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    Mit Regisseuren und Choreografen

    Wieder einmal sind große Namen des nouveau cirque mit neuen Stücken auf dem Markt. Archaos, Les Arts Sauts, Cahin Caha. Und was versuchen sie nicht alles, um sich zu erneuern: Lassen sich von den Metamorphosen des Ovid oder von Grimms Märchen inspirieren. Bauen bombastische Gerüste unter einer Mondkuppel, erklettern instabile Wände, philosophisch verbrämt. Sie holen Star-Regisseure und -Choreografen aus Italien, Portugal, New York, Brüssel ... Ob sie mit einem bisher erfolgreichen Stil völlig brechen, ihn verwässern oder beibehalten, man sieht im Ergebnis sofort, ob eine Truppe wahre Recherche betreibt oder sich einfach auf große Namen als Publikumsmagneten verlässt.

    So fehlt Archaos in „Margo“ nicht nur Raffinesse, sondern erstaunlicherweise auch Energie. Seit langem kreiert die Truppe für frontale Bühnen. Denkt man zurück an ihre revolutionären Paukenschläge im Zelt, mit PS-Power von LKWs und Motorrädern, wird man ganz nostalgisch. Mit „Margo“ versuchen sie es auf die sanfte Tour. „Radikal anders, man wird sich damit abfinden müssen“, heißt es in der Ankündigung. Nein, niemals! Archaos versuchen, subtile Figuren zu erfinden, doch ihr schauspielerisches Talent erweist sich als kläglich. Die versprochene Choreografie findet nicht statt. Es bleibt bei plakativen Neurosen und Depressionen und metaphorischer Einsamkeit. Die moderne Gesellschaft als zu erkletternde Steilwand. Das Philosophieren und der Versuch, intime Atmosphäre zu schaffen treiben Regisseur Guy Carrara in ein müdes schwarz-weiß-Melodram. Dass die hochkarätigen Akrobaten und Tänzer körperlich ausgebremst und meist aufs Bodenturnen reduziert werden, ist umso unverständlicher als die Truppe sechs Monate proben konnte. So steil sich die Metallwand auch neigt, es findet doch nur eine laue Kletterpartie statt. Carrara glaubt, für das Verschmelzen von Zirkus und Tanz kämpfen zu müssen. Doch Archaos verliert diesen längst gewonnenen K(r)ampf vor allem gegen sich selbst.

     

    Schwerkraft, leicht gemacht

    Wie kreativ man den Reibungsfaktor einer schiefen Ebene erforschen kann, zeigt die Compagnie 111 mit Phil Soltanoff, einem weniger bekannten Off-Broadway-Regisseur aus New York. Ihr „Plan B“ ist eine der Sensationen der Saison, die es bis zum London International Mime Festival schaffte. Aus gutem Grund, denn die vier Akrobaten-Tänzer-Jongleure betreten tatsächlich Neuland. Ihre Schrägwand stellen sie zunächst auf 45°. Sie schmiegen sich an sie und werfen sich in kinetische Freiräume, an die wir nicht einmal im Traum gedacht hätten. Wie auch immer das funktionieren mag, sie gleiten an der Schräge und drehen Salti wie in der Schwerelosigkeit. Ganz ohne Raumflug oder Simulator. Sie können sich auch „einfach“ hinstellen oder -setzen. Je nach Position empfinden wir dann die 45° als Senk- oder Waagerechte. Subtiles Spiel der Illusion. An der Grenze zwischen Fallen, Gleiten und Springen rühren sie direkt am Unterbewusstsein. Es entsteht der Eindruck, Schwerelosigkeit direkt vor sich zu sehen! Doch „Plan B“ ist keine simple Demonstration einer Gleittechnik. Die Flugbahnen verzwirbeln sich in einer komplexen Choreografie. Vier Akteure, vier Aufzüge. Im zweiten Teil wird jongliert, auf und unter der Wand. Im dritten Akt steht die Wand senkrecht. Voller Energie klettert das Quartett, mal horizontal, mal vertikal. Nach so viel Kraftaufwand (der leider zu sichtbar bleibt) liegen sie schließlich am Boden – und schweben erneut! Der Astronauteneffekt gelingt ihnen sogar in der Horizontalen. Dazu lassen sie sich filmen und den Film an die Rückwand projizieren, eingeblendet in den Sternenhimmel, wo sie geschickt den Meteoriten ausweichen (weiße Bälle, die über den Boden rollen). Ein „Plan B“ wie ein Masterplan.

