsonst ihre Wurzeln am Rio de la Plata. Ihre Prozession „Les quiconques“ (Die Irgendwers) verzaubert mit Raffinesse und verwandelt auch die betonierteste Straße in einen nostalgischen Traum. (www.ailleurs.fr.st)
Redaktion: Thomas Hahn
AdNr:1090