„Wie steht es um die Lage der Nation? Oder besser gesagt: Ist die Nation in der Lage zu stehen?“ Ein ungewöhnlicher Einstieg auf einem Flyer, um für ein Varietéprogramm des Friedrichsbaus in Stuttgart zu werben. Aber Hans Dampf alias Johannes Warth ist auch ein ungewöhnlicher Conférencier. Denn eigentlich ist er ja gar kein Conférencier. Er nennt sich gerne einen Überlebenstrainer, der im normalen Leben sehr erfolgreich Mitarbeiter von Wirtschaftsunternehmen und andere Seminarteilnehmer schult und motiviert. Als er vor vielen Monaten im Friedrichsbau krankheitshalber seine Schwester Rosemie vertrat, tat er das so überzeugend, dass ihn Geschäftsführerin Gabriele Frenzel fragte: „Warum kennen wir Sie eigentlich nicht?“ Dem Kennenlernen diente dann die Restlaufzeit des Programms, das mit René Bazinet begonnen hatte. Und ein Jahr später hatte Hans Dampf nun seine erste Friedrichsbau-Premiere: „Volldampf voraus“. Unter der bewährten Regie von Simon Kühr legte er dieses Programm als exemplarische Demonstration einer ABM-Maßnahme für bisher verhinderte Künstler an, die diese Rollen natürlich mit großem Vergnügen spielten, könnten sie sich doch kaum eine bessere Einstimmung auf die eigene Nummer wünschen. Nur Yvonne Hotz hatte eine etwas undankbare Rolle erwischt; sie musste ihre eigentliche Aufgabe, nämlich das Singen alter Schlager, noch zu sehr in der Rolle des verschüchterten Mauerblümchens erledigen. Sie tat das zwar mit Bravour, aber die Show-Kostüme allein, die sie gegen Ende des Programms tragen durfte, reichten dann nicht mehr aus, um sich in der Wirkung nachhaltig gegen den hinreißenden schwedischen Katastrophen-Zauberer Johnny Lonn oder gar den urkomischen ukrainischen Rhönrad-Virtuosen Konstantin Mouraviev behaupten zu können (alles ABM-Kollegen). Aber das lag an der ihr zugedachten Rolle, nicht an der Schauspiel- und Musical-ausgebildeten Kabarettistin.
Johannes Warth scheute sich nicht, in brillantem Honoratioren-Schwäbisch (das ist „die Sprache, die ich für Hochdeutsch halte“, wie unser erster Bundespräsident Heuss zu sagen pflegte, wenn er seine dialektgefärbten Reden hielt) auch seinen eigentlichen Berufsstand auf die Schippe zu nehmen. Wenn er immer wieder empfahl: „Seien sie authentisch!“, dann war man nie ganz sicher, ob er das jetzt ernst oder ironisch meinte. Jedenfalls tat er das mit ähnlicher Intensität wie der schwäbische Unternehmer Pfannenschwarz, wenn er im Radio sein „Seiiitenbacher-Müsli“ anpreist. Den ganzen Abend balancierte Johannes Warth auf dem schmalen Grat zwischen Ironie und tieferer Bedeutung, ohne abzustürzen. Er jedenfalls war authentisch, und dazu noch exklusiv für den Stuttgarter Friedrichsbau! Sollte das Trainergeschäft einmal nicht mehr so gut laufen, können sich sicherlich auch die anderen Varietés auf einen unverwechselbaren Conférencier freuen. Denn dass ihm und erst recht seinem Publikum dieser Job Spaß machte, daran ließ die Stuttgarter Premiere keinen Zweifel.
Weiter im Programm waren Jaqueline Alvarez, die „Königin der Handstandäquilibristik“, und ihre Schwester Vanessa, die als Antipodin eine Gitarre, Tücher und kleine Teppiche balancierte. Martin Mall, der vielfach prämierte Diabolo-Erneuerer, nennt seine äußerst schwierige Darbietung „Diabolights“, weil er im zweiten Teil im Dunkeln (nur die Diabolos leuchten) faszinierende Bilder zeichnet. Das ukrainische Männer-Duo Valery arbeitete mit hohem Schwierigkeitsgrad und ästhetisch beeindruckend an den Strapaten.
