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    Grenzenlos kreativ

    Dass auch in der Musikszene nicht nur das Können zählt, dürfte euch bekannt sein. Zunehmend geht es bei Gigs einfach auch darum, auf der Bühne präsent zu sein und Darbietung in Entertainment zu transformieren. Das Publikum will nach wie vor unterhalten sein, während der Kritiker seinen Blick für Klasse und Publikumsnähe gleichermaßen schärft. Klasse und Unterhaltung  können auf einen Nenner gebracht werden. Das zeigen die folgenden Beispiele :

    „Das ist doch die, die immer mit dem schwarzen Hut auftritt, die von „Colalaila". Jawoll, das ist sie, die mit der Klarinette: Irith Gabriely, die „Queen of Klezmer". Kirche trifft Synagoge, Klassik trifft Folk, Jazz trifft Klezmer und Klarinette trifft Orgel. Und der an der Orgel ist Hans – Joachim Dumeier, ist der, der den Tasten das Tanzen beibringt. Das Publikum genießt das Konzert der beiden von vorne bis hinten, und macht so nebenher die Erfahrung, dass die ernste Muße unsteif und chassidisch mit Freude den Himmel der Klänge öffnet. Ungewohnt ist nicht die Besetzung mit Klarinette und Orgel. Ungewöhnlich ist eher das, was in und mit der Musik passiert. Da bekommt der Friedensevergreen „Friede und Shalom" plötzlich Farbe, Bachs „Präludium in c-Moll" mutiert bei allem Respekt vor der notierten Vorlage zur Ode an den Klezmer. Fabelhaft koloriert Irith Gabriely die Melodik des großen Meisters und verleiht ihm Lebensfreude. Schönbergers bekannte drei „Trias" meditiert das Duo, demonstriert die Offenheit des Klangs als Verbundenheit zwischen jüdischer Tradition und christlicher Moderne. Dann aber klarinettiert die Gabriely durch das Publikum und klärt darüber auf, das jüdische Gebete viel Gefühl haben – und vor allem auch fröhlich sein können. Das Auditorium lässt sich darauf ein, schnippt mit, während im „Sheybonne" der „Suite of Synagogue" der musikalische Freudentaumel richtig losgeht. Und es schunkelt –streng chassidisch vor und zurück – beim „El Adon".

    Dumeier fügt sein Orgelsolo harmonisch in diesen absolut genialen Konzertablauf ein. Ellingtons „In a sentimental mood" ist nicht nur großartig interpretiert, sondern hinterlässt den Eindruck, als wäre das Stück sowieso für Kirchenorgel gedacht gewesen. Virtuos interpretieren Gabriely und Dumeier das Lebensgefühl der „Three pieces of chassidic life" von Bloch und enden anschließend beim furiosen „Rumanian Dance". Und bei der Zugabe singen alle mit: ein hebräisches Friedenslied – auf Hebräisch: Lai, Lai, Lai. Und die mit dem schwarzen Hut und der an der Orgel sind musikalisch grandios und absolut dialogfördernd.

    Vokalensembles haben seit den Comedian Harmonists Hochkonjunktur. A-capella-Gesang ist aber die Reinkultur des Chorischen. Und wenn dann gestandene Sänger über das Maß der Männergesangverein-Kultur hinaus musikalische Botschaften vermitteln wollen, ist das mehr als lobenswert – und manchmal auch erfolgreich. Das Westerwälder Vokalensemble CHordon bleu , übrigens hochgelobt unter anderem von den „Wise Guys", besitzt die Gabe, Stück für Stück das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Und das „H" im Chordon zielt auf ihre Vereinsvergangenheit. In einer kongenialen Mischung aus Humor, gesanglicher Höchstleistung und ungeheurer Bühnenpräsenz lassen die 9 Sänger (manchmal auch 10) die Schellackzeit aufleben, bei der „in einer kleinen Konditorei" der Plattenspieler leierte und hängen blieb. Afrikanische Löwen brüllen beim „The lion sleeps tonight". Und Grönemeyers „Männer" wird durch die Stimmen von CHordon bleu zum tonalen „Frauen"-Slapstick: „Manche Frauen sind schwer, manche leicht." Das ist mehr als grandios, ist in der Tat ein neuer Weg, chorisch zu wirken, besonders dann, wenn „Sex Bomb" und selbst das Techno-Gedröhne bei den Westerwäldern  ihre gesangliche Heimat finden. Da sind die Grenzen nicht nur fließend. Es verstärkt sich auch der Eindruck, dass gesanglich selbst das machbar wird, was bislang Computern und Instrumenten vorbehalten blieb. Und wenn  die Jungs von Chordon bleu in ihrem aktuellen Programm sagen: „Komm und sei mein Pasagier", sollte man voll Reiselust sein. Bei denen ist etwas total Neues im Kommen, und da muss man einfach dabei sein.

    Auch Klassik hat mit Klasse zu tun. Und wenn Klassik neue Wege beschreitet, in denen Abstand genommen wird vom Klassik-Gehabe und zudem nicht die Klassik hofiert, sondern der Zuhörer in den Blick genommen wird, freut es mich. Eine überaus erfreuliche Formation beobachte ich seit ihrer Gründung vor etwa 3 Jahren mit besonderer Aufmerksamkeit und Freude. Gitarristik-Fans hängen die Erwartungen sehr hoch, wenn sie den Namen Hubert Käppel hören. Nicht ohne Grund. Käppel ist nicht nur ein wahnsinnig guter Gitarrist, sondern auch ein begnadeter Arrangeur mit dem guten Instinkt für das, was momentan ansteht, Mit dem Fenix International Guitar Quartet  präsentierte das IPS Koblenz Guitar Festival in diesem Jahr Gitarristen von Weltformat im Viererpack. Hubert Käppel, Luciano Marziali, Sotiris Malasiotis und Pirai Vaca spielen seit 3 Jahren zusammen und kombinieren dabei auf kongeniale Weise virtuose Highlights mit Entertainment. Völlig befreit vom Staub der übertriebenen Ernsthaftigkeit trifft Klassik frischverpackt auf die Ohren der begeisterten Zuhörer. Mit Tänzen von Praetorius tänzelt das Quartett auf die Bühne und entfaltet in der Transskription von Käppel die beeindruckende Dynamik des Brandenburgischen Konzertes Nr. 6 von Bach. Da ist Musik in Bewegung, da kann man die Zauberwelt der Klänge des Allegro non troppo ebenso neu entdecken wie den Latin-Groove, den Blues und Swing in George Gershwins Präludien.

