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    Ganz anders als man denkt

    Alle Jahre eröffnen in schneller Folge zwei Festivals in Heidelberg das Kleinkunstjahr – Das Kabarett- und Kleinkunst-Festival Carambolage am Karlstorbahnhof startete am 19. Januar mit Georg Ringsgwandl und einem wie zu erwarten ausverkauften Haus ins mittlerweile vierte erfolgreiche Jahr. Am zweiten Abend der Carambolage schien das Publikum gar wie die Lemminge zur Truppe der WDR-Kultsendung Nightwash zu strömen. Aber was im Fernsehen Quoten erzielt und von der Couch direkt ins Theater zieht, ist nicht zwangsläufig brillant. Nightwash war Waschlauge fürs Rückenmark und spülte die grauen Zellen allenfalls weich statt sauber. Das lag nicht am grippebedingten Ausfall von Klaus-Jürgen „Knacki“ Deuser, denn der wurde durch Heinz Gröning, dem „im Körper eines stark behaarten LKW-Fahrers gefangenen, sensiblen Poeten“, sehr gut vertreten. Als schärfster Hengst des Herren-Parcours – denn Frauen würden ihn, wie er sagt, „nicht von der Bettkante stoßen ... bei dem Gewicht“ – war Gröning der Taktiker der bis zum Geht-nicht-mehr hinausgezögerten Pointen und rabiat vorgetragenen Bandwurmtexte, aber auch der Meister Proper des derben Mitgrölschenkelklopfliedes. Sein Kollege Roberto Capitoni rackerte sich handwerklich so stereotyp durch sein Miniformat, dass selbst die hart erarbeiteten Lacher klangen, als kämen sie vom Band. Johannes Flöcks Texte waren kaum ausgesprochen, da hatte man sie, was ein Segen, schon wieder vergessen, und statt Achim Knorr hätte man eigentlich auch einen x-beliebigen Spaßvogel von der Heidelberger Fußgängerzone ziehen können. Gut, dass da keine Längen aufkamen, sondern sich das Waschprogramm im Viertelstundentakt zwischen dem sauberen Moderator Heinz Gröning und Dauergrinser Alex „die Band“ Flucht abspulte. Das spaßwillige Publikum und einer wie Horst Fyrguth, der von seinen pädagogischen Abenteuern als Walldorfschüler erzählte und mit dem Beziehungszeugnis von der Ex-Freundin auftrumpfte, hoben die Drehzahl dieses Schleudergangs.

    Bis zum 4. Februar gab es noch hochkarätiges Kontrastprogramm an dreizehn weiteren Carambolage-Abenden – von gestandenen Kabarettisten wie Georg Schramm und Heinrich Pachl über den Physik-Erotiker Vince Ebert, Chanson im Angela-Buddecke-Format oder die unverschämten Liedminiaturen von Marco Tschirpke und natürlich Exoten wie den O-Tonpiraten mit ihrer Travestie-Show zu original Soundtracks großer Kinofilme und Fernsehserien. Der Parodist, Comedian und Kabarettist Florian Schröder war bei der Carambolage noch so etwas wie ein Insidertipp, obwohl er doch schon seit November 2004 mit seinem ersten Soloprogramm „Auf Ochsentour“ ist. Erst am 30. April wurde Schröder, neben den Stuttgartern Top Sigrid und Fabian Schläper, mit dem Kleinkunstpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Der wortgewandte Freiburger „Noch“-Student „merkelte“ sich durch die Grundsatzphrasen der Bundeskanzlerin, ließ den Besserwisser Joschka Fischer Journalistenfragen beantworten, bevor sie überhaupt gestellt wurden, und schaffte am Ende im Alleingang gar ein Triumvirat mit Müntefering, Struck und dem abgetakelten Altkanzler. Dank Schröders klanggetreuer Parodien, die den näselnden Ton von Angela Merkel genauso trafen wie den blumigen Singsang von Alfred Biolek und den artikulierten Redefluss eines Ulrich Wickert, wurde Namensgenosse Altbundeskanzler Gerhard Schröder zum Gegenspieler und roten Faden. Als Rampensau drängte der Politprofi den jungen Polit-Comedian und Kabarettisten immer wieder ellenbogenstark zu Seite. Geschmeidig, wie Florian Schröder sich selbst zum szenischen Gegner machte und dabei die Macken der Galionsfigur enttarnte, ohne so bedeutungsschwer zu werden, dass man es politisches Kabarett nennen könnte. Florian Schröder nimmt den gesellschaftlichen Diskurs leicht, ohne leichtfertig zu sein, und genau da mag man die subtile Hand des Regisseurs Matthias Deutschmann erahnen. Noch scheint Schröder aber auf dem feinen Grat zwischen den Formaten entlangzubalancieren. Auf weitere Schröder-Entpuppungen darf man gespannt sein.

