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    Es war nicht alles schlecht

    Seit 30 Jahren wütet der Rheinländer Wilfried Schmickler auf den und über die Bühnen und findet im Nachhinein: Es war nicht alles schlecht (WortArt 4989 / ISBN 978-3-86604-989-5; 11 Tracks, 78:49 Min., live), was er in den Jahren so geschrieben und getrieben hat. Erfrischend wortgewaltig bringt der verbale Grobian seine Kritik auf den Punkt und hält sich nicht lange mit filigranen Differenzierungen auf. Er schimpft und klärt auf, er singt und polemisiert gegen Krieg und Reaktionäre und von links auf rechts gewendete Politiker, seien sie schwarz, gelb, grün oder sonst wie gefärbt. Zwischen seinen ganzen Tiraden findet dann auch mal ein kleines Witzchen oder ein Kalauer seinen Platz. Mit großem Tempo jagt Schmickler durch die Zeiten und Themen und eckt dabei gerne überall mal an. Dem Zeitgeist zum Trotz teilt sich die Welt für ihn klar in oben und unten und Krieg und Frieden, das ganze propagandistische Eiapopeia fegt er beiseite. Ein frischer Wind auf den oft lauen Kleinkunstbühnen.

    Dietrich Kittner kann inzwischen auf bald 50 Jahre Kabarett (ob das Fernsehen ihn wohl mit einer Sondersendung ehrt oder weiterhin boykottiert?) zurückblicken, und er blickt immer noch nach vorn. Der Altmeister des politischen Kabaretts aus Hannover hatte sich in all den Jahren nicht nur damit begnügt, das Publikum aufzuklären und zu unterhalten; er hat sich auch immer wieder mit Aktionen und Artikeln, bei Streiks und Demonstrationen, direkt oder eulenspiegelhaft verschmitzt in die politischen Auseinandersetzungen eingemischt und sich daran beteiligt. Das hebt ihn von vielen seiner Kollegen ab und hat ihm den Zorn von Behörden, Medienanstalten und Politikern eingebracht. Da man ihn auf der Mattscheibe nicht sehen darf, hat er angefangen, seine eigenen DVDs zu produzieren (so wie schon zuvor seine Bücher, Platten und CDs). Ein Kurzer Abriss der Demokratie oder Die Diktatur der extremen Mitte (edition logischer Garten / ISBN 978-924526-26-9; DVD, ca. 165 Min.) zeigt Ausschnitte dreier Heimspiel-Auftritte von 2006 bis 2008 in Hannover, immer wieder ergänzt durch Studioaufnahmen. Sein satirischer Streifzug durchs Land staubt die Dreckecken im Lande auf, macht sie offenbar. Und Stoff für neue kritische Betrachtungen drängen sich ihm jeden Tag und mit jeder Nachrichtensendung wieder auf.

    Doktor Seltsam, jenen schaurig-skurrilen Gelehrten aus dem Film Stanley Kubricks, hatte sich einst der Berliner Kabarettist Wolfgang Kroeske zum Alias erkoren. Er treibt seitdem damit sein Wesen und Unwesen in der wiedervereinigten Stadt. Als Mitbegründer und Mentor hat er sich über Jahre um die (literarisch-kabarettistischen) Lesebühnen verdient gemacht und nach einigen Differenzen dort seine eigene Veranstaltungsreihe begründet. Jetzt betreibt er jeden Sonntagmittag eine politisch-kulturelle Veranstaltungsreihe in Kreuzberg, an der legendären Oberbaumbrücke über die Spree, dort, wo Ost- und Westberlin sich treffen und teilen. Ein DVD-Mitschnitt dreier Veranstaltungen und ein Interview durch den Kabarettisten und Satiriker Mathias Wedel geben Auskunft über seine Jugend in Lübeck, seinen Werdegang und seine Intentionen. Die Mitschnitte zeigen Till Meyer und Bommi Baumann, zwei Mitglieder der Bewegung 2. Juni, die über die RAF, die 68er und über ihre Erfahrungen reden, aufklären und schwadronieren. Und Rainer Rupp, der unter dem Decknamen Topas für die DDR aufklärerisch bei der NATO spionierte und später dafür verurteilt wurde, der als studierter Volkswirt den heutigen Zusammenbruch der fiktiven Finanzblase schon 2005 vorhersagte; sowie Heike Schrader und Florian Ludwig, die unter fadenscheinigen Gründen nach § 129a/b StGB (Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) angeklagt und verurteilt wurden. Man sieht explizit linksradikale Propaganda, humorvoll und gemütlich dargeboten, anregend und auch erhellend, eben Erfahrung anstatt Offenbarung. Für den kulturellen Teil sorgen Detlev K., Isabel Neuenfeldt und Marc-Uwe Kling, sodass Doktor Seltsams Wochenschau (www.dr.seltsam.net; DVD, ca. 105 Min.) seinem Anspruch als linke, unterhaltend-informative Matinee gerecht wird.

    Die Reise nach Jerusalem (conanima CA 26572 / ISBN 978-3-931265-72-4; 19 Tracks, 75:04 Min., live), auf die sich Mathias Deutschmann in Freiburg, seinem Studienort, begibt, ist weniger forsch. Der Mann am Cello stellt in seinem Programm mehr Fragen und gibt mehr Hinweise zum eigenen Weiterdenken als Antworten. Im Freiburger Vorderhaus hat er begonnen, hier kennt er die Szene und die verschiedenen Stuhlgenerationen im Haus. So überlegt er, dem guten Rat eines Beratertyps zu folgen und als Redenschreiber der Mächtigen mehr Einfluss aufs Geschehen zu nehmen, als er es auf den Kleinkunstbühnen kann. Sein Weit- und Durchblick reicht vom Nahen Osten bis zum Hindukusch und weiter bis nach China. Doch nicht nur der Welt weit draußen gelten seine spöttischen Bemerkungen. Auch die Politspezialisten von Westerwelle bis Schäuble, von Merkel bis Helmut Schmidt und Kurt Beck werden bedacht. Intensiv setzt er sich noch mit dem wilden Jahr 1968, der RAF und deren heutiger Medienrezeption auseinander. Hintergründige und hinterlistige Fragen, überraschende Pointen und originelle Gedankensprünge sind sein Mittel, die Gehirnwindungen seiner Zuhörer in Bewegung zu versetzen. Dazwischen immer wieder kleine musikalische Einlagen am Cello als dramaturgische Unterstreichung.

    Die Fragen, die Horst Schroth beantwortet, beziehen sich natürlich auf den Kampf der Geschlechter. Seit über 35 Jahren „kabarettet“ Horst Schroth nun schon, doch das „Beste aus 10 Jahren“ bezieht sich auf seine erfolgreichen Männlein-Weiblein-Programme, die stets auf höherem Niveau plakativ und witzig waren. Wenn Frauen fragen (WortArt 4961 / ISBN 978-3-86604-961-1; 18 Tracks, 76:14 Min., live), antwortet der kleine Meister des geschliffenen Auftritts und erklärt stereotyp, warum die Verständigung nicht klappt, nicht klappen kann, es trotzdem Spaß macht und warum Männer und Frauen nicht voneinander lassen können, sich gegenseitig anziehen und ausziehen. So weit, so gut und spaßig; mal hören, was er sich, nachdem alle Geschlechterkämpfe zwar erklärt, aber nicht geklärt sind, als nächstes Thema einfallen lässt.

    Ein deutscher Türke aus Berlin-Neukölln, der als Polizist Comedy macht? Det jibted! Oder besser gesagt gab es, denn Murat Topal hat (inzwischen) den Polizeidienst quittiert, um sich ganz dem Unsinn hinzugeben. Neukölln ist jener international übel beleumdete Stadtteil Berlins, der die Rütli-Schule beherbergt und dem Kurt Krömer entstammt – und nun also noch ein entlaufener Polizist. Dass die Polizei veräppelt wird, ist ja im Kabarett nicht ungewöhnlich – aber von einem Polizisten??? Und dazu von einem mit Migrationshintergrund? Seine Themen sind die Klischees und Vorurteile in dem großen Widerspruchsknäuel von Deutschen, Ausländern, Frauen, Schwulen, sozialen Randgruppen und der Polizei, miteinander und natürlich auch untereinander, und das alles noch im Berliner Problembezirk Kreuzberg. Das ist ein wahrlich weites Feld. Als jemand, der so irgendwie dazwischen steht, kann er viel erzählen: Getürkte Fälle – Ein Cop packt aus! (Fun-station Fun 10004-2 / ZYX Music / ISBN / 978-3-938625-12-0; 17 Tracks, 74:23 Min., live). Den einen ist er nicht genug, den anderen zu viel Türke. Und dann auch noch Comedyauftritte. Das hat Folgen. Sein komisches Gequatsche hat ihn inzwischen die sichere Pension gekostet, denn Tschüssi Copski (Fun-station Fun 10008-2 / ZYX ISBN 978-3-938625-73-6; 15 Tracks, 73:43 Min., live). Er hat den Polizeihelm an den Nagel gehängt, um sich ganz dem lustigen Leben auf der Bühne zu widmen. Murat Topal macht Comedy der besten Art, weil er nicht nur sinnfrei Witze erzählt, nein, seine wirklich komischen Geschichten folgen dem Credo: Habt Geduld und Humor im Umgang miteinander, bedenkt eure Vorurteile und erkennt den Menschen im Gegenüber. Comedy und Humanismus, eine seltene, aber gute Mischung!

    Männer und Kinder zuerst! (WortArt 8208 / ISBN 978-3-941082-08-3; 27 Tracks, 78:05 Min., live) verspricht David Leukert, und erzählt von der letzten verkorksten Beziehung, seinem halbwüchsigen Sohn, der ihn gelegentlich besucht, und seiner neuen Eigentumswohnung, die sich dank der Eigentümerversammlung als eine Art teurer Abenteuerspielplatz entpuppt. Über Globalisierung, Kindererziehung, allgemeine und spezifische Beziehungsprobleme, Schulsorgen, die Telekom, Bonuspunkte, die schwäbische Kehrwoche und seine schwere, verwöhnte Kindheit im gutbürgerlichen Berlin-Lichterfelde spannt er seine Bögen, die zwischendurch auch mal musikalisch verstärkt werden. Ein nettes Programm, für einen netten Abend.

    Christian Pape, ein ehemaliger Messdiener, studierter Jurist und praktizierender Karnevalist und Gala-rist, ist gerade frisch Papa geworden. Mama hat sich mit ihrer besten Freundin Gaby auf Wellnessurlaub nach Bad Münstereifel verdrückt und nun sind Amelie und der junge Kleinkünstler Schief gewickelt (WortArt 0020 / ISBN 978-3- 8371-0020-4; 27 Tracks, 73;26 Min., live). Ja, leicht hat man es nicht als junger Vater, da muss man sich schon arg anstrengen, manchmal sogar Kasperle spielen. Und daraus ist nun sein Debüt entstanden. Seine Schwangerschaftskurs-, Kreissaal- oder Urlaubsgeschichten mit Ehefrau Silvia und Gaby, Amelie und seinem Kumpel Wolle sind in seiner Region (Erkelenz bei Mönchengladbach) dermaßen gut angekommen, dass jetzt die ganze Republik damit erobert und beglückt wird.

    Streng vertraulich waren die Briefe an die Anstalt (WortArt 0056 / ISBN 978-3-8371-0056-3; 17 Tracks, 77:59 Min., live) gelegentlich, also an den WDR (nicht was sie denken!), und geben doch schon Aufschluss darüber, wie verrückt und verklemmt es so in der alten Bundesrepublik zuging. Was hat man sich aufgeregt über manche Beiträge und Sendungen. Sogar der langjährige damalige bayrische Ministerpräsident Alfons Goppel sah sich 1963 genötigt zu intervenieren, wegen einer Glosse das bayrische Sonderwesen betreffend (Anlass waren die Schwabinger Krawalle 1962 und deren juristische Folgen). Auch Wolfgang Koruhn sorgte 1972 mit einem Kommentar zum § 218 für einige Aufregung. Doch auch aus der Anstalt selbst gibt es Komisches zu berichten. Sei es das Gefeilsche um die Kosten für den hauseigenen Friseursalon, den Alkoholkonsum im Hause oder die Belästigungen des Kollegen Peters durch eine Stalkerin. Wie klein und kleinlich wirkt doch so manche Aufregung früherer Jahre.

