Es war schon gemein vom Wettergott, die Premiere des Kleinen Festes im Großen Garten Hannovers zu verregnen – erst zum zweiten Mal in 22 Jahren musste sie abgesagt bzw. abgebrochen werden. 15 Abende waren geplant, 45.000 Besucher – und fast dreimal so viele Kartenwünsche waren eingereicht worden, so viel wie nie zuvor. Dennoch gibt es in der Stadt Tendenzen, mit dem bevorstehenden Ausscheiden von Harald Böhlmann, dem Vater des Kleinen Festes, als Kulturdezernenten, die Veranstaltung abzuschaffen oder „irgendetwas anderes“ machen zu wollen, weil es sie ja „schon so lange“ gibt. Als ob es das Schützenfest in dieser Stadt nicht schon viel länger gäbe. Erst einmal soll Böhlmann das Kleine Fest drei Jahre lang weiter leiten.
Doch als hätte die Debatte allein schon genug zersetzend gewirkt, fehlte Hannovers großem Kleinkunstspektakel diesmal auch noch ein ganz klein bisschen die ganz große Strahlkraft. Wo im vergangenen Jahr Boul in einer mannsgroßen, durchsichtigen Kugel übers Wasser der großen Fontäne geschwebt war und zwischen den Hecken Adrian Schvarzstein mit seinem Bett Parade fuhr oder in früheren Jahren Les Zaminos einen ganzen Gemüsestand zum Tanzen brachten, fanden sich diesmal überwiegend Jonglage- und Akrobatiknummern, zwar mit Witz und klasse Geschichten, aber mit wenig, das alle Besucher aufhorchen ließ. Man wird anspruchsvoll mit den Jahren. Zudem ändern sich auch in der Kleinkunst die Trends.
Was aber mag das Publikum von heute? Zwei ganz spezielle Acts waren aus dem Vorjahr schon bekannt und wieder erfolgreich: Rigolo, der im Zelt in einem atemberaubenden meditativen Akt ein riesiges Palmblattrippen-Mobile baute, balancierte und dann zum Finale durch Wegnahme des allerkleinsten Teils, einstürzen ließ und Le Mime Daniel, der seinen Kopf auf die Brust klemmt und in seiner „tierischen Pantomime“ verblüffend echt den Vogel Strauß parodiert. Bei den Neuentdeckungen stach Oskar alias Tom Greder aus Australien hervor: In seiner Show „Einsteigen bitte!“ fährt eine kleine bunte Holzlok über Holzschienen im Kreis und schickt die Fantasie der Zuschauer auf Reisen: Dörfer und Städte entstehen im Kopf, ein Tunnel, der niemals endet, der Zug fährt um Oskars Bauch, durch Gebirge und durch feindliches Indianergebiet, und sein Publikum darf pfeifen, zischen, dampfen und Kriegsgeheul anstimmen – und schon fliegen auch die Pfeile. Da wird man wieder Kind, bevor man’s recht weiß – die Kombination von verblüffend simplen Mitteln und hohem Fantasiereiz verzaubert. Ebenfalls frisch eingeflogen: Straßenclown Nino Costrini aus Argentinien, den Böhlmann in seiner Eigenschaft als Juror beim Daidogei-Festival in Shizuoka, Japan, entdeckte. Klassisch in Riesenlatschen und kurzer, weiter Hose, mit schwarz geschminkten Lippen und mikro-verzerrter Stimme wie Donald Duck auf Helium, spielt er unablässig mit seinem Publikum irre Spiele wie Kopfbasketball – ein Tischtennisball aus des Zuschauers Mund in einen Korb auf seinem Kopf –, lässt kleine Kinder durch einen Reifen steigen, macht Leute nach, ist immer unterwegs, wirbelt, verblüfft. Ein großes und vor allem jüngeres Publikum amüsierte sich auch köstlich bei den Starbugs, drei tanzenden Schweizern, Weltmeister in der von ihnen erfundenen Disziplin der „rhythmischen Sportkomik“, die urkomisch „The Final Countdown“ und „Blau blüht der Enzian“ parodistisch auf Rap trimmen – seit ihrer GOP-Tour im letzten Jahr und der Freiburger Kleinkunstbörse 2007 geht es steil nach oben mit ihrem Mix aus Akrobatik, Tanz, Musik und Komik. Und im Rigolo-Zelt präsentierten Prise de pied alias Salien Rose und Benoit Héliot aus Frankreich die romantischste und zärtlichste Partnerakrobatik, die man sich vorstellen kann - ein animierendes Geturtel um den biblischen Apfel.
Ansonsten fiel das meiste in die Kategorie bunt, nett, lustig: Shirley Sunflower turnt in ihrer neuen Nummer an einer Senkrechtstange, gehalten von drei wie immer aus dem Publikum erwählten Herren, und schon die Suche ist wieder eine australische Gaudi. Das Wall Street Theatre schlägt diesmal mit der Peitsche und wirft Messer auf ein Publikumsopfer: Der neue Act der Herren Schultze & Schröder bringt wirklich neue Elemente und einen schönen Hauch von Boshaftigkeit in ihren Humor. The Married Men werfen einmal mehr mit Tassen und Untertassen um sich, und ziehen das Tischtuch unter dem gedeckten Tisch weg: ihr Charme verschafft ihnen die entscheidenden Pluspunkte. Ähnlich das Zauberpannenduo Scott & Muriel: Keine ihrer Nummern ist nun gerade revolutionär originell, aber die Darbietung amüsiert. Dagegen betreibt Jens Ohle in seinem Karo-Anzug als Circ Ohle verkleidet handfeste Publikumsbeschimpfung, während er die Vorbereitungen trifft, auf seinem Hoch-Einrad mit Feuerkeulen zu jonglieren – Sprüche, wie sie in Zeiten der Comedy hochbeliebt sind und bei Ohle auch harmlos und ulkig bleiben. Nostalgische Gefühle weckt Manolo: Selten sieht man noch einen so straßentauglichen Seiltänzer, der Spanier hat sich eine altertümlich anmutende Seiltanzmaschine gebaut mit einem automatisch weiterlaufenden Seil – ausgefallener Effekt. Witzig-wirbelig die Show des Trios Csarszar aus Ungarn, das nicht nur exzellent jongliert, sondern auch spektakulär vom Schleuderbrett abhebt. Die verblüffenden neugierigen Giraffen des Teatro Pavana begeisterten wieder ebenso wie die Gruppe PasParTout mit ihrem Elefanten. Der poetischste Walk-Act aber präsentierte ein kleines, fleißiges Völkchen bei der emsigen Arbeit, das perfekte, schönste Licht zu schaffen – Tukkers Connexion sorgte als Laternenvolk an verschiedensten Punkten des Parks für Atmosphäre.
Auch bei Hannovers großer Sommersause, dem Maschseefest, war in diesem Jahr wieder Kleinkunst gefragt: Nily Nils jonglierte auf dem Hochrad, Robert Wicke mit viel Witz auf dem Podium, Mc Ballweg lieferte einen Walk-Act als Bauarbeiter, Noa entzündete akrobatisch die Laternen. Nichts Spektakuläres, aber schöne Farbtupfer. Nun ist das alles vorbei, es wird wieder überdacht gelacht: Desimos Lindener Spezial Club bleibt unverändert ausverkauft, der Aufkauf seines Hauptsponsors konnte ihm nicht schaden, der Nachfolger sponsert weiter. Die Mix-Überraschungsshows sind weiter Kult, in Hannover am letzten Montag im Monat im Apollo ebenso wie in der Brunsviga in Braunschweig am letzten Dienstag; ganz großartig war das April-Programm mit dem abgefahrenen Pantomimen Fabien Kachev und dem abgedrehten Hardcore-a-cappella-Haufen U-Bahn-Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern aus Frankfurt. Viel Gelächter, Riesenparty. Sehr erheiternd auch der Abschluss vor den Sommerferien, bei dem sich nicht zuletzt der hannoversche Vortragszauberer Matthias Wesslowski hervortat – wenn er das Publikum umschult, dann gründlich! Mit seiner Spezialität, der Verbindung von trockenen Themen mit Zaubertricks und Pointen, bringt er auch den steifsten Medizinerkongress oder Bankvorstand zum Lachen – den Lindener Club sowieso. Dort haben sich übrigens auch die Gastspiele bestens gemausert, im Herbst kommen Helge und das Udo, Bodo Wartke und Peter Shub; am 15. Oktober wird großes Jubiläum fünf Jahre Lindener Spezial Club im Theater am Aegi gefeiert.
