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    Musik, Musik, Musik, Musik ...

    ... aber auch Theater. In Frankreich rollt eine noch relativ neue Welle durch die Straßen der Festivals. Immer geschickter, immer origineller verbinden und vermischen die Kompanien die Genres Fanfare, Theater und Parade, und manchmal sogar Tanz. Oft entsteht, da die Schauspieler wirklich großartig sind, ein direkter Dialog mit dem Zuschauer. Oder man folgt, von Bläsern begleitet, von Station zu Station. Musik wird nicht nur gespielt, sondern wirklich inszeniert. Natürlich gibt es schon lange Fanfarenspieler, die sich in originelle Kostüme werfen. Aber Theater kam dabei bisher nicht zustande, es blieb beim Musizieren. Heute werden die Musiker zu wahren Figuren, mit einer Dramaturgie umgeben und kunstvoll choreografiert, wie die folgenden Produktionen zeigen, die in den letzten beiden Jahren entstanden. Ganz nebenbei bieten diese schauspielernden Fanfaren ein wahres Fest der traditionellen Berufskörperschaften, von Dienern über Bahnheizer oder Priester bis hin zu Küchenpersonal. Was mag das wohl ausdrücken an Zivilisationskritik und generellem Unbehagen in unserer Zeit?

    Les Grooms waren mit die Ersten, die sich dieser innovativen Nostalgie verschrieben. „Les Ballet Grooms“ heißt ihre neue Kreation. Dafür haben sie tatsächlich zwei klassisch ausgebildete Balletttänzer engagiert, die den Zauber der Musik erhören und aus ihrem Ei schlüpfen. Die Musik aber entsteigt, nachdem der erste Akt aus Theater bestand, einem blauen Gebirge. Ob es der Ural ist? Ständig spielen sie Klassiker der russischen Sinfonik, vor allem natürlich Ballettmusik. Ein Tanzbär ist auch dabei. So parodieren sie bekannte Ballett-Motive von Petruschka bis Carmen. Zu Beginn trägt auch die Ballerina eine Art Groom-Livrée über dem Tutu. Und sie wirft sich den Bläsern in die Arme, ohne dass die aufhören würden, ins Saxofon zu pusten. Irgendwann zwischen Schwanensee und Romeo und Julia wirft sie sich dann in ein klassisches Ballettkostüm, während von den Herren an der Fanfare einige die Hosen herunterlassen. Der Humor dieses „Ballet Grooms“ ist ebenso hintergründig wie mitreißend (www.lesgrooms.com).

    Vom Ballett zum wohl ältesten Rapper der Welt: Jean-Marie Maddedu steigt in „Brut de décharge“ auf ein blitzblankes Ölfass, um einen Berg aus Hausmüll zu überblicken. Les Piétons machen nicht zum ersten Mal aus Plastik, Blech und Fantasie eine Musik des Unwahrscheinlichen. Was soll die Konsumgesellschaft anderes produzieren als Müll? Maddedus Texte sind politisch, umweltbewusst, militant. Allein, als Show, und als solche war es ja gedacht, ist das alles etwas mühsam, statisch und unklar. Les Piétons haben dieses Mal mehr mit sich selbst zu kämpfen als mit der Welt. „Trash as trash can“, würde man auf Fantasie-Englisch das neue „Brut“ von Maddedu umschreiben. Und welchem Beruf sollte man sie zurechnen? Sind sie Müllsammler oder -musiker? Egal, es gibt genug Alternativen. Köche zum Beispiel haben in Sachen Genuss einfach mehr zu bieten (www.lespietons.fr).

    Die Fanfare Les Costards (Die Herrenanzüge) spielt in „Les cuistots“ (Die Köche), ihrer jüngsten Kreation, eine der Arbeit nur halb zugetane Schar aus Chefkoch, Küchenhilfe und Kellnern. Schnell wird klar, dass sie ihren Chef viel weniger lieben als die Musik. In ihrer Küche herrscht aber Ordnung, denn der burleske Koch führt ein strenges Regiment. Sie rächen sich dafür, indem sie ihm die Leckereien vom Tablett klauen, ihn auf den Arm nehmen, herausfordern und sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machen. Das Stück ist ein Stummfilm, der seine Musik live produziert. Und die macht Dampf. Das Ensemble würde ein paar Sterne im Guide Michelin absolut verdienen, auch deshalb, weil solches Theater, pointiert und volkstümlich zugleich, eben nur auf der Straße möglich ist. Musique visuelle d’intervention nennen sie das (www.lescostards.com).

