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    Auch nach Marceau: Mimos und die Mimen leben weiter

    Über Marcel Marceaus Tod ist genug gesagt und geschrieben worden. Aber dass schon zwei Jahre vorher die Stadt Paris seine „École Internationale du Mimodrame“ zwangsweise geschlossen hatte, und zwar wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten, das ist allen entgangen. Paris gibt das Geld lieber für zeitgenössischen Tanz aus. Frankreich tut sich schwer mit seinem Erbe der Mimenkunst. Dass diese nun aber mit Bips Abgesang ganz ausgestorben sein soll, ist Legende. Richtig ist allein: Es gibt heute keine großen Meister der Pantomime mehr. Stattdessen gehen zwei Wellen der Mimenkunst von Frankreich aus. Die eine erlaubt es Tänzern, Akrobaten, Jongleuren etc., ihre Aufführungen der rein technischen Virtuosität zu entreißen, indem sie gleichzeitig zu Mimen werden. In der anderen entwickeln Mimen, Tänzer und Akrobaten immer lebendigere, verblüffendere und subtilere Beziehungen zu Objekten aller Art und sogar zu Maschinen. Damit wendet sich die Kunst einer Frage zu, die für jeden im Mittelpunkt des Alltags steht.

    Mit der Ausgabe 2007 feierte Mimos sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen. Das Jubiläum zeigte allerdings, dass es immer schwieriger wird, zu definieren, wer heute ein Mime ist. Marceau war hier lange nicht mehr gewesen, doch die Stadt spielte eine Rolle in seiner Jugend, als er sich dort mit seiner Familie vor den Nazis in Sicherheit brachte. Wie die gesamte Kulturlandschaft leidet Mimos heute unter dem Verlust der Aufbruchstimmung der 80er-Jahre. Strukturierte Kulturpolitik ist auf dem Rückzug und Festivals sollen in erster Linie (dem Wähler) gefallen. Man scheut künstlerisches Risiko und gewährt nur magere Budgeterhöhungen, welche die Kostensteigerungen nicht ausgleichen. Dabei war Périgueux 2003 Frankreichs Stadt mit den höchsten Kulturausgaben pro Einwohner – so behauptet jedenfalls Bürgermeister Xavier Darcos, Bildungsminister in der Regierung von Nicolas Sarkozy. Wie unberechenbar moderne Mimen sind, erfuhr er am eigenen Leib. Die bizarren Schauspieler der holländischen Kompanie De Stile, Want lockten ihn in ihren „Luna Park“. Dort steigen die Besucher zu dritt in Reifenschläuche und spielen Autoskooter. Darcos kam dabei seinen Leibwächtern ungewollt nahe. Seine schon immer eher zaghafte Liebe zu Mimos dürfte das skurrile Abenteuer nicht gerade verstärkt haben.

    Er hätte sich lieber Xavier Mortimer anschauen sollen. Der verblüffende Magier ist ein Kind von Périgueux. Auf Mimos demonstrierte er die perfekte Ehe aus Zauber- und Mimenkunst. Mortimer ist ausgebildet als Musiker, Tänzer und im Straßentheater, Mime wurde er in London. Das Fundament seines Programms „L’ombre-orchestre“ ist die Magie. Doch, wie der Titel schon sagt, spielt auch die Musik eine Hauptrolle. Dazu trickst Mortimer mit seinen Schatten, die sich musizierend selbstständig machen. Die Bälle, mit denen er jongliert, zaubert er aus Seifenblasen; mit dem Diabolo jongliert er über und unter dem Stuhl, auf dem er sitzt; Luftballons bläst er mit dem Ohr auf und baut sich eine Gitarre daraus. Mortimer erschließt mit alten Rezepten der Illusionskunst neue, überraschende Welten, indem er sie mit Konzert und Mime verbindet. Sein größter Trumpf aber ist die filigrane, subtil-melancholische, poetische Persönlichkeit dieses Pierots der Magie, dessen große, tiefe und melancholische Augen einen Hauch Marceau verbreiten. (www.xaviermortimer.com)

    Nicht poetisch, sondern eher wild geht es zu in „Strike“. Die Kompanie Fiat Lux ist in der Bretagne beheimatet und ihr Regisseur Didier Guyon ist der neue Präsident des Centre National du Mime, das in diesem Jahr in Périgueux sein eigenes kleines Theater eröffnete. „Strike“ aber braucht eine große Bühne. Die Mimen von Fiat Lux entfachen einen Wirbelsturm, der erzählt, was sich auf einem Bahnsteig zuträgt, wenn der letzte Zug nach England plötzlich wegen eines Streiks ausfällt. Der Manager dreht durch, die Muslime überlisten den Getränkeautomaten und man picknickt gemeinsam, mit Dudelsack und Wasserpfeife. Draußen zu übernachten, das sind nur die beiden illegalen Einwanderer gewöhnt. Am Schleier der Muslimin entzündet sich derart scharfe Situationskomik, dass das Stück in London gar nicht aufführbar wäre. Denn wenn der Schleier fällt, entblößt er den Oberkörper der Dame. Die wird zwar von einer Französin gespielt, aber die Szene wäre angeblich unerträglich für die muslimische Gemeinde in London und alle Wächter der political correctness. So wird das Stück bierernst eingeholt von dem Kulturkonflikt, den es mit französischem Esprit zu entschärfen versucht. „Strike“ beleuchtet die Schwierigkeit der Kommunikation mit den Einwanderern, aber auch den Generationenkonflikt und die Entfremdung der europäischen Gruppen der Gesellschaft. Der Schotte und der Franzose sind sich genauso fremd, und in den soziokulturellen Barrieren zwischen dem Manager und den Damen der alten englischen Art steckt ebenfalls viel Potenzial für Slapstick. Die Karikaturen sind in ihren schauspielerischen und körperlichen Rundumschlägen so großen Komikern wie Keaton, Tati, den Marx Brothers oder Monty Pythons würdig. Mit (im wahrsten Sinne des Wortes) beißendem Humor zeigen sie, was unter der zivilisierten Oberfläche brodelt. Da biegt sich der Saal vor Lachen, und nach der Vorstellung schwant allen, dass in „Strike“ auch viel Stoff steckt zum Nachdenken über unsere Beziehung zum anderen. (www.ciefiatlux.asso.fr)

