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    Asien im April: Und aus Europa Taranteln

    Beinahe vierzig Tonnen wiegen die beiden gigantischen Vogelspinnen der Kompanie La Machine aus Nantes. Im April behakten sich die Riesenroboter im Hafen von Yokohama, ihre gelblichen Leiber gesteuert von mehreren Piloten, die in schwindelnder Höhe auf den Spinnenkörpern sitzen und dabei wie winzige Flöhe aussehen. Japan mag zwar führend sein in Sachen Robotertechnologie, aber wenn es darum geht, aus mechanischen Wesen Kunst zu generieren, hat Europa noch immer ein Wörtchen mitzureden. François Delarozière, der directeur artistique von La Machine, erfindet immer neue faszinierende bis groteske Apparate und Ungeheuer, die auch schon im Pariser Grand Palais ausgestellt wurden. Aber diese Taranteln schießen nun wirklich den Vogel ab.

     Fool PoolDie Spinnenparade von Yokohama war Teil der Feiern zum 150. Jubiläum der Öffnung Japans für den Welthandel. Insofern wäre eine Parade japanischer Roboter ohnehin am Thema vorbei marschiert. „Spinnen ekeln zwar, aber sie spannen auch Fäden, die verbinden“, kommentierte Delarozière seine Kreaturen, die unter dem Titel „Les méchaniques savantes“ so manche Straße in Science-Fiction verwandeln. Deren Auftritt in Japan stand auch für die allgemeine Öffnung Asiens gegenüber modernem Zirkus und Straßenkunst.

    Da gibt Europas Einfluss sogar heimischer Tradition einen neuen Schub. Und das gilt für Korea sogar noch mehr als für Japan. Gerade Südkorea versucht verstärkt, über Kultur an Europas Trends teilzuhaben. Das Land sehnt sich nach mehr Beachtung. „Die Welt reißt sich um unsere TV-Geräte, aber wer wirft mal einen Blick auf uns?“, fragen sie. Es reicht ihnen nicht mehr, Telefone zu exportieren. Seoul sucht das Gespräch mit der Welt. Zeitgenössischer Tanz und Straßenkunst sollen dabei helfen. „Südkorea hat seit dem Krieg, der das Land teilte, dem amerikanischen Modell nachgeeifert. Heute will es sich mehr dem europäischen Modell zuwenden“, erläuterte vor kurzem Hwawon Lee, die Leiterin der Kompanie ASF in Seoul. Das war vor dem Ausbruch der aktuellen Wirtschaftskrise, die auch Korea stark zusetzt. Lee ist Uni-Professorin für französische Literatur und nennt ihre Kompanie Arts sans frontières. Von Grenzen haben sie wirklich die Nase voll in Seoul. Man kann es verstehen – die Hauptstadt liegt gerade 50 Kilometer südlich der Demarkationslinie mit Nordkorea. Lees Kompanie residiert wiederum in einem stark begrenzten Areal, das nur aus metallverarbeitenden Kleinbetrieben besteht. Der Dreck und die Gerüche von Schmieröl passen so gar nicht zu den blitzblanken Wolkenkratzern von Seoul. Deshalb wird diese handwerkliche Gewerbezone, Mullae geheißen, wohl in absehbarer Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Noch aber wimmelt es hier nicht nur von Schweißern, sondern auch von Künstlerateliers. ASF probt hier seine Straßentheaterstücke und organisiert Aufführungen. Auch Tanzkompanien veranstalten Festivals inmitten der Rohrstapel und Staubwolken. Maler, Bildhauer, Grafiker etc. werkeln und wohnen hier. Doch ASF zieht längst weitere Kreise. Lee ist Leiterin eines ganz jungen Straßentheaterfestivals, das mitten in Seoul stattfindet. VIA Festival nennt sie es, und die Perspektiven sind ausgezeichnet. In diesem zweiten Jahr war es noch von bescheidenen Ausmaßen, doch es schickt sich an, den Reigen der etablierten Festivals in Busan, Chuncheon und Gwacheon zu komplettieren. VIA Festival ist der künstlerische Teil eines bisher rein sozial orientierten „Festivals“, das jedes Jahr im April die Kirschblüte feiert. Doch die Möglichkeit, fünf Tage lang am Ufer des Han-Flusses unter 1.400 blühenden Bäumen zu wandeln, bietet Seoul seinen Bürgern auch erst seit fünf Jahren. So gesehen ist das VIA Festival Teil einer dynamischen Öffnung und wird begeistert angenommen. Über fünf Millionen Besucher (oder besser: Spaziergänger) verzeichnet das Kirschblütenfestival an fünf Tagen. Bisher kommt davon nur ein kleiner Teil in den Genuss der Mimen, Akrobaten oder Tänzer. Selbst im zweiten Jahr, und obwohl die Bezirksregierung das Budget verfünffachte, blieben Zeit und Geld knapp, um ein Programm auf die Beine zu stellen. Doch die Politiker waren mit dem Ergebnis zufrieden und werden den Etat für 2010 erneut multiplizieren, sodass die dritte Ausgabe bereits interessante Perspektiven für europäische Kompanien eröffnen kann.

    Den tief verwurzelten Wunsch nach Integration verkörpert das Projekt „Tarantella“, eine gemeinsame Kreation von ASF und der französischen Compagnie 9.81. Diese Zirkustruppe aus der Nähe von Toulouse spezialisiert sich auf Fassadentanz und ihr „Tarantella“ war der Hit des VIA Festivals. Die zwei Akrobatinnen und der Choreograf Eric Lecomte hängen an Seilen oder an Elastikbändern und tanzen in der Horizontale, auch wenn dieser Stil paradoxerweise danse verticale genannt wird. Die getanzten Figuren sind klar, poetisch und malerisch eindrucksvoll. Überraschende Projektionen, gesteuert von ASF, verleihen dem Ganzen einen Hauch von Gesamtkunstwerk. Da projizieren sie ganz einfach auf die weiße Rückwand, was sich in einem kleinen Wasserbecken abspielt, in dem sie Ölflecken umhertreiben lassen, Goldfische aussetzen oder farbige Strukturen frei fließen lassen. So wird jede Vorstellung grafisch einzigartig. Wenn das Akrobatentrio in der Horizontalen seine Spinnen- oder Radfiguren tanzt, während im Hintergrund die Schatten der Fische ihre Kreise ziehen, freut man sich darüber, dass Ideen und Poesie noch immer wichtiger sind als Hightech. „Tarantella“ wird noch in diesem Jahr in gemeinsamen Workshops in Frankreich weiterentwickelt. In die Dimensionen der Ungeheuer von Delarozière werden sie dabei natürlich nicht vorstoßen. Aber Platz für gewaltige Paraden hätte VIA durchaus auf den breiten, zum Festival für den Verkehr gesperrten Straßen unter den Kirschblüten, oder auf dem weiten Gelände vor dem Parlament, das nur zu dieser Gelegenheit für die Bevölkerung zugänglich ist.

    Bisher spielten auf dem Hangang (Han-Fluss) Yeouido (Name der Insel im Han, auf der das Festival stattfindet) Spring Flower Festival höchstens traditionelle Musikgruppen, wie man sie in Korea sowieso überall sehen kann. Die Bevölkerung kommt vor allem, um sich auf romantischen Fotos unter Kirschbüten zu verewigen und man spürt die Tiefe der Symbolik. Alle sozialen Schichten mischen sich und bilden daher ein ideales Publikum. Der Kommerz hat das Fest noch nicht im Griff. Die in Europa üblichen Heerscharen von Verkaufsständen bleiben aus, die wenigen Straßenrestaurants halten sich abseits der Menschenströme. Gut, dass hier die Kunst einziehen kann, bevor sich der Kommerz ausbreitet. Für VIA wurden in diesem Jahr schon zwei große Bühnen gestellt, die einige Tanzaufführungen boten, Fanfaren und Jonglage. Eine richtige Programmstruktur wird Lee aber erst 2010 herausbilden können, wenn sie zum ersten Mal ein volles Jahr zur Vorbereitung hat. 2009 blieb es oft bei gefälliger Unterhaltung, wie etwa mit „Mihwa’s Flower Shop“ der koreanischen Truppe des AHA Dance Theater. Das Publikum hatte reichlich Spaß an diesem farbenfrohen Jazzdance-Ensemble, das mitten auf der Straße auftrat. Dagegen suchten sie bei der eher obskuren Hip-Hop-Aufführung der Kompanie Vice Versa das Weite, weil in „L’Odela“ die Energie nicht wie erwartet zündete. Der Choreograf Luc Moka will eine Art Sage erzählen, aber dieses Stück würde indoor einfach besser ankommen. Dabei treten Vice Versa am liebsten outdoor auf und spielen auch Stücke, die sich dafür weit besser eignen (siehe Trottoir Nr. 48).

