In Köln und Bonn begleiteten die alternativen Karnevalssitzungen „Stunksitzung“ (Köln, E-Werk) und „Pink Punk Pantheon“ (Bonn, Pantheon) den traditionellen Sitzungskarneval von der Jahreswende bis zum Sessionsende am 23. Februar (Dienstag vor Aschermittwoch). Die als alternative Karnevalsrevue getarnte Vereinssitzung des 1. Freien Kritischen Karnevalsvereins Bonn von 1983 (1. FKKVB n. V. v. 1983) jährte sich zum 26. Mal, die Kölner Stunker ließen es zum 25. Mal krachen. In Bonn nahmen unter dem wie immer rheinisch-katholisch-sentimentalen, politisch unkorrekten und von Vereinsdurchstechereien und Alkoholismus auf offenem Präsidiumspodium geprägten Vorsitz der Vereinsoberen Fritz Litzmann (Rainer Pause) und Her(r)mann Schwaderlappen (Norbert Alich) Beate Bohr, Gabi Busch, Sia Korthaus, Maryam Yazdtschi, Axel Cruse, Tunç Denizer, Richard Herten, Manni Holländer, Uwe Kania, Thomas Köller, Sangit W. Plyn, Massimo Tuveri, Gerhard Vieluf und Gernot Voltz bundesdeutschen Zeitgeist, Politik und Lebensart aufs Korn. In Köln saß Biggi Wanninger als Präsidentin einem veritablen Elferrat aus Damen des Ersten Kölner Frauen-Shanty-Chors, Die Ahoi-Brausen, vor. Ozan Akhan, Martina Bajohr, Doris Dietzold, Doro Engelhaaf, Didi Jünemann, Günter Ottemeier, Anne Rixmann, Christian Rzepka, Bruno Schmitz und Tom Simon bildeten das Ensemble. Musikalisch begleitete in Bonn die Band Ein Quantum Troisdorf die Sitzung, in Köln rissen Köbes Underground die Künstler zu Höchstleistungen und das Publikum zum Mitsingen und Schunkeln in allen Schwierigkeitsgraden mit (etwa im Fünfachtel-Takt zur Welturaufführung eines angeblich im Nachlass von Karlheinz Stockhausen aufgetauchten Mottoliedes für den Kölner Karneval).
Ein Leitmotiv beider Sitzungen war der Hang zu messianischem Erlösungsglauben. In Bonn feierte Vorstandsmitglied Fritz Litzmann (Rainer Pause) bereits beim Einmarsch mit dem Ruf „Hallelujah, es ist vorbei!“ die Wiedergeburt der deutsch-amerikanischen Freundschaft durch das Ende der Ära Bush und den Amtsantritt Barack Obamas als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Er entschuldigte sich für die in der Vergangenheit gemachten anti-amerikanischen Witze, und Herr Schwaderlappen (Norbert Alich), immer der missmutigere Bedenkenträger von den beiden, mahnte die Stadt Bonn, die Zeichen der Zeit zu erkennen: „Wir brauchen auch einen Neger als OB!“ Köln ist bei der kommunalpolitischen Umsetzung des Messianismus schon einen Schritt weiter, denn 2009 steht die Wahl des Oberbürgermeisters an. Der schwarze Willi vom Karnevalsverein „Negerköpp“ aus dem Stadtteil Poll tritt hier gegen Amtsinhaber Fritz Schramma (CDU) und den rot-grünen Herausforderer Jürgen Roters (SPD) an. Die Stunksitzung gewährte Einblick in seine Wahlkampagne. Schwarz angemalt, mit Glasperlenketten und krauser Perücke, treibt „der kölsche Obama“ Willi (alias Didi Jünemann) schamlosen Populismus in den Straßen der Domstadt, während im Hintergrund seine Mama die Fäden zieht (also gewissermaßen eigentlich den Bastrock anhat). Die