    Ganz ähnlich funktioniert das Konzept von Les Charentaises de Luxe in „La fanfare du rail“. Hier ist die Hierarchie noch strenger. Der Chef hält das Megafon, um seine Arbeiter anzufeuern und zu dirigieren. Als Heizer und Mechaniker aus dem neunzehnten Jahrhundert haben sie rußgeschwärzte Gesichter, während Igor, der Boss (der bemerkenswerte Ivan Gouillon) sich schminkt, als sei er gerade einem Film von Fritz Lang entstiegen. Elegant, herrisch, weltmännisch, kantig, energisch und manchmal sarkastisch. Die Persönlichkeit ist beeindruckend. Der Herr trägt Smoking und Rüschenhemd! Gleichzeitig sucht er den Kontakt mit dem Publikum, im Stil eines Conférenciers. Wie die Köche bleiben auch die Eisenbahner am Ort, sodass der Choreografie besondere Bedeutung zukommt. Und sie ist abwechslungsreich, präzise, humorvoll. Die Truppe heizt auch musikalisch ein mit gelegentlich tropischen Rhythmen und hat dabei so viel Stil, dass man sich in alte Eisenbahnzeiten zurücksehnt (www.charentaisesdeluxe.com).

    In „Glisssssssssendo“ (ohne die s im Titel genau gezählt zu haben) vereint sich Ulik aus Deutschland mit der französischen Fanfare Le Snob. Und sie gleiten tatsächlich: Unter ihren schwarzen Priestergewändern stehen sie auf von Ulik gebastelten, mysteriösen Gestellen, die das geflügelte Wort vom fahrbaren Untersatz plötzlich wie eine Prophezeiung erscheinen lassen. Am Boden sind sie kreisförmig und über den Köpfen schweben spitz zulaufende Heiligenscheine, aus denen Flammen gen Himmel steigen. Und diese schwarzen Kegel, an Priester und Engel zugleich erinnernd, schweben musizierend über einen Platz der Stadt. Sie spielen wahrhaft göttlich, und nicht etwa Stimmungsmusik, sondern Klassik und Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, Eric Satie zum Beispiel. Die glänzenden Rohre ihrer Blasinstrumente sind skurril gebogen, und man mag darin die unergründlichen Wege das Herrn erblicken oder die Trompeten von Jericho. Der füllige Schlagzeuger gibt eine Art Petrus, und die Dame ohne Instrument, die doppelte Flammen wirft, erscheint recht teuflisch vor den acht schwarzen Höllenengeln. Nur, ein Berufsbild wie bei den Köchen oder Grooms will sich nicht einstellen, denn Heiliger ist bekanntlich kein Beruf. Der Tod aber ist immerhin eine Art Berufung, oder? Vor ihrer Begegnung mit Ulik arbeiteten Le Snob auch schon mit Titanik, Albédo, Oposito, Transe Express und weiteren Kompanien, von Indien bis Afrika (www.ulik.com; www.fanfarelesnob.com).

    Nach so viel Blech- und Schlagzeugtrubel in Arbeitskluft darf man sich eine Pause gönnen an einem ruhigen, geschützten Ort und sich dank Klavier und Opernsängern erholen. Opéra 3 präsentieren mit „Cenerentola valise“ eine Parodie von Aschenputtel, von der Kompanie speziell für die Straße erarbeitet. Die sieben Sänger sind auch hier wahre Schauspieler und sie haben das Talent, aus der Oper eine Art Kabarett zu machen.

    Kann man all diesen Äußerungen der Lebensfreude überhaupt etwas ohne Musik entgegenstellen? Vielleicht die verrückten Holländer von De Stijle, Want mit ihrer Bude, die sie als „Lunapark“ anpreisen und vor der sie die Kandidaten in Gruppen von je neun Wagemutigen einteilen, die sich für eine Minute und dreiundzwanzig Sekunden ins Abenteuer stürzen. Je drei werden angehalten, sich in einen aufgeblasenen Reifenschlauch zu quetschen. Dann werden die drei Gruppen aufeinander losgelassen wie in einem Autoskooter. In jedem Trio bekommt eine(r) das Lenkrad anvertraut. Natürlich bleibt streng geheim, was drinnen vor sich geht und dass die „Zuschauer“ selbst das Spektakel aufziehen. Es reicht aber, zu sehen, wie sie sich nach dem Besuch im „Lunapark“ vor Lachen kringeln, um sich auszumalen, dass ihnen die wohl verrücktesten anderthalb Minuten eines Lebens – oder sagen wir, eines Festivals – für immer in Erinnerung bleiben werden. Und das gilt auch für Menschen wie den Bürgermeister von Périgueux (und Bildungsminister in der Regierung Sarkozys), der sich auf Mimos extra Zeit nahm, eine Aufführung zu besuchen und, offensichtlich angelockt von der Kürze, sich unvermittelt in engsten Körperkontakt mit seinen Leibwächtern begeben musste. Die Anekdote war der Lacher des Festivals (www.fransbrood.com).

    Thomas Hahn

    2007-09-15 | Nr. 56 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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