Der Kandidat ist noch nicht anwesend, jedenfalls nicht in Natura. Aufgrund der an der Bühne aufgehängten Wahlplakate kann sich das Auditorium jedoch bereits ein Bild von dem Mann machen, den hier alle erwarten: Jens Neumann, ein junger und aufstrebender Spitzenkandidat der Partei DS, hat sein Erscheinen im Frankfurter Stalburg Theater angekündigt, und das Publikum ist gespannt auf den „Hoffnungsträger seiner Partei“, wie eine Stimme vom Band verkündet. „Erleben Sie, was sechs Wochen Wahlkampf aus einem Kandidaten machen können!“ Der Leitsatz der Partei ist gleichzeitig Programmtitel: „Neumann nach Berlin“.
Und Neumann kommt und redet – nur, dass sich die Aussage seiner Worte durch die Hilfe seiner fleißigen PR-Berater trotz gleicher Themenauswahl von Rede zu Rede ständig verändert. Der anfänglich politisch überzeugte und ambitionierte Jungpolitiker mutiert somit während seines fiktiven, mehrwöchigen Wahlkampfes zum Polit-Zombie seiner Partei.
In seiner ersten Rede spricht Neumann noch vom Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und einem „Aufschwung auf Pump“. Schon damals habe das deutsche Volk über seine Verhältnisse gelebt. „Wir sind immer noch einer der reichsten Staaten der Welt und müssen lernen, den Gürtel enger zu schnallen“, so Neumann. Seine Maxime: „Gewinne nicht zu mehren und zu wachsen, sondern zu stabilisieren!“ Und im Hinblick auf die Dritte Welt: „Wenn ich wachse, bedeutet dies, dass ein anderer schrumpft“.
In der zweiten Rede propagiert Neumann bezüglich des Wirtschaftswunders: „Die Deutschen hatten es sich verdient, nach all den schlimmen Jahren!“ Die Kunst sei, Wohlstand und Wachstum zu mehren, „damit auch unsere Kinder etwas davon haben!“ Und so verändert sich im Laufe des Programms Neumanns Aussage und auch sein Habitus, bis er – oder vielmehr sein politischer Berater – zu der Erkenntnis kommt, Ziel sei: „Gewinne noch mehr zu mehren und zu wachsen!“ Frei nach der Maxime: Koste es, was es wolle. Was zählt, ist ein Platz im Berliner Bundestag! Was nach Neumanns letzter Rede bleibt, ist ein Blick auf einen ausgebrannten Kandidaten ohne Illusionen.
Dabei erscheint es wenig beruhigend, dass Neumanns Texte gänzlich aus der Feder des Autors Michi Herl stammen. Und dass Darsteller Ilja Kamphues, dem Stalburg-Publikum bereits bestens bekannt als Dr. Kögel in „Wer kocht, schießt nicht“, unter der Regie von Manfred Roth alle Facetten seines schauspielerischen Könnens zeigt. Denn leider entspricht die Satire zu sehr der Realität. Ganz nahe an der politischen Realität ist auch Jens Neumanns Ausspruch: „Wir von der QDS wissen, dass wir mit der Zeit gehen müssen, äh, dass wir mit der Zeit gehen müssen!“
Harter Stoff für das Publikum (welches die eben doch nicht immer gleiche Rede insgesamt vier Mal über sich ergehen lassen muss), aber große Kunst, die auch folgendermaßen überschrieben sein könnte: Ein Jungpolitiker auf der Suche nach sich selbst, der sich während seiner Kampagne gründlich verlaufen hat! Eben wie im richtigen Leben!
Ebenfalls im Stalburg Theater waren drei Protagonisten nicht auf der Suche nach sich selbst, sondern nach Carmen. Ein kleines, aber feines Ensemble hatte zur großen Oper geladen. Vor ausverkauftem Haus feierten Ingrid El Sigai, Markus Neumeyer und Frank Wolff Premiere mit ihrem Programm „Carmen verzweifelt gesucht“. Wer ist überhaupt diese Carmen? Spanierin oder Zigeunerin? „Auf jeden Fall lustvoll-erotisch“, erklärt Frank Wolff, worauf sein Bühnenkollege Markus Neumeyer süffisant ergänzt: „Also ’ne geile Schnalle!“ Zudem ist Carmen garantiert ein Mezzosopran. Kein Wunder, dass mit Ingrid El Sigai dann auch bald eine geeignete Carmen-Darstellerin gefunden wird. Schließlich hat die grazile Brünette zu Beginn des Programms schon mit Friedrich Hollaenders flehend geschmettert: „Lass mich Deine Carmen sein“.