    In Brüssel arbeitet die Choreografin Fatou Traoré, die dem Collectif AOC die Inszenierung von „La Syncope du 7“ bescherte. Hier stehen Tanz, Trapez und Trampolin im Mittelpunkt. Tempo, Energie, Effekte und Humor. Fantasy-Kultur, Mangas du Dub-Mix. Schwerelosigkeit auch hier, und zwar am Trampolin, wo Männer Jonglierkeulen gleich durch die Luft fliegen. Ein munteres Patchwork ist diese Synkope.

    Kleiner im Format, aber springend auf den Punkt gebracht, ist das Solo „Fenêtres“ (Fenster) von Marthurin Bolze. Der begnadete Trampolinakrobat machte in Kreationen des Choreografen François Verret Furore. Sein besonderes Talent liegt in der Flug- oder mehr noch in der Landetechnik. Egal ob er horizontal oder vertikal durch den Raum fliegt, stets findet er sich auf einem Stuhl sitzend wieder, oder er landet horizontal auf einer Bank. Elegant trickst er dabei die Schwerkraft aus, scheint Zeit und Raum für einen Augenblick ins Unendliche zu dehnen. Steigt er senkrecht in die Luft, gießt er sich beim Auf und Ab einen Drink ein. „Fenêtres“ heißt so, weil Bolze sich nicht mit einer Flugshow begnügt. Bei Josef Nadj und Verret lernte er, aus Artistik, Bühnenbild und absurdem Humor fragmentarische Geschichten zu kreieren. Konkret gesprochen springt er zwischen den vier Wänden seiner Laube, und die hat viele Fenster, darunter einige in andere Dimensionen. Stummfilm zum Beispiel. Seine Figur im Präsens heißt Bachir, ein arbeitsloser Einwanderersohn. Natürlich spielt er diesen nicht als Tränendrücker, sondern als absurden Helden, der sich mit Mönchen, Betrunkenen und Packpapier beharkt. Bolze gehört zu den Wenigen, die eine Kunstform, hier den Trampolinsprung, bis in ihre letzten Geheimnisse verfolgen. Für „Fenêtres“, sein erstes eigenes Werk, ging er soweit, sich in die choreografische Recherche in der Schwerelosigkeit von Kitsou Dubois einzuklinken. Bolze gehört derzeit absolut zu den profiliertesten Artisten.

    Die Trapezvirtuosen Les Arts Sauts hingegen überwinden die Schwerkraft mit reiner Muskelkraft, hängen oft mit den Füßen in ihren Aluträgern, und werfen ihre Kameraden von Hand zu Hand. Die Zuschauer sitzen im Kreis, in Liegestühlen. „Ola Kala“, das neue Stück der Bizepsmonstertruppe, könnte also den (Welt-)Erfolg der Rezeptur von „Kayassine“ wiederholen. Wäre da nicht das Gefühl, dass die gigantische aufblasbare Kuppel, die wohl über eintausend Zuschauern Platz bietet, so etwas wie eine Spekulationsblase ist. A priori nicht, weil zur Premiere der Fluss der Aufführung noch durch etliche Fangfehler gebremst wurde, denn das kann sich schnell einrenken. Sondern viel mehr aufgrund einer enttäuschend konventionellen, linearen Auffassung von Luftraumkontrolle. Wenn ständig ein Sprung auf den anderen folgt, dann fragt man sich am Ende eben doch, ob das regelmäßige Abtauchen ins Fangnetz die Spannung womöglich künstlich erhöhen soll. Nur im ersten Bild stellt sich auch choreografische Ekstase ein, wenn in den vier Ovalen die Flieger und Fänger in ihren Koboldkostümen zum Wirbel ansetzen. An der Längsachse von „Kayassine“ war die Truppe einfach kreativer als im Kreis von „Ola Kala“, der die Variationsmöglichkeiten doch eher vervielfältigen sollte. Und das trotz der Hilfe des profilierten portugiesischen Choreografen Rui Horta. Führt man sich die gigantische Investition in Kuppel, Gerüst und Flugpersonal vor Augen, kann einem noch einmal schwindlig werden. Hoffentlich wird „Ola Kala“ keine Bruchlandung, es war ja erst die Premiere ...