    Und immer noch gibt es viele junge Absolventen der Mimenschulen, die mit charmanten, manchmal naiven Mimodramen für Groß und Klein unsere zärtlichen Seiten berühren. Praktisch in jedem Jahr ist das Genre auf Mimos vertreten, 2007 durch die französisch-italienische Kompanie La Commedia Infinita. Ihr „Stramonium 9CH“ bezieht sich im Titel auf ein homöopathisches Mittel gegen Schlafstörungen; klar also, dass hier die Probleme der Kleinen beim Einschlafen aufgearbeitet werden. Annamaria Moraschi hat ein Duo für zwei Mimen geschrieben, das sie mit Diana Cavaleri spielt. Da treffen sich zwei Damen in einem Hotelzimmer und müssen das Bett miteinander teilen. In ihren Pelzmänteln steckt die Metapher: Murmeltier und Hermelin, Dauerschläfer und Nimmerschläfer. So wird es eine Nacht voller Fantasie und Abenteuer mit Corrida und Kampf gegen unsichtbare Eindringlinge, wo schwarzes Theater, Objekttheater und Puppenspiel die akrobatisch-gymnastische Choreografie des Halbschlafs ergänzen. Moraschi spielt vergnügt mit der Erinnerung an ihre eigenen schlaflosen Nächte. Beide Mimen schlossen 1997 ihre Ausbildung an der Marceau-Schule ab und gründeten La Commedia Infinita. „Stramonium 9CH“ kreierten sie 2006 in Paris, frühere Stücke auch in Italien und der Schweiz. Sie unterrichten selbst die Mimenkunst, u. a. in Zirkusschulen. So tragen sie mit dazu bei, dass sich Mime, Zirkus und Objekttheater immer enger verflechten. (www.stramonium9ch.com)

    Auch dafür lieferte Mimos Anschauungsmaterial. Kaizuke Kanai stammt aus Tokio, wo er Butoh, zeitgenössischen Tanz und Mime lernte. In Frankreich wurde aus ihm ein Akrobat und Jongleur, der Zirkus mit Objekttheater vermischt. In „Gaikotsu“ (Skelett) gelingen einige Bilder, andere nicht. Aber die japanische Inspiration ist unverkennbar, wenn Kanai jonglierend seine Silhouette wie ein Fotogramm in einen weißen Vorhang drückt. Anstatt sich seines Körpers als Instrument zu bedienen, macht er aus sich selbst einen Kunstgegenstand. Jonglage und Akrobatik werden Teil eines überraschenden Körperbildes.

    Viel direkter ist Melissa von Vépy in „Croc“, ihrem Solo am Kranhaken. Der ist mindestens so groß wie sie selbst. Nach gegenseitigem Belauern packt er sie am Kragen und zieht sie in die Lüfte. Zum Schluss legt die Artistin, Tänzerin und Mime sich sanft in ihm zur Ruhe. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt ist so etwas wie das neue Leitthema im Körpertheater. Das hat seine Berechtigung, denn auch im Leben wird diese Dialektik immer beherrschender. Darum hält sich auch ein Solo wie „Les Tubes (mobile)“ von Jörg Müller seit zehn Jahren und er raubt noch immer dem Publikum den Atem, wenn er die Röhren seines Mobiles um sich herum schwingen und kreisen lässt, dass man Angst um ihn bekommen könnte. Hier mischen sich Objekttheater, Performance und Tanz, aber das Spiel mit der Gefahr gehört doch ganz dem Zirkus. Nebenbei entsteht aus dem Sirren und Schwingen der Röhren und ihren Kollisionen eine musikalische Partitur.

    Bisher nicht bei Mimos, aber sicher bald: Salah. Die Überraschung: Einer der besten Clowns und Mimen kommt aus dem Hip-Hop! Sein Solo „Le Rêve de Gluby“ beginnt im Kinderbett. Zieht er seinen Pyjama aus, erscheint darunter ein Smokinghemd mit Fliege. Salahs Energie lässt selbst Breaker alt aussehen. Die Techniken des Hip-Hop wie Moonwalk, Pointing oder Locking beherrscht er wie kaum ein anderer und nur deshalb gelingt es ihm, sie so perfekt als Komiker einzusetzen. Wenn er Kopf, Arme und Rumpf immer weiter verschiebt, scheinen keine Gesetze des Körperbaus mehr zu gelten. Das Publikum lacht Tränen und starrt ungläubig auf Salahs Windungen. Das Ganze unterlegt er mit Pfeif- und Quietschtönen, ebenso kitschig wie umwerfend. Das Publikum ist aus dem Häuschen! Salah gehört zu den Gründern der Hip-Hop-Kompanie Vagabond Crew, die 2006 den Battle of the Year gewann. (spidersalah@hotmail.com)

    Redaktion: Thomas Hahn, Paris

     

     

    2007-12-15 | Nr. 57 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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