    Leo Browers „Cuban Landscape with Rain" formt das Fenix –Quartet zu einem musikalischen Naturereignis und lässt darauf der orientalischen Impulsivität des „Oyun" von Carlo Domeniconi freien Lauf.

    Grenzenlos kreativ kreieren die vier Gitarristen auch einen bunten „Strauß Junior": Annen – Polka und Piccicato – Polka des österreichischen Komponisten werden zu Lehrstücken der Saiten-Kooperative.

    Das alles hat Leichtigkeit. Und es wirkt irgendwie befreiend auf die Zuhörer, wenn die Lockerheit der Interpreten eine Liaison mit Interpretationskunst eingeht. Nahtlos in das Programm fügt sich darum auch Käppels Bearbeitung eines Medleys mit Melodien der Comedian Harmonists ein. Veronikas trifft im Lenz den Freund, den guten Freund, der sogar von den Gitarristen  besungen wird. Und der stechende Kaktus treibt Blüten auf offener  Bühne.

    Bei dem Riesenapplaus nach dem Konzert gibt es kein Entkommen für das Fenix-Quartett. Drei Zugaben inklusive Tango und Säbeltanz erklatscht das Auditorium.    

    Saitenartistik scheint aber auch wirklich keine Grenzen zu haben. Umso mehr hat es mich gefreut, bei einer der genialsten Weltpremieren anwesend sein zu dürfen.

    Dem Bekanntheitsgrad des  Internationalen Pfingstseminar Koblenz ist es wohl zu verdanken, dass die Weltpremiere des World Guitar Ensemble in die Veranstaltungsreihe des 11. IPS eingebettet wurde. Das von Presse, Rundfunk und Fernsehen vielbeachtete Ereignis wurde zu einer einzigartigen Präsentation der musikalischen Vielschichtigkeit und Bandbreite der Gitarre über alle stilistischen Grenzen hinweg.

    Unter der Leitung  Helmut Oesterreich musizieren neun Künstler, deren Namen sich wie das „Who is who" der Gitarristik lesen. Zusammengenommen zeichnen mehr als 50 gewonnene internationale Wettbewerbspreise die Ensemblemitglieder aus. Hochrangig also die Besetzung – und erstklassig die Programmgestaltung und Aufführung. Mit ungeheurer Transparenz und absoluter Präzision im Zusammenspiel eröffnet das Ensemble neue Klangmöglichkeiten, macht Musik neu und anders erlebbar, zeigt feinste Schattierungen. Leo Browers  „Tres Danzas Concertantes" wird orchestraler Raum gegeben. In Terry Rileys „Y Bolanzero" für Klassische Gitarre, Steelguitar, E-Bass und Guitar-Hand – Percussion bekommen die orientalischen Elemente über dem ostinaten Bass klare Konturen. Ensemblemitglied Gyan Riley hat für die Premiere des World Guitar Ensemble „ Mobettabutta" komponiert. Die Welturaufführung dieser melodiösen Ballade quittiert das Publikum in den ausverkauften Reihen  mit tosendem Applaus.

    Und Pat Methenys „Phase Dance" bleibt beim World Guitar Ensemble eben nicht nur ein Ausflug in den Jazz: Mit special guest Frank Haunschild zusammen, in faszinierenden Dialogen zwischen Haunschild und Desiderio und mit einer Riesenportion Gefühl entwickeln die Musiker ein grandioses Klangspektrum und einen sagenhaften Groove.

    Das Neue am WGE ist nun aber nicht der Genre-Mix. Das eigentlich Neue ist, dass in dieser weltweit einmaligen Konstellation   künstlerisches Können und kreative Arrangements all das machbar erscheinen lassen, was vorher nicht machbar war. Klassik, Pop und Jazz gehen zusammen, Synthi-Loops und verzerrte Gitarren verstärken den Zauber der Klänge, die die Nylonsaiten hervorrufen. Und all das wird bejubelt vom Publikum: Rodrigos Klassik im romantischen „Concierto para un Gentilhombre" ebenso wie Peppinos d´Agostinos Arrangement von „Mediterean Spark", auch diese in einer Welturaufführung.

    Wie wunderbar Klassik und Jazz zusammenpassen, wird deutlich in Chick Coreas Standard „Spain". Aus dem Solo von Costas Cotsiolis  entwickelt das Ensemble mit Frank Haunschild eine dramatisch pulsierende Darbietung der Extraklasse.         

    Welturaufführung Nr.3: WGE und Klangkünstler Ferdinand Försch kombinieren Gitarrensound, Latinorhythmen und Rock. Das Ensemble mutiert zum Percussionsorchester.

    Was das Publikum an diesem Abend erlebt, ist der Auftakt einer Weltpremiere, ist das Neue bei allem Neuen. Einfach grandios!

    Bis demnäx.

    Euer Bernhard Wibben

    2003-09-15 | Nr. 40 | Weitere Artikel von: Bernhard Wibben





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