    Als die Carambolage mit zwei von Karl-Heinz Helmschrot moderierten Varieté-Abenden das letzte Pulver verschossen hatte, klinkte sich das Chansonfest Schöner Lügen ein – fast klassisch von Salome Kammer und „Zwischen den Blumen das Unkraut“ eröffnet – einem Liederreigen von Kurt Weil bis Bert Brecht. In seinem sechsten Jahr seltsam schmalbrüstig wirkte das Programm des Chansonfestes, das in Kooperation mit dem Verein Festival der Lieder seit 2001 im Kulturfenster über die Bühne geht. Malediva „leuchtet“e gleich am 3. und 4. März, wo doch schon am 1. und 2. April die Vorpremiere zum neuen Programm „Ab heute verliebt“ im Mannheimer Schatzkistl angekündigt war. Madeleine Sauveur trat zweimal mit „Gewusst wie?!“ auf die Bretter und auch der programmatische Liederabend „Alles Lüge!“ mit Lokalmatadoren wie Annegrit Kloos, Gunilla Weber, Leander Altenberger, Peter Balsamico Saueressig und Bernhard Bentgens stand zweimal in Folge auf dem Programm. Allein Friedhelm Kändler mit „Das Leben ist Eso“ hätte eigentlich eine Neuentdeckung für das Publikum in der Metropolregion Rhein-Neckar werden können. Aber der poetische Dichter-Guru-Fürst war wohl bei einem Chansonfest nicht sonderlich ideal platziert und lockte trotz seiner göttlichen Wortwendigkeit weniger Publikum als die Gosh Brothers. Die hatten sich im Kulturfenster bereits beim „Dicker-Hund“-Kleinkunstpreis im Herbst in die Herzen der Heidelberger gespielt. So sang das Publikum noch minutenlang, nachdem die beiden schrägen, aber in musikalischer Hinsicht verblüffenden Musikkomödianten die Szene verlassen hatten, den Ohrwurm „Urlaub am Meer“.

    Mit einer Prise ringelnatzscher Poesie erkundete am 8. März in der Mannheimer Klappsmühl’ mit „Füttern verboten“ K. W. Timms spitze Berliner Schnauze systematisch das Kurpfälzer Publikum. Timms zerstreutes Charisma schuf Nähe von der ersten Note an. Die Mannheimer ließen sich pfiffig und wenig maulfaul auf ein Fragespiel ein, das die Klapsmühl’ in ein heimeliges Wohnzimmer verwandelte, in dem Timm quasi unter Freunden sinnierte – über Rauchen und Fitnesswahn, Gesundheitsreform und Papstwahl, über große Politik und Korruption oder Ernährungsrisiken im Zeitalter von Vogelgrippe, Pestiziden und Schweinepest. Dabei verschachtelte er die Themen mit ungeahntem Ausgang. Leise, sparsame Gitarrenklänge, eine flüsternd-kratzige Stimme und die lässige rote Trainingsjacke – Timm trumpfte mit Verletzlichkeit und Brüchen auf. Da stellt er die Frage in den Raum, welche Lieder dieses Klavier denn wohl schon spielen kann, bevor er zaghaft die Tasten erkundet und Noten nur tröpfeln. Und doch ließ er sich von einer Musikalität tragen, die ihm fast schlafwandlerisch zum richtigen Zeitpunkt genau das Richtige entlockte. Sensibel gesetzte und doch deftige Worte gehen in diesem fragilen Spannungsfeld tief unter die Haut –im Frühlingsgedicht etwa, wo „Kühe Anabolika kotzen“. „Füttern verboten“ kommt sehr gut ohne Höhepunkte aus und hält das Publikum wie im Whirlpool auf angenehmer Dauerentspannung.