Das zweite ganzjährig spielende Varieté in Baden-Württemberg, das TraumZeit-Theater in Backnang, wird im März mit dem Programm „Starke Männer“ seinen zweiten Geburtstag feiern, mit ChaPeau, dem Hut-Illusionisten und parodistischen Zauberer, dem Hausherrn, der als Michael van Reed mit seiner Frau Andrea de Beer als Medium das magische Kabinett präsentieren will, und anderen. Das Frühjahrsprogramm steht dann ganz im Zeichen des hundertsten Geburtstags von Las Vegas und heißt dementsprechend „Viva Las Vegas“.
Die bisher meisten Vorstellungen in der jungen Geschichte des Backnanger TraumZeit-Theaters erlebte die überaus erfolgreiche 18. Monatsshow, das 2. Backnanger Weihnachtsvarieté, von Sylvia Schuyer (assistiert von ihrem Vater, der auch solo einen großen Magier parodierte) zauberhaft moderiert. Natürlich fehlte auch ihr Spezialauftritt nicht: Sylvia Schuyer steckt einen Zuschauer, den sie auf die Bühne geholt hat, in einen Zaubermantel und präsentiert hinter ihm stehend, die Arme in den Mantelärmeln, eine beachtliche Trickfolge, wobei es so aussieht, als zaubere der Zuschauer. Auch Rudi Rudini bediente sich der Mithilfe von Zuschauern in der mittlerweile von zahlreichen Komikern gezeigten Szene: dem Drehen einer improvisierten, tragischen Liebesszene. Vera & Tomek aus Polen überzeugten am Trapez, und Vera alleine bewies, dass man mit einem Rhönrad auch auf einer kleinen Bühne arbeiten kann. Hausherr Michael Holderried steuerte zwei eindrucksvolle neue Illusionen bei, assistiert von einem Tänzer und zwei Tänzerinnen. Als Höhe- und Schlusspunkt des begeisternden Programms stellte Daniel Hochsteiner in unglaublichem Tempo jonglierend seine Weltklasse unter Beweis, mit der Spezialität Tennisschläger. Zum Ausklang zeigten sich alle Mitwirkenden noch einmal gemeinsam in einem stimmungsvollen, sehr schönen weihnachtlichen Schlussbild.
Im Januar zeigte Jan Forster, der (be-)zaubernde und charmante Conférencier der September-04-Varietäten, sein Solo-Programm „Einfach Irre Ireal“ im Zaubertheater Pegasus, also auf der etwas kleineren Bühne ein Stockwerk über dem Gewölbekeller des TraumZeit-Theaters. Als auswärtiger Besucher staunt man immer wieder, wie sachkundig, aufgeschlossen und interessiert das Backnanger Publikum gegenüber dieser Form der Unterhaltungskunst ist. Hier trägt ganz offensichtlich die Arbeit des Deutschen Zauberzentrums, des I.B.M.-Rings Deutschland, das noch etwas höher im selben Gebäude untergebracht ist, ihre Früchte. Die seit Herbst 2003 regelmäßig für Erwachsene und Kinder durchgeführten getrennten Kurse sorgen nicht nur für Nachwuchs bei den Zauberkünstlern, sondern schaffen durch ihr Ausstrahlen auf Familie und Freunde der Teilnehmer auch ein Bedürfnis nach dieser intelligenten Form der Unterhaltung. Ein derart gemischtes Publikum trifft man sonst nur noch im Zirkus. Und wo können sich Alt und Jung noch gemeinsam so uneingeschränkt und kritisch freuen wie bei einem Zauberkünstler, von dem jeder weiß, dass er das, was er den ganzen Abend über erfolgreich zu beweisen versucht, eigentlich gar nicht kann, nämlich zaubern! Gibt es eine bessere Wahrnehmungsschulung, als zu versuchen, einem Zauberer auf die Schliche zu kommen? Man klatscht Beifall und freut sich, wenn die Lösung offen bleibt, und die Frage, wie der das bloß macht, unbeantwortet. Für den Zauberer ist es umgekehrt eine positive Herausforderung, ein aufmerksames Publikum durch die eigene Geschicklichkeit immer wieder so zu verblüffen, dass der Applaus manchmal verzögert, dann aber umso anerkennender kommt. Und solch ein anregender Abend auf Gegenseitigkeit gelang Jan Forster in Backnang.
Redaktion: Manfred Hilsenbeck
2005-03-15 | Nr. 46 | Weitere Artikel von: Manfred Hilsenbeck