Vor dem endgültigen Engagement sucht El Sigai jedoch noch nach geeigneten Partnern, frei nach dem Motto: „Ein Neandertaler“ (von Günter Neumann), und wird nach polyphoner Mitwirkung ihrer männlichen Mitstreiter und einem bühnenreifen Casting („Theaterdirektor“ von Georg Kreissler), welches unweigerlich an aktuelle Casting-Shows im Fernsehen erinnert, für ihre Mühen mit der Carmen-Rolle belohnt, die ihr wie auf den Leib geschrieben ist. Wer sonst könnte, sowohl als Operettensoubrette als auch Femme fatale – sich überzeugend auf dem Flügel fläzend – einen solch strengen Theaterdirektor (Markus Neumeyer) überzeugen?
Nach weiterer musikalischer Überzeugungsarbeit der Herren Neumeyer und Wolff, die am Flügel und Cello gekonnt unter anderem die „Zigeunerweisen Opus 20“ von Pablo de Sarasate darboten, war die gesamte Besetzung für Georg Bizets Werk gefunden. Und so konnte ein begeistertes Premieren-Publikum in der zweiten Programmhälfte erleben, wie El Sigai, Neumeyer und Wolff mit Charme, Schimpf und Schwung und auf atemberaubende Art und Weise ihre ganz eigene Inszenierung der Carmen präsentieren.
Da wird musiziert, interpretiert und karikiert, dass es eine Herzenslust ist. Wenn Ingrid alias Carmen das spanische „R“ rollt, um dann wieder als Zigeunerin hessisch zu babbeln, bleibt kein Auge trocken! Bizets Meisterwerk in nur 45 Minuten, nach einer neuen Textbearbeitung von El Sigai und Neumeyer, der auch für die musikalischen Arrangements verantwortlich zeichnet. Große Oper im Kleinformat, drei Künstler, verschiedene Charaktere und kein bisschen Langeweile. Da bleibt nur eins zu sagen: Hingehen und ansehen!
Zum Theaterkonzept
Vielleicht werden sich einige Leser fragen, warum das Frankfurter Stalburg Theater relativ häufig auf unseren Rhein-Main-Seiten vertreten ist. Der Grund dafür liegt klar auf der (schreibenden) Hand: Kaum eine andere Bühne hat dermaßen viele Eigenproduktionen und kreative Hauskünstler mit ständig neuen Programmen zu bieten wie dieser Spielort im ehemaligen Sängersaal der alteingesessenen Äpplerkneipe im Frankfurter Nordend!
Im vergangenen Jahr feierten die Theatermacher zehnjähriges Bestehen. Wahrhaftig ein Grund zum Jubilieren, schließlich fing auch das Team des Stalburg Theaters mal ganz klein an: Im November 1998 begab sich der Frankfurter Journalist und Autor Michi Herl, einst Absolvent der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen im Bereich Dramaturgie und Drehbuch, auf die Suche nach einer neuen Spielstätte für sein Theaterprojekt „Mutterlos“. Autor Herl, seine damalige Lebensgefährtin Maja Wolff, Darstellerin in ihrer Paraderolle „Anton Le Goff“, sowie ihre damalige Pianistin Sabine Fischmann (heute selbst als Sängerin in Mainhattan sehr erfolgreich) hatten zuvor sechs Mal im Frankfurter Kabaretttheater Käs erfolgreich ihr Programm gespielt.
„Die Stalburg kannte ich damals gar nicht, da ich keinen Apfelwein trinke“, so Herl. Da er jedoch gehört hatte, dass dort ein Veranstaltungssaal zur Verfügung stand, sprach Herl den Wirt Fritz Reuter an. Und siehe da: Obwohl Fritz als Geschäftsmann mit einem angeborenen Misstrauen gegenüber allem Neuem bekannt war, ließ er sich auf die Idee, ein Theater in seinen heiligen Hallen zu unterstützen waghalsig ein. Wie Herl vermutet: „Weil ich nicht gebrabbelt habe, sondern gleich zur Sache kam!“ Für Michi Herl eine echte Überraschung: „Schließlich hatte ich mich zuvor nie mit dem Gedanken getragen, ein Theater zu machen, das ist auch betriebswirtschaftlich gesehen hirnrissig. Der Gedanke kam mir nicht, er kam über mich!“
Was für Herl und Wolff als Hobby begann, wurde weiter erfolgreich. Es folgten Herls Kumpels Helmut Ruge und Ilja Richter sowie Anne Bärenz und Frank Wolff, Jo van Nelsen, die U-Bahn-Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern und viele mehr. Im Jahr 2001 kam das „Theaterchen“ auf professionelle Beine. Insbesondere als Herbert Haber als technischer Leiter mit ins Boot geholt werden konnte. Zudem kamen Petra Gisemann und Esther Voigt ins Leitungsteam. Inzwischen hat das Stalburg Theater 14 Festangestellte, rund 38 Mitarbeiter arbeiten der Bühne zu. Ebenfalls im Jahr 2001 meldete sich die Gruppe 97 mit der Idee, die hessische Kultfamilie „Hesselbach“ auf der Stalburg-Bühne zu inszenieren, und wurde zum Ensemble Stalburg Theater. Alle Inszenierungen des Ensembles sind bis heute ausverkauft.
Heute macht das Stalburg Theater mit insgesamt zwölf eigenen Produktionen von sich reden. Hinzu kommen „feste Hauskünstler“ wie Mathias Tretter, Frank Wolff, Claus von Wagner und Philipp Weber mit immer wiederkehrenden Gastspielen. Platz für neue Künstler bleibt da kaum. „Das ist gut und schlecht gleichzeitig“, so Herl. Aber bei einer Auslastung von 87 Prozent auf jeden Fall ein Erfolgskonzept. Zudem insgesamt bereits fünf Sommer lang das hauseigene Open-Luft-Festival „Stoffel“ erfolgreich über die Bühne im Frankfurter Günthersburgpark ging, welche auch Raum für andere Künstler bietet. Somit profitieren auch Künstler, die dem Theater nicht direkt angeschlossen sind. Nur einer bedauert mitunter den Erfolg, der auch anstrengend sein kann: „So schön es auch ist, ich würde es nicht noch mal machen“, sagt Michi Herl. „Jetzt ist mein Leben fast zu geregelt und ich muss immer morgens ins Büro!“
Der gut gelaunte Kerl mit wuscheligem Schwarzhaar wohnt nach eigener Aussage unter den Brettern, die die Welt bedeuten. Weil es besonders kuschelig ist, befindet sich diese Bühne noch dazu in einem Theaterzelt. In eben diesem war es beim Neujahrsempfang für Kunst und Kultur trotz der winterlichen Temperaturen tatsächlich mollig warm, denn sämtliche Sitzplätze waren besetzt. Das freute sichtlich den Moderator des Spektakels, Axel S. alias Mr. Smurf, der sich von unten nach oben auf die Bühne begab, „weil es hier so schön voll ist“.
Grund für das Provisorium ist die Sanierung der sonst üblichen Spielstätte, des kommunalen Kinos Burglichtspiele in Ginsheim-Gustavsburg. Trotzdem kein Grund für unterkühlte Gefühlslagen, da das Theaterzelt übergangsweise einen wohligen Raum für weitere Aktivitäten der Programmmacher bietet. Erwiesenermaßen, denn als sich der Bühnenraum noch füllte, hatte bereits das Musik-Duo Café chez nous die Stimmung der Zuschauer angeheizt. Mit Popcorn und Sekt brachten sich dagegen Neuankömmlinge im Foyer beim Neujahrsempfang in anheimelnde Gefühlslagen, tatkräftig unterstützt von den Spaßbediensteten Ingo Knito und Miss Paula, die „Fingerfood“ im wahrsten Sinne des Wortes servierten. Es folgten wärmende Grußworte von Vertretern aus Politik und Wirtschaft des Kreises Ginsheim-Gustavsburg sowie Ehrungen für die „Innovativste Location mit Charme 2008“ (die Veranstaltungsreihen „Achterbahn“ und die Kinderveranstaltungen „Achterbähnchen“) sowie den „Spektakulärsten Auftritt“ (Andrea Engler aus Ginsheim) und die „Eleganteste Darbietung“ (Theatro Artistico aus Frankfurt) aus dem Vorjahr. Die Ehrungen wurden warmherzig begleitet von Axel S. und seinem Kollegen Hans-Dieter Flux.
Selbstverständlich ließen es sich die geehrten Künstler nicht nehmen, ihren Beitrag in der Abteilung „Showcase für Artistik, Comedy und Entertainment“ zu leisten. Nach appetitlich angerichteten Häppchen aus dem Kulturleben und vom Büffet trat das Publikum später gut gesättigt den Nachhauseweg an.
Erfolgreiche Events und einen (hoffentlich) sonnigen Frühling
wünscht Kiki Krebs
Der Kabarettist Claus von Wagner ist übrigens am 1. April wieder mit seinem Programm „3 Sekunden Gegenwart“ im Frankfurter Stalburg Theater zu Gast. Am 2. April wird dort zur gleichen Zeit das Stück „Gatte gegrillt“ präsentiert, eine schwarze Komödie von Debbi Isitti.
Und wer verfolgen will, ob „Neumann nach Berlin“ kommt, hat am 3. April um 20 Uhr dazu Gelegenheit.
Gerd Knebel (Duo Badesalz) ist am 5. April im Frankfurter Kabarett Käs auf solistischen Pfaden unterwegs unter dem Motto: „Worum geht es hier eigentlich?“
Das ebenfalls hessische Kult-Duo Die Schwertfegers gibt sich in der Käs am 16. April gemeinsam ein Stelldichein zum Thema „Scheidung?“
2009-03-15 | Nr. 62 | Weitere Artikel von: Kiki Krebs