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    Ein Versuch, die Burlesque-Show wieder zu beleben

    „Miss Evi’s Company“, die neue Show, die bis Ende 2009 im Stuttgarter Friedrichsbauvarieté zu sehen ist, firmen als „New-Burlesque Show“. Das Lexikon versteht unter dem etwas in Vergessenheit geratenen Begriff Burleske ein „kleines, derb-spaßhaftes, doch kritisch gemeintes Possenspiel“. Ralph Sun, der ehrgeizige künstlerische Leiter des immer wieder gerne auf seine ruhmreiche Vergangenheit Bezug nehmenden Varietétheaters, hat aber mit seiner neuesten Produktion speziellere Vorbilder aus der Showgeschichte im Blick. Er verwandelt die Bühne in einen plüschigen, roten Salon der Zwanziger Jahre. Mindestens den älteren Besuchern kommt sofort der Operettenschlager „Dann geht ich ins Maxim“ in den Sinn, oder Liza Minelli in dem Film „Cabaret“. Aber: „Es geht hier um eine Art von Voyeurismus, den die Künstler selbst bestimmen. Die Frau wird weder als Objekt noch als Ware dargestellt, die von männlichen Zuschauern begafft wird. Ganz im Gegenteil, sehr starke Frauen inszenieren hier bewusst Weiblichkeit und Erotik, spielen damit auf selbstbewusste Weise“, sagt Ralph Sun in einem Interview in dem zur Show erschienenen, sehr lesenswerten Extrablatt. Nicht nur die zwanziger Jahre, auch Traditionen, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen oder das New York der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts standen Pate.

    Sogar in Stuttgart soll es laut Extrablatt eine aktuelle Burlesque-Szene in Keller-Klubs geben. Auf der Suche nach Burlesque-Performerinnen musste Ralph Sun aber auf England zurückgreifen. Die in Deutschland beheimateten Darstellerinnen, die seinen Ansprüchen genügt hätten, waren alle nicht für volle drei Monate Showtime verfügbar, da sie ihre Kunst nicht hauptberuflich ausüben. So sind in Stuttgart zu sehen: Miss HoneyLulu alias Federica Ciancetta, gebürtige Italienerin, seit knapp 10 Jahren überzeugte Wahl-Londonerin, zunächst als Fotografin tätig, seit zweieinhalb Jahren professionelle Burlesque-Performerin, die mit ihrer „The Girl in the Teacup“-Nummer, die sie auch in Stuttgart zeigt, viel gastierend herumkommt. Ihren doppelten Fächertanz tanzt sie in Stuttgart zusammen mit ihrer in London geborenen Kollegin Trixee Sparkle alias Rena Lambri, diplomierte Schauspielerin, die gerne die Diva oder die Königin mit ausgestopftem Corgi-Hund gibt in selbst entworfenen und geschneiderten Kostümen voller Perlen, Pailetten und Kristallen. Beatrix von Bourbon alias Stephanie Brooks ist die Dritte im Bunde. Sie kam über Musik und Tanz zur Burlesque, widmete sich zuvor aber noch „Cultural Studies“ an der Universität Leeds, die sie mit dem Magister abschloss, die geplante Promotion aber aufgab, weil sie sich von den Professoren zu sehr für Forschungsarbeiten ausgenutzt fühlte. Alle drei Darstellerinnen sind seit zweieinhalb Jahren professionelle Burlesque-Performerinnen; die letzten beiden wurden 2007 für den „Best Newcomer of the Year“ nominiert, einen Preis, den Beatrix von Bourbon, die in Stuttgart als tätowiertes Pin-Up-Model auftritt und unter anderem mit einer schwarzen Stoffspinne spielt, dann auch erhielt.

