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    360 Tage Zirkus – L'Année du cirque!

    «1,2,3…Cirque!». So griffig und prägnant apostrophiert Frankreichs Kulturministerin Catherine Tasca einen der Schwerpunkte im Veranstaltungsprogramm des von ihrer Vorgängerin Catherine Trautmann angeregten Zirkusjahres. Denn seit Anfang Juni läuft «L'Année du cirque.» Und da man in Frankreich gerne über Begriffe streitet, heisst es dann doch anders, und zwar offiziell «L'année des arts de la piste.» Obwohl von «piste», also der Manege, im neuen Zirkus immer weniger zu sehen ist. Und gerade der soll gefördert werden. In erster Linie heisst das also: Geld für den (neuen) Zirkus. 1999 gab es 6.8 Mio Euro für den Zirkus und 2002 wird es 9.9 Mio. Euro geben. Eine satte Steigerung, aber immer noch weniger als manches Staatstheter aus dem Kulturbudget erhält. 2001/02 wird es also besonders viele Zirkusaufführungen geben. Aber es gäbe auch ohne offizielles Zirkusjahr eine Menge. Zur Zeit wird an einer Studie über die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der Zirkusleute gearbeitet. 360 Kompanien hat das Ministerium ausfindig gemacht. Etwa 50 davon sollen traditionelle Familienzirkusse sein. Es soll aber dazu noch etwa 200 Kleinzirkusse mit Familientradition geben. Wahrscheinlich haben sie bei 360 absichlich mit dem Zählen aufgehört. Denn das ist eine so symbolträchtige, im wahrsten Sinne runde Zahl. Zu den Ideen des Ministeriums gehört auch, die Wanderschaft der Komanien zu unterstützten. Als Beispiel wird die Kompanie «Cirque 360» genannt, die mit eigenen und eingeladenen Inszenierungen durch den Süden der Ile-de-France zieht und dabei auch Zirkusunterricht anbietet. Die Ausbildung ist ein weiterer Schwerpunkt des Zirkusjahres. Es wurden «mehr als 350» mehr oder weniger (meist weniger) etablierte Zirkusschulen identifiziert. 360 sind es aber mindestens, denn an anderer Stelle wird von 600 Lernangeboten gesprochen. Zeichen eines ungeheuerlichen Booms. Der Zirkus hat, dank des neuen Stils von Archaos bis Plume in wenigen Jahren sein Publikum um zwei Millionen Personen erweitert (die oft genug kritiklos Beifall gröhlen). Noch nicht überzeugt vom Boom? Also bitte, selbst auf Disneyland gibt es Mickey im Zirkus-Spektakel (das Barometer schlechthin, oder?).  Zurück zum Seriösen: Nach guten Erfahrungen mit Tanzateliers in den Schulen, soll dort nun auch Zirkus angeboten werden. So entdeckt man vielleicht Talente. Und die Ecole nationale des arts du cirque in Chatellerault wird den Begabtesten ein Abiturzeugnis mit Fachrichtung Zirkus ausstellen dürfen. Dazu wird die Zirkusakademie von Annie Fratellini ein neu erbautes Zuhause bekommen. Das Geld wird mit der Giesskanne ausgeteilt und selbst die Bausubstanz bekommt ihren Teil. Es gibt in Frankreich noch sieben feste Winterzelte, alle Baudenkmäler, die, wo notwendig, renoviert werden. Zum Beispiel in Chalon oder in Amiens. Eventuell auch der Cirque d'Hiver in Paris, der bekannteste der festen Zirkusbauten.  

    In elf regionalen «Polen» de sich auf ganz Frankreich verteilen, soll Zirkus gezeigt und gelehrt werden. In Cherbourg und Nexon werden sie völlig neu ins Leben gerufen, anderswo bauen sie auf bestehenden Strukturen auf. Meist sind das traditionelle Theater, es kann aber auch die Ansiedelung einer Kompanie wie Les Nouveaux nez sein, die dann ein festes Gebäude erhält und wiederum Proben, entwickeln und ausbilden kann.

    Doch Geld ist nicht alles. Moralisch wird aufgerüstet indem interessierte Städte eine Charta unterzeichnen, in der sie sich verpflichten, Zirkuskompanien würdige Aufenthaltsbedingungen für dauerhaftes Arbeiten anzubieten. So sollen auch die Letzten davon überzeugt werden, dass Artisten keine finsteren Gesellen sind.

    Künstlerisch interessant: das nächste Abschluss-Stück des Centre national des art du cirque (CNAC) in Chalon sur Marne wird von José MontalvoCité de la musique choreografiert. In ein paar Jahren werden wohl alle angesagten Choreografen es einmal mit dem Zirkus versucht haben.  Die engagiert sich in einer Koproduktion mit dem Cirque Plume. Eine gute Nachricht, denn die Musik war der Schwachpunkt der letzten Kreation der Truppe.

