Zum Glück ließ der Sommer in diesem Jahr lange auf sich warten. Denn bei den herbstlichen Temperaturen, die im Juli noch herrschten, fanden sich einfach viel mehr Freiwillige dazu bereit, das BKA-Luftschloss vom Schlossplatz eigenhändig ostwärts umzuziehen: In einer witzigen Aktion inszenierten die BKA-Macher den Ab- und Wiederaufbau ihres charmanten Zelttheaters ein paar Kilometer weiter. Fans, Künstler, Zufallsgäste: jeder konnte und sollte bei dem Umzug helfen, und es hat geklappt. Das Programm im neuen Luftschloss am Ostbahnhof wird in Zukunft noch etwas breiter angelegt sein: Comedy, Musical, Kabarett, Partys – und Familienprogramme am Nachmittag. Und auch die erfolgreiche „Commusication“-Reihe mit der Band beez zieht vom BKA-Haupthaus ins neue Luftschloss. Gut möglich, dass am Ostbahnhof etwas von dem neu entsteht, was mit dem Abriss des alten Tempodrom-Zelts verloren gegangen ist ...
Ein anderes Zelt verließen Teile des Publikums hingegen mit heftigem Unmut: Nicht alle Zuschauer mochten Desirée Nicks wiederaufgenommenes Programm „The joy of aging and how to avoid it“. Vor allem mit einigen fiesen Bemerkungen über Inge Meysel und Harald Juhnke empörte die selbst ernannte Hängetitten-Queen die Leute. Dass die Urgroßmutter der Nation allerdings deswegen kurz darauf verschied, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn sie nicht gerade Zuschauer brüskierte, arbeitete die ebenso gazellenhafte wie stutenbissige Entertainerin Nick in diesem Sommer an ihrer ernsthaften Schauspielerinnenkarriere weiter. In „Telefavela“ des Berlin-Mitte-Regisseurs René Pollesch spielte sie unter anderem mit der Volksbühnen-Ikone Sophie Rois. Gegen ein solches Kaliber fiel Desirée Nick mit ihrer exaltierten Art leider komplett ab.
Eine andere Komödiantin ging in Berlin auch auf die Theaterbühne: Sissi Perlinger im Hansatheater. „Von allen guten Geistern verlassen“ hieß das Lustspiel des Dramatikers Daniel Call, in dem die Grimme-Preisträgerin die Hauptrolle spielte. Besonders erfreulich ist, dass diese Bühne überhaupt wieder existiert. Vor ungefähr einem Jahr schloss das etwas abgeranzte Volkstheater im öden Moabit aus finanziellen Gründen. Im August wurde es von einem neuen Team wieder eröffnet. „Zwischen Stars und Szene“ soll das Programm in Zukunft angesiedelt sein – darin dürfte auch genügend Platz für die Kleine Form sein. Nach Sissi Perlinger hat im November Ernie Reinhart alias Lilo Wanders mit einem Ein-Personen-Stück Premiere: eine Hommage an die Berliner Entertainerin Evelyn Künneke. Der neuen Bühne toi toi toi.
Dem eigenen Genre treu blieben die Wühlmäuse auch beim diesjährigen, vierten „großen Kleinkunstfestival“, dessen Höhepunkt die Verleihung der drei Preise – einer von der Jury, einer vom Publikum und ein „Berlin-Preis“ – war. Gewinner in den ersten beiden Kategorien: Rainald Grebe. Herzlichen Glückwunsch!
Und noch einmal Neuigkeiten von der Mutter der Zelttheater in Berlin: Wieder wagt sich die Bar jeder Vernunft an ein sehr großes Projekt: Das Musical „Cabaret“ hat am 23. Oktober in einer neuen Inszenierung Premiere. Um den Spaß zu finanzieren, wurden „Kultur-Aktien“ aufgelegt. Wer sie erwarb, hat nicht nur etwas für die Kultur und das gute Gewissen getan, sondern gehört auch zu dem exklusiven Kreis derer, die ihre jährliche Dividende in Form von Champagner buchstäblich „ausgeschüttet“ bekommen.
Eine Nummer kleiner war das Programm von Corie Rappich und Christine Schulze, das im Sommer mit einigem Erfolg gezeigt wurde. „The winner takes it all – Ihr freundliches Sozialamt-Team“ beschäftigte sich – mit dem Alltag auf dem Amt. An sich ein Thema zum Gähnen. Da aber beide Kabarettistinnen genau wissen, wovon sie reden, hatte das Ganze viel Charme. Vor allem, wenn man weiß, wie die Zusammenarbeit zustande kam: Christine Schulze ist im Hauptberuf Betreuerin auf dem Jugendamt, Corie Rappich war als Bewohnerin eines Mädchen-Wohnprojekts ihr Schützling.
Die traurige Nachricht zum Schluss: Eine hübsche und traditionsreiche Spielstätte hat den Sommer leider nicht überlebt. Nach Überwindung ernster finanzieller Probleme (Trottoir 40/2003) im letzten Jahr, musste das Chamäleon-Varieté in den Hackeschen Höfen in diesem Mai nach 13 Jahren endgültig schließen. Trottoir sagt goodbye!
Redaktion: Susann Sitzler
1.–3.10./5.–10.10.04:Horst Schroth: „Katerfrühstück“ (Kabarett)
11.–13.10./15./16.10./19.–23.10./26.–30.10.04//1.–6.11./9.–13.11./16./17./19./20.11.04: Mathias Richling: „Richling Waaas ?!“ (Kabarett)
10./17./24.10.//7./14./21./28.11.//5./12.12.04:
Martin Bucholz: „Kotzalledem!“ (Kabarett)
4./25.10.//29.11.//12.12.04: Eckhart von Hirschhausen: „Sprechstunde“ (Kabarett)
21./23.–28.11.04: Matthias Deutschmann: „Staatstheater“ (Kabarett)2.–5.12./7.–11.12.04: Dieter Hallervorden: „Dinner für Spinner“ (Kabarett)
13./20./27.12.04: R. L. Griesbach: „desdern trotzhalb“ (Kabarett)
1./2.10.04: Vera Deckers: „Gut auf Teppich“ (Comedy)
3.10.04:Martina Brandl: Sonntagsbrandl (Bunter Abend)
6./12.10.04:KoMix – drei Komiker teilen sich den Abend
7.–9.10.04:Daniel Reinsberg: „Helden des Alltags“ (Comedy)
10./24.10.04: Blanche Elliz/Michael Sens und Gäste: „Elliz`n`Sens“ (Bunter Abend)
13.–16.10.04: Karl-Heinz Helmschrot: „Fast Faust“ (Comedy)
21.–23./27.–31.10.04:K. W. Timm: „Der Nächste bitte“ (Kabarett)
1.–16.10.04: Lilo Wanders: „Die Mythomanin“ (Theatermonolog)
19./21.–24./26.–31.10.//2./3.11.04
Andrea Bürgin und Sabine Wegner: „Nur Kinder, Küche, Kirche“ (Komödiantisches Theater)
2004-09-15 | Nr. 44 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler