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    Begegnung mit dem Theater


    Die portugiesische Zirkuslandschaft glänzt eher durch Diskretion. Tritt eine Kompanie aus dem Schatten, so schaut man umso interessierter hin. Und es lohnt sich. Circolando sind die Akteure des neuen Zirkus an der Algarve. Die Kompanie von Claudia Figueiredo und André Barga vermengt Akrobatik, Theater, Live-Musik, Puppenspiel und Schattentheater. Mit letzterem beginnt „Girofle“. Nicht ihre neueste Kreation, aber ein Meisterwerk, mit dem sie zu Recht international auf Tournee sind und in der Heimat Preise gewinnen. Lange bleibt es bei stillen Silhouetten, dann fällt der Vorhang und die Figuren stehen leibhaftig vor uns, in Schwarz gekleidet, wie vom Tod durchdrungen. Ein knorriger Stangenwald beherrscht die Szene. Einen Tagtraum wollten sie schaffen, ein Manifest der Poesie. Wer „Girofle“ sieht, kann solches Understatement schwer begreifen, denn im Geiste hüpft, springt, lacht und leidet er stürmisch mit den Figuren. Die Personen scheinen direkt dem ländlichen Portugal zu entspringen. Mädchen tanzen und waschen weiße Laken, Burschen ziehen Karren, schaufeln Sand, wirbeln über die Wagen und werden von einem Wolkenbruch aus Orangen erdrückt. Hört sich das nach Theater an, so ist reichlich Akrobatik am Boden und in der Höhe mit von der Partie. Die minimalistische Musik, gespielt auf birnenförmigen, traditionellen Kontrabässen, überragt um Längen den süßlichen Kitsch, der zurzeit im neuen Zirkus weit verbreitet ist. „Girofle“ hat eben nichts mit (Pseudo-) Folklore zu tun, und das, obwohl man den Eindruck hat, tief in eine vielleicht schon vergangene Kultur einzutauchen. Bogenförmige Fontänen sind immer schön anzusehen, aber wenn hier die nassen Laken auf den Boden schlagen und Wasserströme durch die Luft wirbeln, sind wir der Ekstase nah. Waldgeister entsteigen dem Boden, Männer verwandeln sich in Nonnen. Eine gigantische Clownpuppe erstreckt sich vom Boden bis unter die Kuppel und verwandelt alle Akteure in Kinder, die auf der Schulter des Clownvaters sitzen oder in seinen Armen Frieden finden. So riesig, so zart endet „Girofle“. Die Mischung aus Zirkus, Tanz und Theater ist so ausgewogen, dass man das Stück eigentlich gar keinem Genre mehr zuordnen kann. Oder allen dreien. (circolando@sapo.pt)

    Auch Italien ist keine Hochburg des neuen Zirkus, sondern eher eine der Tradition. Aber es gibt Arcipelago Circo Teatro. Die Kompanie aus Venedig experimentiert nicht in Richtung Abstraktion, sondern schafft Neues aus der Begegnung diverser Traditionen. Mit Alessandro Serena als künstlerischem Leiter, der selbst von den Orfei, einer der historischen Zirkusfamilien Italiens, abstammt, erstaunt das niemanden. In „Ombra di Luna“, produziert für die Bienale di Venezia, setzten sie sich mit der Sage von Gilgamesh auseinander. Nun folgt „Creature“, vorbereitet in einem sechsmonatigen Workshop mit kenianischen Akrobaten in Nairobi. Sieben von diesen demonstrieren in „Creature“, dass Kenia das Zentrum afrikanischer Akrobatik-Tradition bleibt. Die Herausforderung für Serena lag darin, aus deren Sprüngen und Pyramiden, einem Narren italienischer Tradition und westlicher Philosophie ein universelles Ritual zu schaffen. Das neue Stück kann auch outdoor gespielt werden, dann sitzt das Publikum frontal und seitlich. Da spielen sie Handball mit Feuerbällen, zelebrieren Seilspringen, während sie auf dem Rücken liegen, springen durch brennende Reifen, krümmen sich im Limbo oder lauschen der Sängerin. Was die Inszenierung von Marcello Chiarenza zusammenhält ist ein Ambiente aus nächtlicher Gemeinsamkeit am Baobab, dem Dialog des Clowns mit Akrobaten, Sängerin und Publikum. Auch die Giraffen-hohen Drahttore des Bühnenbilds oder die Fähigkeit, gemeinsam auf wundersame Weise Wasser oder Rosen fließen zu lassen. „Creature“ ist eine Hymne an die Begegnung und die Brüderlichkeit. Serena hat dabei die „Kreaturen“ des Heiligen Francesco di Assisi im Hinterkopf. Serena ist Zirkushistoriker und schreibt hier selbst Geschichte. Wie er und Chiarenza kenianische und italienische Tradition in Einklang bringen, nötigt einem Respekt ab. Genauso interessant ist die weltliche Entstehungsgeschichte. In Kenia werkelt die UNO oder ein Ableger von ihr an der Begegnung zwischen dortigen und internationalen Kunstformen. Die UNO unterstützt hier den „Sarakasi Trust Nairobi“ (Sarakasi = kenianische Bezeichnung für die dortige Akrobatik). Unterstützung kam auch von dem EU-Programm „Two Worlds Circus“, das zwischen europäischen und afrikanischen Artisten vermittelt. (www.circoteatro.it)

    Europa sorgt sich nicht nur um den Zirkus in Afrika, sondern auch in Asien. Die Kulturabteilung des französischen Außenministeriums, AFAA, schickt französische Kompanien auf Asien-Tournee. Circasia heißt das Programm, das von 2004 bis 2006 läuft (www.afaa.asso.fr). Da fuhr zum Beispiel im November die Kompanie Baro d’Evel nach Phnom Penh zur kambodschanischen Zirkuswoche und traf dort auf lokalen, traditionellen Zirkus mit seinen Fakiren, Magiern, Akrobaten und Musikern. Organisator ist, wie soll es anders sein, das Centre Culturel Français, mit Plänen, die Zirkuswoche jährlich zu veranstalten und sie auf die Nachbarländer auszuweiten. Kultur ist eben auch ein strategisches Mittel, um sich bekannt und beliebt zu machen und im Nachhinein seine Atommeiler, Schnellzüge oder Flugzeuge verkaufen zu können, oder einfach nur Handtaschen, Wein und Cognac. Auch das rentiert sich. Werden wir also bald in europäischen Produktionen asiatisches Flair serviert bekommen, so wie die Italiener sich in Kenia aufpeppen?

    In Frankreich experimentiert die Zirkusszene bereits mit neuen Technologien wie Motion Capture und GPS, um neue Perspektiven zu entwickeln. Da trafen sich im Oktober 2004 in der Académie Fratellini in Saint-Denis Universitäten und Kunsthochschulen aus Frankreich und der Schweiz mit Artisten und debattierten, experimentierten, digitalisierten. Was wird zum Beispiel aus Jonglage, wenn man die Bälle oder Keulen durch Bilder ersetzt, die in Echtzeit kreiert und projiziert werden? Da lassen sich die Bälle angeblich bis ins Unendliche vervielfältigen oder mitten im Flug anhalten, solange man will. Ist das dann noch Zirkus? Wie sollen sich virtuelle Objekte und reale Bewegungen beeinflussen? So eröffnen sich ganz neue Welten. Man darf erwarten, dass in den nächsten Monaten oder Jahren erste Produktionen damit vor ein Publikum treten werden.

    Die im Vergleich brav konservativen Arcipelago und Circolando traten im Rahmen des Festival d’Aurillac in Frankreich auf, das sich in der Ausgabe 2004 beinahe in ein Zirkusfestival verwandelt hatte. Sogar auf der Straße wurden die Artisten frech. Da traf man einen Umzug mit Cabriolet und Zirkuswagen einer italienisch anmutenden Truppe, die Parolen skandierte und orangerote Fahnen schwang, dabei Bella Ciao und andere (eigens für Zirkusfanfare arrangierte) Hymnen des Aufstands sang. Zirkusrevoluzzer! Anarchoartisten! Hat sie doch ihr Direktor auf die Straße gesetzt, worauf sie ihm das Auto klauten und davonzogen. Zirkus, Karneval oder Demonstration? Sie lassen sich auf einem Platz nieder, ziehen einen Kreidekreis. Darin vollführen sie ein paar „erbärmliche“ Nummern, mit getürktem Pferd und viel Geschepper und Gelächter, bis sie vier kräftig gebaute Zuschauer auswählen, die die Eckpfeiler eines Boxrings darstellen. In die Seile fliegen, in schwerem Kampf, das Volk und das Kapital, als wären sie die Marx Brothers. Da kann es nur einen Sieger geben, wir leben schließlich nicht im Prolomärchen ... Gar nicht leicht, dem Druck standzuhalten, wenn man dort die Seile zu verteidigen hat! Cirque en Kit heißen diese wilden Fellini-Italos, die in Wahrheit aus Rousson stammen, einem Dorf in Südfrankreich. Ihre bunte, laute Besetzung des öffentlichen Raums nennt sich „Les Fanfaristes“. Eine „Farce mit Zivilcourage in drei Akten“, erdacht von Benoît Tréhard. Also wieder eine Truppe, die bewusst die Grenze zum Theater abfährt, hier die Grenze zum Straßentheater. Doch egal, ob in Zirkus oder Straßentheater, selten wird’s einem so feurig warm ums Herz wie mit diesen „Fanfaristes“. (www.cirque-en-kit.com)

    Zu der Begegnung zwischen Zirkus und Theater kam es auch beim Wettbewerb Jeunes Talents Cirque, weil der Präsident der Jury Alain Platel hieß und aus Belgien kam, bzw. vom Tanztheater. Da wurden aus 170 eingesandten Projekten 43 ausgewählt. Nur 25 der 170 kamen nicht aus Frankreich. So ist es nicht erstaunlich, dass unter den sieben preisgekrönten Aufführungen eine englische der einzige „Ausländer“ war. Wird die Ausschreibung, die durch Zirkusschulen, Kompanien und Institutionen (z. B. Circus Space, London und UFA Fabrik) bekannt gemacht wird, zu diskret betrieben? Für Jene, die nach Masterclasses suchen: Ein Verzeichnis internationaler, professioneller Zirkusakademien findet sich in der neuen Ausgabe des Bulletin von Hors les murs (www.horslesmurs.asso.fr) oder beim Verband der europäischen Zirkusschulen, Fedec: www.fedec.net.fr. Und die Zirkuszeitschrift arts de la piste widmet in ihrer Ausgabe 33 (Oktober 2004) ein exzellent recherchiertes Dossier dem Problem des Bühnenbilds und Bühnenraums im Zirkus.

     

    Redaktion: Thomas Hahn


    2004-12-15 | Nr. 45 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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