    Der Standort eines visionären Projektes mit 170 Sitzplätzen, bei dem die Kombination von Kleinkunst und Kino Synergien lostreten will, ist das schöne alte Dorfkino Kulisse in der Hauptstraße von Kirrlach, einem Ortsteil von Waghäusel. Im September wird Jürgen Vogel, der Macher des „Zeltspektakels“ und seit dreizehn Jahren Programmverantwortlicher für das Jump in Walldorf, mit „Hinter der Kulisse“ dort eine neue Kleinkunstbühne eröffnen und damit bewusst einen Beitrag zur Belebung der ländlichen Szene leisten. Ein neuer Betreiber hat bereits frischen Wind ins Dorfkino gebracht, schafft es, bei Filmneustarts mit den Filmpalästen der Metropolregion gleichzuziehen. Ein bis zwei Mal im Monat soll das Kino an einem Wochentag nun auch der Kleinkunst Raum geben und den Landbewohnern lange Wege zur Kultur ersparen. Im Ort ansässige Geschäfte werden den Vorverkauf übernehmen. Über mangelnde Resonanz kann sich Vogel im Vorfeld jedenfalls nicht beklagen. Regionale Firmen und viele Künstler, die schon im Jump oder beim „Zeltspektakel“ auf der Bühne gestanden haben, unterstützen das Projekt tatkräftig. Schon ab Ende Juli will die neue Bühne unter www.hinterderkulisse.de im Internet präsent sein.

    Redaktion: Sibylle Zerr

     Bernd Lafrenz Termine:

     

    Hinter der Kulisse, Waghäusel-Kirrlach

    27. & 28.9. Eröffnungsgala mit Christian Habekost, The Two Tones, Angela Buddecke, Annette Postl, Kristof Schliep, Arnim Töpel, Moderation: Andreas Schill

     

    Zeltspektakel Walldorf

    vom 5.9. bis 17.9.2006
    mit Rolf Miller, Fabian Schläper, Martina Ortmann, Kay Ray, ImproMatch, JungeJungeundderRömer, Annette Postel, Herr Schill und seine Gäste, Gernot Voltz, Andi Steil – werktägliche Late Night mit: Armin Rühl, Wolfy Ziegler & Friends

    Karlstorbahnhof, Heidelberg

    14.9. Gardi Hutter
    7.10. Horst Schroth (in der Musik- und Singschule) 

    Kulturfenster, Heidelberg

    10.6. Ein Ball packt aus (Künstler für Künstler)
    25.6.–9.7. Theatersport WM
    30.6. WM-Impromatch (im Deutsch-Amerikanischen-Institut)
    29./30.7. Theatermarathon Heidelberg

    Klapsmühl’, Mannheim

    1.–3.6. und 4.–13.8.
    Valentins Lachkabinett, Klapsmühl’ Ensemble

    18.–20.8. und 26.–27.8.
    H. G. Sütsch: „Wurst oder die Musen des Metzgers“ – Premiere

    25.8.
    Frederic Hormuth: „Nett war gestern“

    1.–3. und 20.–21.9.
    Josefin Lössl: „Elsi Stratmann goes Kurpfalz“ – Premiere

    6.–10.9.
    „Das Beste von Loriot“, Klapsmühl’ Ensemble


    Schatzkistl, Mannheim

    2.–3.6. Volker Heymann, Madeleine Sauveur, Clemens Maria Kitschen, „Herz sticht – Gute Karten beim anderen Geschlecht“ kabarettistische Begegnung mit Musik

    Sommerpause bis Ende September

    AdNr:1012

    2006-06-15 | Nr. 51 | Weitere Artikel von: Sibylle Zerr





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