Im Enercity-Expo-Café wurde die Reihe Blub Blub Club fortgesetzt, obwohl sich das tragende Duo Fischbrötchen 1 Euro in Solisten aufgeteilt hat. Eine Brötchenhälfte, Wolfgang Grieger, der wesentliche Songschreiber, macht weiter mit seiner neuen Band High Nees in bewährter Manier mit Liedern bis an die Schmerzgrenze. Beim zweiten Hannoverschen Kabarett-Festival in der Orangerie in Herrenhausen traten Wilfried Schmickler, Georg Schramm, Thomas Reis, das Düsseldorfer Kommödchen und die Münchner Lach- und Schießgesellschaft auf – die beiden letzteren mit ihren Jubiläumsprogrammen. Herrenhausen wird weiter als Standort für Varieté und Kleinkunst ausgebaut, erstmals gastierte im Frühsommer dort auch ein Theaterzirkus: Der Cirque Bouffon, ein Vertreter des Nouveau Cirque mit viel Harmonie und Poesie. Doch so malerisch die Bouffon-Schau auch sein mag: Ein bisschen ist man die poetisierende Traumschiene auch leid. Wie anders ein Nouveau Cirque auch aussehen kann, erlebten nur eine Woche nach dem Bouffon-Gastspiel die Besucher von Hannovers Festival Theaterformen: Hier spielte das Cirque désaccordé aus Marseille mit der Show „Nach dem Regen“. Keine Elfenkostüme, keine geschminkten Kinns, sondern Künstler in Alltagsklamotten; keine Traumkulisse, sondern nur ein nostalgischer Zirkuswagen. Gespielt wird Alltag, der schräge Alltag eines Zirkus aus den 50ern, es wird gekocht, gewaschen, Geburtstag gefeiert, Moped gefahren. Doch wenn einer schmollt, geht er aufs Seil, wenn das Telefon klingelt, muss man halsbrecherisch unter die Kuppel danach klettern, in und aus dem Zirkuswagen gelangt man überwiegend im Salto, und wenn den Jungs zu wohl wird, springen sie von einer alten Schaukel aufs Schleuderbrett, fliegen in tollen Figuren bis unter die Kuppel und landen auf einer dicken Matratze, die die anderen eilig herbeischleppen. Und zwischendurch greifen alle zum Musikinstrument und spielen. Da stellt sich Poesie auf ungekünstelte Weise ein, man staunt, lacht, erschrickt – die schönste Artistik-Darbietung dieses Sommers in Hannover.
Redaktion: Evelyn Beyer
Matthias Wesslowski und Matthias Schlicht am 28.9. in Hannover in der Matthäi-Kirche (Hannovers Kabarett-Kirche)
„Bert Engel sagt Tschüss!“ mit Matthias Brodowy und Bernd Wutschik, 1. + 2. 10. Apollo-Kino Hannover, 9.12. Theatersaal Langenhagen
Brodowy Solo 14.10. Premiere neues Programm „Allergie“ im Pavillon, im Tak am 30.10.–2.11., in Lüneburg am 3.11. im Kulturforum
Desimos Lindener Spezialclub:
Jubiläumsprogramm am 13.10. im Theater am Aegi in Hannover. Gastspiele bei Desimos Club im Apollo-Kino: 1.+ 2.10.: Wutschik & Brodowy, 22.10.: Helge und das Udo, 24.10.: Bodo Wartke, 5.11. + 3.12.: Desimo Solo, 20.11.: Peter Shub
Hannoversches Kabarettfestival, 15. bis 19.9. Orangerie Herrenhausen.
27. internationales Kleinkunstfestival Mimuse, 13.10. bis 14.12., mit Thomas Freitag (20.10.), Horst Schroth (3.11.), Herbert Knebels Affentheater (11.11.), Andrea Badey (14.12.) und vielen anderen
AdNr:1007
2007-09-15 | Nr. 56 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer