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    Mimos 2000 : Träume auf Stelzen

    Peter Bu verlegte in diesem Jahr einen größeren Teil seines « Mimos – Festival international du mime actuel » in die Straße. So wollten es die lokalen Geldgeber und das Ergebnis konnte sich sehen und zum Teil auch betasten lassen. Es gab wunderbare Gelegenheiten für das Publikum, mit Kompanien zu improvisieren.

    Spaß beim Spiel mit Klein und Dick

    Zum Beispiel mit den Padox, einem Typus der Marionette, der von einem Schauspieler bewohnt wird. Ein Padox ist daher lebensgroß und unnatürlich korpulent. Der Köpf ist kahl, die runzelige Oberfläche erinnert an Walnüsse oder Hirnmasse. Androgyn mit männlicher Tendenz zum gutmütigen Greis, erregen sie beim Publikum natürliche Lust, mit ihnen zu spielen wie mit lebendigen Plüschtieren. Manchmal sind sie überraschend in einem Stadtviertel  präsent, einfach so, und wirken wie soziale Elektroden bei deren Berührung sich Gewaltpotential in Luft auflöst. Die Padox sind der Sprache nicht mächtig, doch ihre Hüter und Hirten, Jeanne Heuclin und Dominique Houdart, schreiben ihnen sogar Bühnenstücke und richtige Rollen. Bei de erefinding der Padox stand nicht das Kinderzimmer Pate sondern der Philosof Alain Roussel und Überlegungen zum Umgang der Menschen miteinander. Auf Mimos lernten auch einige Einwohner, sich in den Kostümen zu bewegen (und zu schwitzen) und improvisierten spielerisch, und unerkannt, mit ihren Mitbürgern.

    Viel Humor produziert auch La Compagnie du Petit monsieur mit einem Solo in der Telefonzelle. « En dérangement » (Störung) heißt die unglaublich artistische Nummer um ein verhindertes Telefonat. Der Herr im Anzug und mit Aktenkoffer schafft es tatsächlich, mit diesem Szenario das so alt ist wie die Telefonzelle selbst, auch das ausgebuffteste Straßentheaterpublikum zu verblüffen. Er (Ivan Chary) zieht alle Register des Slapstick bis auch dem Zuschauer vor Lachen die Hose runterfällt. Und hat immer noch eine Idee in Reserve, wenn Zuschauer (Kinder vor!) dem Reiz nachgeben und mit ihm improvisieren.

    Auf Stelzen, ungestelzt

    Mimos 2000 las sich außerdem wie eine Auslese der besten Stelzen-Acts die sich in Frankreich finden lassen. Da sind die zwei Stücke der Kompanie L’arrache-pied. Zum einen die grün bemalten Körper fast vegetaler Wesen mit horrend langen Fingernägeln, die sich schüchtern die Mauern entlang drücken. Diese Wesen sind uns fremd und vertraut zugleich und wie gerne würde man sie ganz allein entdecken und ihr Verhalten erforschen anstatt mit hundert anderen auf ihr erscheinen zu warten. « Homotypie » hat sich in den letzten Jahren mimisch bereichert so daß Peter Bu sie nun für würdig befand, an Mimos teilzunehmen. Mit recht. In « Anthracite » gibt sich dieselbe Kompanie, ganz elisabethanisch und in schwarz gekleidet, auf die finstere Art, und erschreckt ihr Publikum mit einer frei nach Shakespeare klingenden Fantasiesprache die sich aus Englisch, Italienisch, Französisch und Deutsch zusammensetzt. Lieblingswort : « Rrrraaasstatrrrrassshhhh ! » Dabei erzählen sie eine Geschichte die weder mit Rasta noch mit Trash zu tun hat sondern mit vergangenen Jahrhunderten und dem Kampf des vitalen gegen das lethale.

    Poetisch, anmutig, elegant, fast schwebend auf ihren Holztretern, so stelzt, nein, so steht  Skakkja, ein Duo das uns zu verkünden scheint daß wir aus unserem Leben doch noch eine ruhigen langen Fluß machen könnten. Gekleidet wie Krieger die sich in Elfen verwandelt haben, kommen sie ganz ohne hektisches laufen aus und verzichten auf Drohgebärden. Stumm sind sie, aber zärtlich choreografiert. Fast scheinen sie in « Ephimere » transparent zu werden. Skakkja führen in eine Märchenwelt, nicht in Albträume. Genau wie die Compagnie d’ailleurs (Frankreich/Uruguay), die allerdings ihren Traum mit szenischen Elementen und Accessoirs anreichert und sich, die Stelzen unter langen, verblichenen Röcken verbergend, -wie elegant ! – als ferne Verwandte der Skulpturen Giacomettis präsentieren. So gesehen nicht auf Mimos sondern auf dem Festival Viva Cité in Sotteville, einem Vorort von Rouen. Drei Figuren ziehen einen alten, rostigen Wagen der eine Art Chemielabor enthält. Viel Draht , Leder, ein Hörrrohr und Weihrauch. In ihren Masken kreuzen sich Venedig und Pierrot. Was wie ein Märchen in Pastell anmutet, mag eher ein Akt alchimistischer Prokreation sein, in Wanderromantik zwischen Himmel und Hölle. Die Liebe zum Detail und die Sorgfalt mit der die Figuren einander begegnen zeichnet die gesamte Produktion « Souvenirs d’ailleurs » aus.

    Dem Traum sehr verbunden ist auch das Gemeinschaftswerk der Kompanien Quidams und Inko’nito. In « Le reve d’Herbert » ist alles weiß, gespielt wird nachts. Doch Herbert möchte nicht heiraten, sein Traum ist surrealistisch. So ziehen sie auf ihren Stelzen, orientalisch eingehüllt in seidenen Gardinen (wie wir zu sehen glauben), ihre weiß geschminkten Gesichter schon über unseren Köpfen tragend, zum Platz ihres Traumes. Und die Metamorphose findet tatsächlich statt. Langsam entstehen drei Meter hohe Körper, dick aufgeblasen mit kugelrunden Köpfen. Plumpe Riesen, die in ihrer Leichtigkeit und Stille nach den Sternen greifen. Ihr astraler Kreis erinnert auch an eine Kette von Atomen und stellt die größtmögliche Reduzierung von Ballett dar. Die Form an sich ist schon ein Tanz, ohne sich zu bewegen. Diese Figuren zeigen nicht nur Straßentheater, sie sind lebende Plastiken. 

    Den Träumen auf Mimos stand dann doch noch ein Albtraum gegenüber, ebenfalls nachts ausgetragen. Die Engländer von Neighbourhood Watch Stilts International zündeten ihre Böller, trommelten und blendeten mit pyrotechnischem Licht. Doch außer einem Trott durch die Straßen in ihren futuristischen Aluminium-Gewändern hatten sie nichts zündendes zu bieten. Bei diesem Rohrkrepierer sprang der Funke der Phanatasie nicht über.

    Warum Mimos 2000 so viele koreanische Zuschauer anzog, wer aus Rußland oder Brasilien teilnahm, wer den Preis gewann und wer die gewitzteste Körperkunst auf der Bühne zu bieten hatte, darüber Ausführliches im nächsten Trottoir.

     

    Redaktion: Thomas Hahn

    2000-12-15 | Nr. 29 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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