     

    Aus dem Veranstaltungskalender:

    14-16. 9. 2001, La Ferme du Buisson in Marne-la-Vallée bei Paris: Zirkuswochenende unter künstlerischer Leitung der Arts Sauts

    15 u. 16.12.2001, Parc de la Villette, Paris: Ein Wochenende auf dem sich der Nachwuchs präsentiert

    Frühjahr 2002 in Niort: Le grand conseil mondial des clowns

    Etwa zehn Projekte sollen in historischen Stätten aufgeführt werden

    Frühjahr 2002 in La Villette, Paris: Uraufführung einer internationalen Koproduktion, inszeniert von Carles Santos

     

    An der Durchführung ist auch der Organismus Hors les murs beteiligt, der u. a. ein Dokumentationszentrum über Zirkus und Strassentheater unterhält. Auf dessen Homepage (www.horslesmurs.com) werden die Termine immer up to date gehalten

    Und nun zu vier neuen, rundum gelungenen Stücken: Gosh halten immer noch die Deutsch-französische Verbindung am Leben, doch inzwischen gibt es Gosh-Sud und die arbeiten nicht mehr in Berlin. Sie sind lateinamerikanisch angehaucht. Ihr «Pelahueso» wird als Zirkus-Kabarett angekündigt und das ist eher untertrieben. Alle Artisten servieren dem Publkum, das an Tischen sitzt, die Getränke – in künstlerisch-grotesken Gangarten – wie selbstverständlich zwischen ihren eigenen Akrobatik-Einlagen. Die finden oft in den Gängen statt, in Greifweite der Zuschauer. Dazu viel Humor, grandiose Technik, Live-Musik mit Klasse, viel Parodie – so originell war bisher keine andere Truppe und auch Gosh selbst nicht. Pelahueso ist auch ein Stück über das Recht, anders zu sein. Aber bitte doch, und welch ein grandioser Abend!

    Gopf (wie Gosh ein Ausruf) aus der Schweiz haben viel bei Josef Nadj gelernt, gehen aber einen sehr modernen Weg mit Live-DJ an den Plattentellern. Ansonsten Slapstick, ein Labyrinth aus nur zwei mobilen Wänden mit vielen Türen und Klappen. Da ist viel Stummfilm, film noir, contact dance und surrealistisches Theater im Spiel. Gopf ist gleichzeitig der Titel der Aufführung, die vom Gefangensein erzählt und die Figuren so herrlich absurd aus der körpereigenen Achse kippt wie, eben, Josef Nadj. Gopf ist ebenfalls eine Kreation die einen von Anfang bis Ende in Atem hält. Mehr über Gopf auf www.mzdp.ch

    Nicht frontal wie Gopf sondern bi-frontal spielen Les oiseaux fous, die verückten Vögel also. Ihre Stärke ist die ganz natürlch erscheinende Vermischung von Tanz und Zirkus. Dazu die Fähigkeit auch beim Seiltanz noch eine burleske Figur darzustellen und vor allem die elegante Sparsamkeit der Bühnenaustattung. Manchmal ist es wie in der Voliere Dromesko, nur sind die Vögel Menschen. Oder Affen. Das Stück heisst «Brumes» (Nebel) und evoziert Bilder aus der Natur, ob im Dschungel oder in nördlichen Gefilden. Doch lassen sie dem Zuschauer alle Freiheit, seine eigenen Bilder und Gechichten zu konstruieren. Auch hier wird die Musik live gespielt und die Musiker sind auch Figuren in den möglichen Geschichten. Allein die Soli zwischen Tanz, Akrobatik und Mime, die fast ängstlichen Dialoge der Körper verzaubern einem eine ganze Woche.

    Und Pocheros melden sich ebenfalls mit einem neuen Stück, «La maison autre» (Das andersartige Haus). So kommen Pocheros von der Strasse ins Zelt. Und wie! Wie bei Gopf geht es um die Poesie des Absurden. Doch Pocheros spielen in einer richtigen Manege, die für sie ein Meer aus Sand mit einer Insel in der Mitte wird. Ein Ambiente à la 1900, Charles Dickens oder Victor Hugo. Mehr als Andere erzählen sie eine Geschichte. Aber fantastisch-surrealistisch sind sie nicht weniger. Mit grossartigen Szenen wie einer unvergesslichen Kletterpartie zwischen Kaffeehauskunde und Kellnerin, mit zwei Stühlen und der Kaffeetasse. Wäre Karl Valentin Akrobat gewesen, hätten wir das natürlich schon gesehen. Aber so…

    Redaktion: Thomas Hahn

     

    2001-09-15 | Nr. 32 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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