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    Es soll Leute geben, und manche davon bekleiden hohe Positionen im Kulturzirkus, die immer noch glauben, Artisten hätten ihr Gehirn in die Muskelpartien verpflanzt. Dabei ist die Recherche der Artisten seit langem eine der fruchtbarsten Triebkräfte der Erneuerung im Kunstbetrieb. Hier ein paar Beispiele.

    „Entre Chien et Loup“: Zwischen Hund und Wolf. Die Stunde der Dämmerung zwischen wachen und träumen. Wo man nicht weiß, ob man es mit Tieren oder Fabelwesen zu tun hat. Die Kompanie Pochéros schafft in ihrem neuen Stück im Rahmen des Festivals Paris Quartier d’été genau jene Stimmung zwischen Mysterium und Humor, die wir in Märchen und Sagen schätzen. Ihre skurrilen Kreaturen lassen der Fantasie alle Freiheit, könnten Schäfer und Wolf in einer Person sein, aus dem hohen Norden oder den Pyrenäen stammen. Es gibt auch andere Bilder: Akrobatik am Absperrgitter, wie einst bei Archaos. Oder Überraschungen mit viel Humor, wo der Akrobat zum Clown wird, der den Dressurzirkus auf die Schippe nimmt. Subtil fragen sie, ohne eine Geschichte zu erzählen, wie weit wir wohl akzeptieren mögen, was von der Zauberwelt der Sagen noch in uns steckt und wieder geweckt werden möchte.

    Eine Sage und nur diese verarbeitet Eva Schakmundès. Die Ex-Voltigeuse von Zingaro hat jetzt ihre eigene Kompanie, Salam Toto. Und natürlich ihre Pferde. „Penthésilée Suite Fantasy“ erzählt von Liebe und totaler Hingabe zwischen Penthesilea und Achilles. Choreografiert für die Ewigkeit. Kambodschanisch inspiriertes Schattentheater, eine algerische Sängerin, griechische Sprachfetzen. Ein wilder Kampf zwischen zwei Hengsten, ein Tango zwischen Penthesilea und ...? Ja, das Pferd ist Achilles! Schakmundès zeichnet ihre Zirkusbilder so fein wie auf japanischem Seidenpapier, archaisch und doch federleicht. Versteckt alle Dressur hinter scheinbarer Wildheit oder Spontaneität und Intelligenz. Man spürt unendliche Liebe der Pferde zu dieser Amazone, einer Königin in Zartheit, Trauer, Wut und Hingabe. Und auf jedes Bild der Leidenschaft folgt der Narr mit seinem Esel, der sie auf seine Art nachspielt. Am Ende die Verwandlung der Penthesilea in ein Pferd. So weit kann Liebe tragen! Wo Kleist tausend Worte braucht, reichen hier ein paar subtile Bewegungen. Aber auch Schakmundès weigert sich, als Erzählerin aufzutreten. Das Buch sollte man zu Hause lassen, um die „Suite Fantasy“ besser lesen zu können.

    Ähnlich filigran ist Jutta Knödler, die in „La voix de l’autre“ (Die Stimme des Anderen) eben diesen Anderen am Seil fest macht. Ihr Solo, nur von einer e-Gitarre begleitet, erforscht die Widerstände, Reibungen, das Gleiten und die Knoten. Ob im Seil oder in der Seele. heißt ihre Kompanie. In Marseille aber, wo sie arbeitet, versteht man darunter le noeud, den Knoten. Und Knoten gibt es oft in ihrem Seil. Immer schraubt sie sich hoch, gleitet kunstvoll wieder herab. Und sagt so viel über die ständige, tägliche Anstrengung des Menschen, dem moralischen Niederungen zu entkommen. Verbreitet ihr Seil fast schon philosophische Schwingungen, behält es eine Dosis Eigenleben. Etwa wie bei Puppenspielern, die am Ende Zweifel aufkommen lassen, wer denn wen beherrscht. Die Stimme des Anderen tönt eben zuerst in einem selbst. So einfach: eine Artistin, ein Seil, ein Gitarrist. So vielschichtig, komplex und poetisch. Und entwickelt bereits ein neues Stück mit dem Titel „Herz“ (www.noeud.org).

    Terre de cirques hieß in La Villette ‚Ein Festival, um den Zirkus anders zu sehen‘. Und tatsächlich: „Was hat das mit Zirkus zu tun?“ fragten manche verwundert nach dem neuen Stück der Schweizer Metzger, Zimmermann, De Perrot. „Janei“ könnte man darauf mit dem Titel dieser neuen Arbeit des Trios aus Artist, Tänzer und Komponist antworten. Ohne Zirkusausbildung hätten sie eben ihre sehr persönliche, absurde Form von Performance nie entwickeln können. In „Janei“ spielen sie mit der Form des Körpers und seiner Verletzlichkeit. An Akrobatik kein Mangel, nur eben ohne Seile oder Trapez. Da fallen sie wie Bretter aus einer Schablone, werden von einer fahrenden Wand überrollt, scheinen sich in Einzelteile aufzulösen. Verwandeln sich vom Diktator zum Affen, spielen Frankenstein oder Kafka. De Perrot lässt seine Platten drehen als griffe er in die Saiten einer Gitarre. Eine irrationale Welt, in der Diktatoren groteske Reden schwingen wie einst in Südamerika. Wo man nie versteht, wie hier die Schwerkraft Holz und Mensch zusammenhält, wo Situationen herumschleudern, bis man nicht mehr weiß, wo oben oder unten ist. Ursache? Folge? Alles unklar, wie in der sich immer irrationaler gebärdenden Welt der Politik, der MZdP ihren Zerrspiegel vorhalten (www.mzdp.ch).

    Man kann auch die Hightech-Jongleure von Non Nova als Beispiel für völlig neuen Zirkus zitieren. Auch bei ihnen gibt es Uniformträger, Chefs, TV-Terror. „Zapptime“ heißt ihr Stück folgerichtig. Auch weil sie tatsächlich durch eine bunte Folge von Bildern zappen. Einige davon sind absolut verblüffend. Zum Beispiel die Verwandlung der Jongleure in Playmobil-Figuren, deren Stakkato an das Locking der Hip-Hop-Tänzer erinnert. Wie passt das zusammen mit den gezwungenermaßen flüssigen Bewegungen der Jonglage? Es geht, und das grenzt an ein Wunder. Wer den jonglierenden Roboter entwickeln will, sollte sich bei Non Nova schlau machen. Aber warum? Sind doch die Jongleure der Kompanie in Präzision und Schnelligkeit allen Maschinen überlegen. Besonders wenn sie in lila Licht mit scheinbar blauen Bällen sogar die Musik live kreieren, während das Auge des Zuschauers verwirrt zu entschlüsseln versucht, wer hier Fleisch und Blut ist und wer ein Schatten oder ein virtuelles Computerbild. Zwischendurch lassen sie Kartonwände einstürzen, die sie gerade aufgebaut haben, jonglieren mit Fahrradreifen oder Papierschirmen, zeigen TV-Bilder zum Schock der Zivilisationen. So wird Jonglage zu einem Medium, das die Machtstrukturen der Gesellschaft durchleuchtet. Philippe Ménard und Franck Ténot zeigen zudem, dass Hightech im Dienst des Menschen stehen kann, dass aber das Ziel der Industrie gerade umgekehrt lautet. Von Bild zu Bild zappen sie zwischen Hightech, Spiritualität oder Dadaismus. Non Nova: der Name der Kompanie kann nur ironisch verstanden werden.

    Man sollte besser nicht versuchen, im Zirkus Geschichten zu erzählen. Und sei es die eigene Geschichte, so wie es jene Truppen gerne tun, die aus sozialen Projekten in Afrika oder Lateinamerika entstanden sind. Der Circus Baobab aus Guinea ist zurück in Europa, mit einer neuen Produktion, inszeniert von Archaos-Pionier Pierrot Bidon. „Les tambours sauteurs“, die springenden Trommeln, baut vor allem auf Tanz auf, und hypnotische Rhythmen der Trommeln und Balafone. Die musikalischen Arrangements stammen noch von Momo Wandel Souma, der Afro-Jazz-Legende. Der im letzten Jahr verstorbene Momo war Mittelpunkt des ersten Baobab-Stücks, und so ein Magnet fehlt der Truppe jetzt. Die Geschichte von den Jugendlichen aus dem Dorf, die in der Hauptstadt Conakry unter die Räder kommen und vom Magier des Dorfes zurückgeholt und gerettet werden, ist so simpel, dass sie eigentlich die Dynamik der Aufführung nicht behindern sollte. Sie tut es aber doch, und das muss man Pierrot Bidon ebenso ankreiden wie das magere Bühnenbild. Ist aber egal, denn das gesamte Vorspiel aus Tanz, Gesang, Akrobatik und groteskem Theater läuft nur auf eines hinaus: Das Finale, wenn nämlich die Rückkehr der verlorenen Söhne gefeiert wird. Was für ein grandioses Feuerwerk aus Bodenakrobatik! Und auch den Magier muss man erwähnen, ein Kontorsionist, der sich verdreht, bis dem Zuschauer angst und bange wird. Er hätte noch mehr in den Mittelpunkt gehört. Natürlich vergessen wir dabei nicht, dass die Geschichte der Zirkuskompanien in Afrika gerade erst beginnt.

    Auch die venezolanische Kompanie Ipokek erzählt den Alltag. Autoreifen, Müllsäcke, Blechtonnen und dreckige T-Shirts. Aber ihr Stück ist kein Trash-Zirkus, sondern zeigt gerade die Hoffnung auf Überwindung der Armut, zumindest in der Fantasie. Da taucht die unerreichbare Schöne am Trapez auf oder der Rattenfänger, der süße Träume verkauft und sich in einen Alptraum verwandelt. Niki Garcia und Marie Reboledo lernten Zirkus und Schauspiel in Kuba, Argentinien und Europa. Sie betreiben eine Zirkusschule in einem Armenviertel von Caracas. In „Ninos en la via“ (Straßenkinder) vermischen sie Akrobatik am Boden und am Trapez mit Tanztheater, Mime und Cabaret. Das Stück ist eher ein Gedicht als eine Geschichte. Ein Art Fest. Ipukek spielen outdoor, so wie der Titel es verlangt, und lassen Poesie, viel Spontaneität und Menschlichkeit rüberkommen (www.ipukek.i8.com). Vom 6.–12. Oktober findet in La Sabana, einem Ort an der Küste, die venezolanische Convencion Internacional de Circo statt (www.convencioncircove.org).

    Apropos Erneuerung: Keine Kunstform verzeichnet größeren Zulauf. Und das scheint weit mehr als eine Modeerscheinung zu sein. Wie wäre es mit Zirkus als Pflichtfach in der Schule? Vor allem für Kulturpolitiker.

    Redaktion: Thomas Hahn


    2004-09-15 | Nr. 44 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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