kommunalen Ämter werden zwischen Willi und seiner Mama aufgeteilt. Wie soll sich Köln auch nicht nach einem Erlöser sehnen, wenn doch der amtierende OB Fritz Schramma (Doro Engelhaaf mit grauer Perücke und Bauchprothese im Zweireiher) im Bestreben, das Stadtsäckel zu füllen, nur noch im Sinn hat, Köln den reichen Russen schmackhaft zu machen. Da macht er kurzerhand den Barbarossa- zum „Barbarussenplatz“, erklärt, BAP sei die Abkürzung für „Babuschka“, und das Funkemariechen wird durch ein „Russisch Julchen“ mit weißer Pelzmütze ersetzt. (Nun ja, schließlich wurde schon der russische Zar Alexander I. für den Sieg über Napoleon als „Befreier Europas“ gefeiert, und die kölschen Karnevalsuniformen zitieren bekanntlich jene der napoleonischen Truppen, sind also eigentlich Besatzer-Uniformen. Dennoch scheint Herr Schramma nach Ansicht der Stunker da etwas missverstanden zu haben.) Seit der Domstadt mit dem Tod Willy Millowitschs die letzte große Lichtgestalt verloren ging, ist nichts mehr, wie es war. Mit Kardinal Meißner, dem zugewanderten amtskirchlichen Hüter des rechten Glaubens im Hohen Dom, stehen zumindest die Stunker nach wie vor auf ganz schwierigem Fuß. Er fällt ebenso wie OB-Kandidat Jürgen Roters, FC-Präsident Wolfgang Overath (der seinen Migrationshintergrund schon im Namen trägt) und BAP-Sänger Wolfgang Niedecken durch den von Martina Bajohr als resoluter Oberlehrerin inszenierten kölschen Einbürgerungstest.
In Bonn leckt man derweil die eigenen historischen Wunden – zehn Jahre Berlin-Umzug und jenes andere „fiese Jubiläum“: ein Jahr Rauchverbot. „Eine der größten faschistischen Aktionen, die wir jemals erlebt haben!“, erbittert sich Fritz Litzmann. Da sei es nur gerecht, wenn von bönnschem Boden – nämlich der „in Mehlem ansässigen Kreditanstalt für Wiederaufbau (vulgo: KfW-Bank)“ – jene Erschütterung des globalen Kapitalismus ausging, die als Zusammenbruch der amerikanischen Investment-Bank Lehman Brothers Holdings Inc. in aller Erinnerung ist. Bekanntlich waren an einem Septemberwochenende des Jahres 2008, am Tag des Insolvenzantrags von Lehman Brothers, von der KfW-Bank noch runde 300 Mio. Euro in die Konkursmasse überwiesen worden – Gelder, welche die KfW-Bank gleichsam treuhänderisch für den deutschen Steuerzahler verwaltete. „Bonn war ursprünglich an der Krise beteiligt. Da sin mer stolz drauf!“, erklärt der FKK-Rhenania-Vorstand. „Do laachs de dich kapott, dat nennt man Banking“, besang auch Köbes Underground in Köln diesen Treppenwitz der Kapitalismus-Geschichte. Die Stunksitzung begann mit einer Bühnennummer, in der zwei bürgerliche Ehepaare eine Filiale der Stadtsparkasse überfallen, um „eine Million“ aus ihren angelegten Geldern zurückzufordern. Aber die Sparkasse Köln-Bonn hat kein Geld mehr (weil sie alles bei der KfW angelegt hatte), und der Bankangestellte belehrt die Kunden, wenn sie Millionen wollten, müssten sie entweder den in Köln-Godorf prosperierenden Möbel-Discounter IKEA oder die geschäftstüchtige Brauchtums-Band Die Höhner überfallen.