    Aufregen konnte man sich auch schon früher über die Zockereien, die den Kapitalismus und damit unzählige Menschen immer wieder in die Krise getrieben haben: Hilfe! Mein Geld ist weg! (Bear Family Records BCD 16075 AH; 25 Tracks, 83:37 Min., Infos). Der aktuelle Sampler zur Finanzkrise ist damit erschienen. Neben dem Hazy-Osterwald-Sextett („Konjunktur-Cha-Cha“) über Helga Hahnemann („Wo ist mein Jeld…“), Gunter Gabriel („Hey Boss …“) bis zur EAV („Ba-ba-Banküberfall“) aus neuerer Zeit sind auch Wilhelm Bendow, Max Hansen, Willy Rosen aus den 30ern und die begnadeten Selbstdarsteller F. J. Strauß und Helmut Schmidt mit erheiternden Beiträgen vertreten. Auf dieser CD, die Volker Kühn zusammengestellt hat, wird nicht gejammert, sondern der Krise ins Auge zurück gelacht.

    Ob der gute alte BB auch gelacht hätte? Er hat ja mit der Dreigroschenoper eines der erhellendsten und erheiterndsten Stücke über die kapitalistische Ordnung auf die Bühne gebracht. Auf der Bühne des berühmten Piccolo Teatro in Mailand wurde eine italienische Version der Brecht-Weillschen Lieder dargeboten: Milva canta Brecht (Nardv 01089 / Edel, DVD, ca. 84 Min.). Fast 70 Jahre alt ist Milva jetzt, aber ihre Bühnenpräsenz ist immer noch beeindruckend. Nicht wie eine französische Diva im schwarzen Kleid und mit sparsamer Gestik steht sie vor ihrem Publikum, sondern spielt in unterschiedlichen Kostümen geradezu exzessiv jeden Song. Dazu verleiht sie mit ihrer kraftvollen Stimme den Liedern einen angemessenen und mitreißenden Ausdruck. Es sind vor allem die berühmten Lieder aus der Dreigroschenoper, aus Mahagonny und Happy End, die wie Gassenhauer im allgemeinen Bewusstsein ihre Spuren hinterlassen haben und die mit Milva wieder in einer neuen Art lebendig werden.

    Vom französischen Chanson inspiriert und neu belebt wurde Barbara Thalheim, die Grande Dame der ostdeutschen Liedermacherzunft. Mit ihrem Partner Jean Pacalet am Akkordeon hat sie ihre aktuellen Lieblingschansons übersetzt und bringt damit erstmalig eine Cover-CD zu Gehör. Ein sehr gelungenes Experiment. herzverloren (Pläne 88959; 13 Tracks, 45:35 Min., Texte) enthält Lieder, „in denen es um Liebe, Hass, Geburt, Tod, Krieg, Hoffnung, um Leben, also um die Welt geht“. Zu sehr traditionellen, gleichwohl modernen Arrangements besingt sie ihr Staunen und ihre Freude über die Schönheit der Welt und ihren Zorn und ihre Trauer über das Elend in der Welt. So wie sie sich über ein zeichnendes Kind freuen kann, verachtet sie das Medien- und Szenegeschnatter oder erzürnt sich über profitbedingten Wohnungsleerstand in Paris. Ein rundweg schönes, inspirierendes Album mit klugen Texten, und zudem wunderbar gesungen und gespielt.