    Einen unmittelbaren Bezug fand das Publikum zu „The Kappa“, einer Performance des Japaners Oikado Ichiro, der mit Maskentanz die Geister der Natur beschwört. Die Koreaner fanden darin ihre Tradition des Schamanismus wieder. Ichiro bringt viel Energie auf den Asphalt. Bei allem Mysterium verliert er aber nie den Bezug zum Publikum und mischt viel Humor in seine Show, die mit Feuerschlucken endet. Besonders mutige Zuschauer dürfen es sogar selbst probieren.

    Eine eigene koreanische Szene entwickelt sich erst langsam, zwischen Tanz, Mime und visueller Körperkunst. Die Kompanien dürften aber rasch Fortschritte machen, im Sog von Pionieren wie ASF. Lees Kompanie brachte das Publikum per Bus in ihre Industriezone, in deren Gassen sie ein sehr emotionales, poetisches Drama der Arbeiterklasse spielten. Die Figuren träumen von besserem Leben, ob im Sport oder als Sängerin oder im Schoß der Familie. Auch der Soldat, ein metaphorischer Jäger, kommt zu Wort und repräsentiert jene, die auf Armut mit Aggressivität reagieren. Dann endet die einstündige, intensive Aufführung mit einer Szene im Bus, der das Publikum zurück ins Zentrum bringt. „The Story told under the Streetlight“ zeigt, dass Lee es bestens beherrscht, für eine Kreation den richtigen urbanen Rahmen zu finden, bzw. umgekehrt. Lee ist seit Langem auf Europas Festivals der Straßenkunst unterwegs und wird ihr VIA Festival zu einem interessanten Treffpunkt und einer neuen Brücke zwischen Asien und Europa ausbauen. Was daran wirklich außergewöhnlich ist? Nicht nur das strahlende Wetter, sondern vor allem, dass hier Straßenkunst im Herzen einer Megalopolis unbeschwert atmen kann.

    Redaktion: Thomas Hahn

    www.viaf.or.kr
    www.compagnieviceversa.com
    http://cafe.naver.com.casf


    Straßentheater-Festivals Sommer 2009

     

    Deutschland

    Görlitz, ViaThea, 6.–9. August
    www.viathea.de

    Schwerte, Welttheater der Straße, 28.–29. August
    www.welttheater-der-strasse.de

     Österreich

    Graz, La Strada, 31. Juli–8. August
    www.lastrada.at

    Frankreich

    VivaCité, 26.–28. Juni, 20. Ausgabe
    www.vivacite.com

    Chalon dans la rue, 22.–26. Juli
    www.chalondanslarue.com

    Festival d’Aurillac, 19.–22. August
    www.aurillac.net

    Spanien

    Fira de teatre al carrer de Tarrega, 10.–13. September
    www.firatarrega.ca

    Belgien

    Gent, MiraMiro, 23.–26. Juli
    www.miramiro.be

    NL

    Deventer on Stilts, 3.–5. Juli
    www.vvvdeventer.nl

    (Vollständige Info zu Belgien und den Niederlanden: http://streettheatre.org)

    Slowenien

    Ana Desetnica, Ljubljana, 2.–5. Juli
    www.anadesetnica.org

    Russland

    Archanglesk, 20.–29. Juni
    www.teatrpanova.ru/street-theatres-festival

    Polen

    Warschau, Sztuka Ulicy, 26.–30. Juni
    www.sztukaulicy.pl

    Kamerun

    Rencontres internationales des arts et spectacles de rue, 9.–15. Juli

    AdNr:1018

     

    2009-06-15 | Nr. 63 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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