Litzmann und Schwaderlappen zimmern aus der Sache Lehman(n) ihr eigenes Bonner Weltgebäude. Wie jedes Jahr geraten die Vorstandswahl und die Verabschiedung des Rechenschaftsberichts zur Farce. Der FKK-Rhenania-Vorstand hat die Vereinseinnahmen in Leergutscheinen auf dem Weltfinanzmarkt investiert („bei Herrn Lehman“). Trotz Flaschenpfand-Pfändungstitel ergibt sich buchhalterisch eine Lücke von 35 Millionen Flaschen oder 21 Millionen Litern geistiger Getränke. Damit alles ins Lot kommt, führt Litzmann eine Spendenquittung der Lehman Brothers über 2,45 Millionen Euro ins Feld (das Geld ist futsch), sowie eine weitere von Papst Pius XII., gezeichnet i. A. Litzmann. (Wenn der KfW-Vorstand nichts vom Bankrott der Lehman Brothers Holdings Inc. gewusst habe, müsse er auch nicht vom Verscheiden jenes Papstes Pius Kenntnis genommen haben und habe die Spende ergo in bestem Wissen und Gewissen getätigt.) Gernot Voltz in der Rolle als Herr Heuser vom Finanzamt taucht wie jede Session auf, um die Bücher zu prüfen. Inzwischen aber hat er, in seinem beamtischen Pflichtbewusstsein, durch die Amoral von Regierenden und Finanzmanagern weniger erschüttert als in gerechte Raserei getrieben, gleichsam die Seiten gewechselt und sucht nach Lösungen für seine Klientel. Er schlägt vor, dass die FKK Rhenania sich unter die Schirmherrschaft von Angela Merkel begebe, nämlich als Zulieferer der Not leidenden Autoindustrie. Wer heute noch einen der Sprit fressenden Oberklassewagen deutscher Hersteller fahre, brauche vor allem eines: Humor. Der FKK Rhenania aber sei „der größte Humor-Lieferant im Rheinland“ und verdiene folglich, von der Regierung finanziell am Leben erhalten zu werden. Herr Heuser, der brave Finanzbeamte in der immergleichen beigefarbenen Windjacke und mit Traveller-Hütchen, seinen Aktentrolley hinter sich herziehend, hat die Schnauze voll. Herr Heuser übt Systemkritik und gibt den Bürgern im Saal mit auf den Weg: „Wenn Sie das Porsche-Cabrio von Herrn Ackermann sehen, kotzen Sie ruhig mal rein!“
Um alle großartig-bösartigen Spitzen der diesjährigen Stunksitzung zu erwähnen, dazu ist hier leider nicht der Raum. Von der Piratenfilm-Parodie Der rote Oskar, in der die deutsche Parteienlandschaft aufs Korn genommen wird, über „Viva Fastelovend“, eine überdrehte Satire, in der Doris Dietzold als Moderatorin Gülcan Kamps die zwei roten Funken Jupp und Rudi interviewt, den Song „Die Kinder vom Bofrost-Mann“, eine Cover-Version von Köbes Underground auf Dusty Springfields „Son of a Preacher Man“, den rasanten Auftritt von Didi Jünemann als gegen „Honig-Aufguss-Pussies“ und Wellness-Verweichlichungswahn wütendem Bademeister der alten Schule („hart, siffig, verchlort“), die makabre „Free-Tibet-Kür“ der deutschen Synchronschwimmerinnen, die während der Olympiade in Peking angeblich nicht gezeigt werden durfte, bis zur genial-virtuosen Nummer „Gekippte Kamera“, bei der die akrobatischen Aktionen, die Ozan Akhan und Günther Ottemeier auf der Bühne vollführten, zeitgleich um 90 Grad gedreht auf eine Leinwand projiziert wurden, bot die Stunksitzung 2009 ein Feuerwerk an politischer Satire, Poesie, musikalischen und choreografischen Höhepunkten und riss das Publikum mehrfach zu Standing Ovations hin. Die Stimmung in Bonn war etwas verhaltener, aber schließlich ist Pink Punk Pantheon auch kein Sitzungskarneval, sondern eine boshafte, geistreiche Revue, die den Traditionskarneval wie die Befindlichkeiten am ehemaligen Regierungssitz und im Rheinland überhaupt mit seismografischem Feingefühl aufs Korn nimmt. Zum Schluss sei noch ein Wort an den Rezensenten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erlaubt, der die Pink-Punk-Pantheon-Revue im Feuilleton besprach: Die Service-Kräfte im Pantheon, immer auf der Flucht vor dem Bützchen-heischenden Litzmann, sind nicht auf 1-Euro-Basis beschäftigt, wie in der FAZ gemutmaßt wurde, sondern verdienen vom Pantheon erwirtschafteten Lohn für ihre harte Arbeit. „Auf 1-Euro-Basis arbeiten und dann auch noch die Nachstellungen eines Fritz Litzmann aushalten? Das würde keiner machen“, teilte die Pressestelle des Pantheon auf Nachfrage mit.
2009-03-15 | Nr. 62 |