Berlin - Am Ende dieses Freitagabends wird der Macho aus dem Eckbüro die Sensible vom dritten Stock zum Heulen gebracht haben. Die halbe Belegschaft wird mit Tripper angesteckt sein, die hysterische Mutter das Intimleben ihrer verklemmten Tochter aufgemischt haben. Ein Flur im Roten Rathaus wird vom Putzmann blank gewienert und der Aschenbecher von den Bürohexen voll gequalmt sein.
Am Ende wird sich eine Liebe erfüllt, ein Termin für den Flughafen gefunden, ein Stück Schauspielkunst vollendet haben. Ein Querschnitt der Berliner Bürobevölkerung wird aufgetreten sein...
... in Szene gesetzt von der vierköpfigen Truppe ImproBerlin. „Helden der Arbeit“ heißt ihr aktuelles Programm, jeden zweiten Freitag im Monat werden sie im Bühnenrausch, dem Improvisationstheater in Prenzlauer Berg, zum Leben erweckt.
Am Anfang, zwei Stunden vor einem berührenden Finale, ist da nur diese leere Bühne in Prenzlauer Berg, schwarz ausgeschlagen und kaum größer als ein Wohnzimmer. Zwei Bänke, zwei Stühle, am Rand ein Platz für den Musiker. Dazwischen viel Raum für Dörthe Engelhardt, Karin Mietke, Barbara Demmer und S. Kjel Fiedler von ImproBerlin. Seit etwa zehn Jahren treten die vier Berliner in verschiedenster Besetzung miteinander auf. Sie haben sich dem Theater ohne Drehbuch verschrieben, ihre Stücke entstehen aus dem Bauch heraus und sind allein dem Moment verpflichtet.
Ganz in schwarz kommen sie nach einem funkig-gutgelaunten Solo ihres Gitarristen Gunnar Seitz auf die Bühne und stellen sich ebenso gut gelaunt vor. Viel müsse sie nicht erklären, sagt Barbara Demmer, alles sei improvisiert. „Nur hier und nie wieder“ werde das Publikum dieses Stück zu sehen bekommen, verspricht die Frau mit der brünetten Mähne. Niemand weiß, wie sich das Stück entwickeln wird, dessen Pointen oft besser sitzen als bei Comedy mit Script.
ImproBerlin kommt ohne Textgeländer aus. Am Anfang ist weder das Personal bekannt noch der Schauplatz der Handlung. Über den darf der Zuschauer entscheiden. Aus drei Vorschlägen wählen die vier ihren Favoriten. Dass die abgelehnten Ideen später dennoch wie Kaninchen aus dem Hut gezaubert werden, sorgt für zusätzliche Lacher und verstärkt das Band zwischen Bühne und Publikum.
Die vier sind Vollblutschauspieler und verlassen sich ganz auf ihr improvisatorisches Geschick. Sie sind schlagfertig, hellwach und wandlungsfähig. Das macht schon der Einstieg in den Schauplatz des Abends, das Rote Rathaus, deutlich. Zuerst wird die Kulisse eines Behördenflurs skizziert. Bänke da, Wegweiser dort und Ölfarbe bis in Schulterhöhe. Hier sitzt Frau S. und heult, hier hört sich Hausmeister K. ihre Geschichte an. Später machen zwei Stühle ein Büro, das sich der ebenso infantile wie verklemmte Herr M. mit der stocksteifen Frau L. teilt.
Mit wenigen Gesten sind die Figuren skizziert. Hier ein spreizbeiniges Fläzen, dort ein affektierter Zug an der Zigarette, da ein lasziver Augenaufschlag – mit traumwandlerischer Sicherheit eignen sich die Darsteller ihre Rollen an. Aus dem Nichts erspielen sie sich ihre Pointen, jede zweite Szene endet mit einem Gag. Mit verblüffender Leichtigkeit spielen sich die vier in wechselnden Konstellationen die Bälle zu, sind mal zimperlich und mal resolut.
Szene für Szene treten die Charaktere deutlicher hervor, bis sich ein Panoptikum genervter Büroangestellter entfaltet. Die Typen und ihre Macken sind hautnah aus dem Leben gegriffen und dem Publikum nur zu gut bekannt. Es sind weder Witzfiguren, die ImproBerlin hier auftreten lässt, noch sind es Abziehbilder der Realität. Die Figuren haben Gesicht und Geschichte, ihre mal peinlichen, mal rührenden Marotten sind der Wirklichkeit entlehnt.
Nach wenigen Drei- bis Fünf-Minuten-Szenen ist das Personal komplett und die Handlung angelegt. Doch bei der einen bleibt es nicht. ImproBerlin hat sich der Langform des Stegreiftheaters verschrieben, die Stücke sind anderthalb bis zwei Stunden lang. Nebenschauplätze werden aufgemacht, Seitenstränge gesponnen. Mit dem Gespür für das richtige Timing überblickt ImproBerlin das parallele Geschehen und schickt das Publikum vom Büro ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in den Warteflur, vom Warteflur in die Wohnung von Frau L., wo alles in einer überraschenden Wendung kulminiert.
Am Ende sind alle losen Fäden versponnen, die Szenen zu einem Gesamtbild gefügt. In der finalen Auflösung tritt dem Sinn für Situationskomik ein Händchen für den dramatischen Höhepunkt zur Seite. Weil sie ihr Handwerk exzellent beherrschen, erspielen sich Dörthe Engelhardt, Karin Mietke, Barbara Demmer und S. Kjel Fiedler jene magischen Momente, in denen der Funke des Erkennens ins Publikum springt und es entzündet und berührt.
Ihre Gäste verabschiedet ImproBerlin plaudernd an der Tür. An diesem Abend im Januar ist ihnen ein weiterer Eintrag in die „Enzyklopädie des Lebens“ gelungen. So beschreibt Karin Mietke, was mit „Helden der Arbeit“ gezeigt werden soll – Menschen im täglichen Stellungskrieg ihrer Beziehungen, aufs Wesentliche fokussiert. Ihre Macken und Illusionen, ins Absurde überhöht. Ihre Neurosen, ins anrührend Komische gewendet. Mit ImproBerlin wird die Bühne zu einem Spiegel des Lebens – das immer dann am aufregendsten ist, wenn improvisiert werden muss.
Von: Marco Schreiber
2013-04-22 | Nr. 79 |