    Obwohl sie thematisch im Zentrum der Show stehen, haben die drei Burlesque-Performerinnen sehr schwierige Rollen zu bewältigen, müssen sie sich doch gegen die naturgemäß viel kraftvolleren Parodien von Sir Nickel & Mr. William W. Rattle Jr. behaupten, die von den „Lords of Comedy“ Max Nix & Willi Widder Nix verkörpert werden. Mit Rücksicht auf ihre weiblichen Mitspielerinnen verzichten die beiden auf alle knalligen Effekte, aber die parodistischen Elemente zum Beispiel in ihrer hinreißenden Zauberer-Persiflage sind einfach stärker. Allen fünf Darstellern des „roten Fadens“ gemeinsam ist, dass sie sich mit der etwas dünneren verbindenden Handlung – die Truppe ist in Geldnöten und versucht die beiden reichen Herren zu becircen – schwer tun. Oleg Djachuk, kleinwüchsiger poetischer Clown aus der Ukraine in der Rolle des Faktotums Wachsmut, leidet zusätzlich unter der niederen Bühne, weil sein Soloauftritt „Line of Live“ nicht von allen Plätzen aus richtig gesehen werden kann. Alle sechs müssen sich aber gegen die emotional viel dominierende Artistik behaupten, die von Margot aus Frankreich (Handstand-Equilibristin), Tigris aus Berlin (Luftring und Hula-Hoop) und Mikhail Stepanov (Strapaten), ein in Berlin lebender Russe, verkörpert wird. Alle drei stellen ihrerseits mühelos durch mehr als nur einen Hauch Erotik in ihren Darbietungen die Verbindung zur Programmidee her.

    Die Chancen, die Gunst des Publikums zu gewinnen, sind also etwas ungleich verteilt. Und so kommt es, dass Evi und das Tier zum eigentlichen roten Faden des Programms werden. Sängerin Evi Niessner interpretiert mit ihrer Viereinhalb-Oktaven-Stimme, die sie teilweise auf eine Art und Weise einsetzt, die man nur akrobatisch-artistisch nennen kann, Hits von den Zwanziger Jahren bis heute, so dass man die Originale völlig vergisst und alles wie zum ersten Mal hört, begleitet von ihrem Lieblingspianisten und auch Sänger Mr. Leu, der noch unter den abenteuerlichsten Verrenkungen mitreißend Klavier spielt, und vom ebenso engagierten Friedrichsbauorchester. Als Direktorin und Mutter der burlesquen Truppe gelingt es ihr und ihrem Partner aus den unterschiedlichen Zutaten doch noch ein Programm aus einem Guss zu formen. Ob die Idee trägt, der „New-Burlesque“ im Varieté außerhalb der Klubs einen Auftrittsort zu verschaffen, bleibt dadurch allerdings unbeantwortet. Unsere Sehgewohnheiten haben sich seit den Zwanziger Jahren durch die Einflüsse von Fernsehen und Werbung doch sehr verstärkt. Als nostalgische Zitate ließen die Striptease-Szenen, die immer vor Mikrohöschen und glitzernden Panties halt machten, die Show gelingen. Dennoch war der Moment, wo der Blick auf so viel nackte Haut von Erotik in Mitleid umschlägt, nicht mehr weit, denn Nacktheit kann auch Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit signalisieren. „In der traditionellen Burlesque sind einst Musik, Comedy und erotischer Tanz verschmolzen, um mittels Parodien oder auch anzüglicher Posen die Kultur und den Lebenswandel der Oberschicht zu karikieren“, sagte Regisseur Ralph Sun weiter in dem bereits eingangs zitierten Interview. Vielleicht ist dieser Lebensstil inzwischen aber so verbreitet, dass die Parodie, die einst in den erotischen Tänzen steckte, nicht mehr greift. Und deshalb hat es auch die Erkenntnis schwer, die Ralph Sun so formuliert: „Sie (die Burlesque-Darstellerinnen) haben alles im Griff, nicht der Mann.“

    Redaktion: Manfred Hilsenbeck

    Termine

    In Backnang ist noch bis zum 11. Januar 2009 das 6. Weihnachtsvarieté zu sehen. Es wird bestritten von Katharina Eiternik, der 15jährigen Gewinnerin des diesjährigen Ulmer Centerfestivals mit ihrer begeisternden Kautschuk-Nummer, Mario Danee, clowneske Akrobatik sowie den Schülern der staatlichen Berliner Artistenschule David mit Diabolos, Seraina am Trapez, Vanessa & Sven mit Handstandakrobatik, Philip mit Hula Hoop und Laura, der Antipodin. Theaterdirektor Michael Holderried wird als Michael von Reed neue Illusionen beisteuern und Hayashi wird als Conferencier durch das Programm zaubern.

     Nonsenso Venezia

    AdNr:1051 

    2008-12-15 | Nr. 61 | Weitere Artikel von: Manfred Hilsenbeck





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