    Die Songs, die das Multitalent Catarina Valente bei der Decca zwischen 1959 und 1963 in und für Frankreich einspielte, waren dem Stil der Jahre folgend recht unterschiedlich, stark geprägt von der seinerzeitigen Italien- und Spanienromantik und auch damals aktuellen englischsprachigen Hits. „Marina“ und „Napoli“, „Palma di Majorca“ und „Mexiko“ verkörperten die Fernwehsehnsüchte der Nachkriegsgenerationen in Frankreich offenbar ebenso wie in Deutschland. Und eine in Paris geborene Italienerin konnte dieses internationale Flair besonders überzeugend (auf Französisch) vertreten. Doch die Valente hat auch eine ganze LP mit Liedern aufgenommen, die Charles Trenet für sie geschrieben hat, wobei sie auch da immer dem leichten Genre verbunden blieb. Ich singe – Je chante (Bear Family Records BCD 16697 CH; 3 CDs, 30 Tracks, 79:25 Min. + 30 Tracks, 74:15 Min. + 35 Tracks, 84:30 Min., Infos) lautet der Titel dieser überragenden Kompilation, mit der eine flotte Zeitreise in die frühen 60er möglich ist.

    Wenn man Heinz Erhardt „Blödelnd durch den Ernst der Zeit“ (Bear Family Records BCD 16058 AH / ISBN 978-3-89916-427-5, 14 Tracks, 32:33 Min., Texte) folgt, kommt man sogar zurück in die 40er-Jahre. Anlässlich seines 100. Geburtstags werden allerorten die Archive bemüht – hier sind seine frühesten Aufnahmen überhaupt zu hören; kleine, etwas alberne, aber ganz charmante Liedchen. Die älteste Aufnahme „Mein Mädchen“ aus dem Jahre 1939 wurde sogar zu Versuchszwecken im gerade startenden Fernsehen gezeigt. Rank und schlank am Klavier trat er noch im „Kabarett der Komiker“ bei Willi Schaeffers auf, war dann in der Truppenbetreuung unterwegs und landete nach dem Krieg beim NWDR in Hamburg. Seine verschmitzten Wortdrechseleien, seine Reimfreude und seine etwas ungelenke Art zeichneten ihn damals schon aus. Diese Attribute machten Erhardt bis zu seinem tragischen Schlaganfall 1971 zu einem Publikumsliebling und bis heute zu einem Vorbild für Kleinkünstler. Schalkhaft-schüchterne Liebeslieder standen am Anfang seiner Karriere, jetzt kann man sie hören.

    Ulrich Michael Heisig alias Irmgard Knef, die lange verschwiegene Schwester von Hildchen, ist ja nun wahrlich nicht mehr ganz jung und muss nun bald mit ihrer Reise in die ewigen Jagdgründe rechnen. Auf diese große Fahrt bereitet sie sich schon mal singend und plappernd vor. Himmlisch! (conanima CA 26576 / ISBN 978-3-931265-76-2; 28 Tracks, 76:37 Min., live) kommt daher ihr neues Programm daher, denn selbstredend landet Irmchen, die einmal mit stage diving versuchte, sich ans Publikum ranzuschmeißen, als Engel im (katholischen) Himmel. Doch „Ewigkeit kennt kein Pardon“, und so hat sie es auch über den Wolken nicht leicht. Diese Schwierigkeiten schildert sie auf sehr erheiternde Art in Conférencen und Liedparodien. Sie swingt dabei gerne an den letzten Sinnfragen vorbei und antwortet gezielt auf ungestellte religiöse Fragen. Die Himmel jeder Glaubenscouleur bleiben der allzu Irdischen jedoch fremd. Frau Knef legt mal wieder ein ganz flottes, aber sowohl formal als auch thematisch ungewöhnliches Kabarettprogramm aufs Parkett, wohltuend abseits der gängigen Klischeeprogramme. Gott bewahre uns das Irmchen noch ein Weilchen.

    Hans-Eckardt Wenzel ist von einer unvergleichlichen Produktivität. Er schreibt, komponiert und singt seine eigenen Lieder; er vertont und singt Texte anderer (Kramer, Haill); er hat Guthrie ins Deutsche übertragen und jetzt singt er seine Texte, die jemand anders vertont hat. Michael Vogt, Tubist des Konzerthausorchesters Berlins, hat Das kleine Meertagebuch (Matrosenblau / Indigo / ISBN 978-3-9411155-01-5; 16 Tracks, 46:36 Min., Texte) mit Gedichten Wenzels in die Hände bekommen und war sofort angetan. Spontan skizzierte er mögliche Kompositionen, und herausgekommen sind sehr filigrane Lieder, die von Blechinstrumenten getragen werden und die er, z. T. mit Orchesterkollegen, auch selbst mit eingespielt hat. Ein sehr poetisches und stimmungsvolles Album, das die Weite, die Sehnsucht und die Melancholie, aber auch den Zauber der See einfängt.