     

    Metamorphosen

    Die Kompanie Agate & Antoine / Les Colporteurs sicherte sich die Dienste des italienischen Regisseurs Giorgio Barberio Corsetti, dessen Theaterinszenierungen bis ins Festival d’Avignon triumphieren. Nicht ohne Grund, denn ihr ehrgeiziges Projekt ist eine Bearbeitung der Metamorphosen des Ovid. So versucht der Zirkus, sich aus den Urmythen unserer Kultur zu nähren, genau wie Cahin Caha aus Grimms Märchen schöpft. Das Grundproblem an Konzeptionen wie „Le Metamorfosi“, aber auch „LeCirqule“, des aktuellen Abschlussstücks des Centre national des arts du cirque in Chalon en Champagne (Regie: Ronald Shön) ist, dass der Austausch mit dem Publikum verloren geht. Wieder scheitern zwei Theaterregisseure im Zirkus. Immer kälter, immer introvertierter werden die Inszenierungen. Letztendlich hat man in „Le Metamorfosi“ weder das intellektuelle Vergnügen des Theaters, noch das unmittelbare, emotionale des Zirkus. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Metamorphose? Muss Wandel zur Unkenntlichkeit führen? Muss er nicht! Auch Cahin Caha produzieren in „Grimm“ ständig Metamorphosen und haben ihren dadaistischen Stil aus „ChiencrU“ gegen eine humoristische Gruselatmosphäre eingetauscht. Die sehr internationale, europäisch-amerikanische Truppe, geführt von dem Amerikaner Gulko, explodiert geradezu vor Kreativität. Versucht nicht etwa, eine Geschichte zu erzählen oder Grimms Figuren zu konkretisieren, sondern taucht in die Märchenwelt wie in einen Traum ein. Scheinbar chaotisch, mit immer neuen Szenerien und Atmosphären, spielen sie eine Allegorie auf das Erwachsenwerden. Gulko ist ein Vollblüter des Zirkus. Er weiß, dass hier der Körper im Mittelpunkt steht und überrascht im Prolog mit einem Kabarett, in dem das Publikum zwischen Raben-, Frosch- und anderen Prinzessinnen von Beginn an mit Haut und Haar in eine Fantasiewelt taucht. In dem wunderschönen, rot-blauen Zelt mit warmen Holzmasten werfen sich Frauen in Tonscherbenhaufen, kriecht ein König am Boden und schleppt ein leeres Kinderbett, schweben Prinzessinnen an knorrigen Ästen, verwandelt Signalband den Luftraum in einen Wald. Soviel Vitalität erinnert stark an Straßentheater, aber auch an die Stücke von Footsbarn. Immer wieder suchen die Akteure den Kontakt zum Publikum und selten sieht man so viele Effekte ohne Hightech. Ein paar kurze Monologe führen in die Welt der Erwachsenen, stellen die Begriffe von Gut und Böse in Frage. „Grimm“ ist fast schon der ideale Zirkus, der das Mittelalter mit unserer Zeit verbindet, und sogar die von den Artisten live gespielte Musik steckt voller Überraschungen und Finesse. Ein totales Vergnügen im runden Zelt, noch existiert es!

    Redaktion: Thomas Hahn


    2004-06-15 | Nr. 43 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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