    Sandra Kreisler, Tochter von Topsy Küppers und Georg Kreisler, und ihr Partner Roger Stein, die als Wortfront auf der Bühne stehen, singen Lieder, die die Menschen als „Crash-Test-Dummies auf der Suche nach Glück“ beschreiben. Die treiben durch die Zeit, durch die Stadt und durch ihre sozialen Beziehungen. Sie sind desillusioniert oder machen sich etwas vor. Sie geben vor, extraordinär zu sein, und sind doch nur angepasst. Solch kritische Sicht in spannenden Chansons auszudrücken, zeichnet die Wortfront aus. Das ungleiche amerikanisch-schweizerische Duo ficht mit der Sprache und mit angenehmen, kraftvollen Stimmen um die richtige Form für seine bissigen Texte. Mit flotten und poppigen Arrangements und einer geradezu kammermusikalischen Besetzung (Cello, Violine, Klavier, Gitarre, Bass, Sax und Schlagzeug) versehen gelingen den beiden Wahlberlinern sehr zeitgemäße Popchansons. Von vorn mit Anlauf (TextTon Records; 14 Tracks, 54:44 Min.) geht ab durch Kopf und Glieder.

    Annamateur klingt ja ein bisschen merkwürdig, aber wenn man Annamateur & ihre Gitarristen (www.annamateur.de; 12 Tracks, 42:34 Min.) aus Dresden dann hört, klingt das ganz ausgezeichnet, denn Anna-Maria Scholz hat eine wunderbare Stimme. Ob Soul, Blues, Jazz oder Chanson – die stimmliche Bandbreite der Dresdnerin ist außergewöhnlich und sie ist auf Anhieb und zu Recht mit Preisen überschüttet worden. Da sie jetzt nicht so direkt einem schlanken Bühnenmodel entspricht, kokettiert sie in ihren eigenen Liedern (das kann sie auch!) mit diesem Bild. Ansonsten schlägt sie auf ihrer Debüt-CD höchst unterschiedliche Töne an, von Ray Charles, Tom Waits, Charles Aznavour bis zu den Beatles und Suzanne Vega. Sie wagt hier eigene Interpretationen, die durchweg gelungen sind. Eine wunderbare Entdeckung, eine „Annaprofiteur“.

    Wie es in Dziuks Küche aussieht, weiß man nicht, aber was rauskommt, kann man sich anhören: Freche Tattoos auf blutjungen Bankiers (Buschfunk BF 05332; 14 Tracks, 59:20 Min., Texte). Danny Dziuk ist ein Musiker und Songwriter, der sich seit Jahren mit eigenen Projekten und in Zusammenarbeit mit anderen einen sehr guten Namen gemacht hat. Der CD-Titel entstammt einer liebevoll-ironischen Hymne auf Berlin („Mein schönes Berlin“), in der sich der widersprüchliche Charakter der Hauptstadt – zwischen aufgeblähter Banalität und spannender Kreativität – nicht nur textlich, sondern auch musikalisch ausdrückt. „Eine Ode auf Berlin“ von Peter Hacks unterstreicht noch einmal die widersprüchliche Liebe zur Metropole. Dagegen steht „Halber Staat“, natürlich Halberstadt, stellvertretend für düstere Provinz, wo das/der Fremde Gefahr läuft, vom Nazipöbel halb totgeschlagen zu werden, was vom halben Staat noch gedeckt oder verharmlost wird. Dziuks Liebeslieder sind poetisch, ohne abgegriffen oder kitschig zu wirken. Die Kleingeldprinzessin Dota Kehr, die Popette Susanne Betancor und Musiker der 17 Hippies haben mitgewirkt an dieser atmosphärisch schönen und gelungenen Produktion.

    Bei Hiss kann man der Zeugen des Verfalls (www.Hiss.de; 14 Tracks, 49:20 Min., Texte) gewahr werden. Die nicht mehr ganz jungen Herren besingen die ausgeprägte Lebenslust, den Genuss, den Rausch, die Liebe und konsequenterweise natürlich auch den Tod. Selbst am offenen Grab soll noch getanzt und gesungen werden. Eine Art höchst modernes Carl-Michael-Bellmann-Quintett aus Stuttgart. Charakteristisch für die Gruppe ist ihr mitreißender Mix unterschiedlicher Stile und Rhythmen: Polka, Tango, Walzer, Rock oder Country fließen in die Melodien ein. Für die Texte zeichnen der Akkordeonspieler und Sänger Stefan Hiss und der Mundharmoniker und Sänger Michael Roth verantwortlich, deren Instrumente auch die Basis für den eigenen, typischen Sound der Band bilden (zudem: Gitarre, Mandoline, Schlagzeug). Ein Antidepressivum, das in die Beine geht und zum Mitswingen verführt.

    Zum Schluss noch zwei Spezialistenprogramme.

    Anno 2001 hat der Berliner Senat eine Bezirksreform beschlossen, um aus 23 unterschiedlich großen Stadtbezirken 12 in etwa gleich große Bezirke mit jeweils ca. 300.000 Einwohnern zu basteln. Ist ja klar, dass bei solchen Umstrukturierungen angestammte Siedlungsgebiete zusammengelegt wurden, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten und auch gar nichts zu haben wollten. Zwei Ur-Berliner – Horst Evers aus Evershagen bei Diepholz, der die Texte verbrochen hat, und Benedikt Eichhorn aus Coesfeld, der die Tasten anschlägt – haben sich nun dieses beklagenswerten Missstandes angenommen und Bezirkslieder (www.bezirkslieder.de; 20 Tracks, 77:54 Min., live) kreiert, die das gute alte Berlin in den Grenzen von 1998 besingen. Und höchst trefflich machen sie dieses, mit dem scharfen Blick von Zugereisten, die analytisch-glasklar Beobachtungen über Dinge machen, welche ein dumpfer Eingeborener womöglich unbeachtet als gegeben hinnimmt. Ganz wunderbar und punktgenau charakterisieren sie Spandau oder Köpenick, Steglitz und Marzahn und deren Bewohner, und alles wird durchwoben von den skurrilen Geschichten und Ansichten des Evershageners. Eigentlich gehört diese CD mit einem Stadtplan und einem Reiseführer jedem Neu-Berliner in die Hand gedrückt – aber auf uns hört ja keiner.

    Rauchen Sie? Noch, wieder, nicht mehr oder gar gerne? Wie dem auch sei, langsam aber sicher werden die noch verbliebenen Raucherbiotope kleiner und es ist klug und weise sich schon einmal mit dem Raucherabschiedshörbuch (WortArt 4991 / ISBN 978-3-86604-991-8; 19 Tracks, 62:23 Min.) geradezu nostalgisch auf kommende schwere, dunstfreie Zeiten einzustimmen. Spötter und Schwätzer auf einer CD zum Thema vereint, von originellen Commercials, sprich Werbeblöcken, unterbrochen. Wiglaf Droste umschwärmt die rauchende Frau, Harry Rowohlt schimpft über Nichtraucher und Printjournalisten, Fritz Eckenga ahnt schon, dass er sein Laster irgendwann aufgeben wird, und Klaus Bittermann erregt sich am lasziven Rauchgehabe aufreizender Filmdiven. In der Tat, die Filmsprache hat sich durch den Druck zum Nichtrauchen deutlich verändert. Nur Günter Wallraff schwadroniert schlussendlich bierernst darüber, wie er seine Umwelt damit nervt, mit dem Rauchen aufzuhören. Ein Abgesang, eine letzte Zigarette und ein letztes Glas im Stehen.


     

    2009-03-15 | Nr. 62 |





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