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    Strassentanz : Die Herausforderung !

    Auf der Strasse zu tanzen, das bedeutet für Tänzer, sich einem wesentlich grösseren Risiko auszusetzen. Allein, dass das Publikum nicht frontal sitzt, sondern von allen Seiten Einblick erhält, kann verunsichern. Ganz zu schweigen von den Reaktionen eines nicht spezialisierten Publikums, die destabilisierend wirken können. Dazu kommt die Notwendigkeit, sich wechselnden Räumen anzupassen. Trotzdem gibt es, gerade in Spanien und in Frankreich, eine wachsende Schar von Kompanien, die choreografisch den Bezug zur Strasse suchen, und das in immer vielfältigeren Formen. Monumentale, vertikale Strukturen verbinden Fassadenkletterei, Schwebeakrobatik und Gesang mit tänzerischen Elementen. Diese Art, durch die Flucht in die Höhe den eindimensionalen Bezug zum Publikum wieder herzustellen, hat allerdings künstlerisch enttäuscht, sowohl bei Les Passagers die den « Sturm » von Shakespeare sehr frei bearbeiten noch bei K.M.K, die in « Tek ‘Etniko’Truk » auf hoher Bühne und zum Teil auf Stelzen eine futuristische Modenschau choreografieren. Immer schön auf dem Boden bleiben, könnte man da sagen, denn was direkt auf dem Asfalt getanzt wurde war einfach überzeugender.

     

    Tanz mit Spass

    Zu den hartnäckigsten Anwälten und besten Vertetern des Tanzes im öffentlichen Raum gehören Les Saltindanses. Der Name ist ein Wortspiel aus Tanz und Gaukler. In « 3 Module K » bringen sie wieder viel Mimenkunst, Clownerie und Stummfilmambiente. Die Figuren ähneln Bauarbeitern, klettern auf einem Gerüst, fegen aus oder setzen merkwürdige Maschinen in Gang. Die Mechanik läuft ohne Pause, spielerisch leicht, voller Charme und Rhythmus, und eignet sich für alle Altersstufen, die begreifen, was an Arbeit, Haushalt und Heimwerkern Spass bereiten kann.

    Eine freudige Überraschung war der Auftritt der Compagnie du courant d’air aus Besancon mit « A découvert », einer Kreation für sieben zeitgenössische Tänzer, die auf Chalon dans la rue abräumte. Einfach, unprätentiös, flüssig, sonnig-leicht, ein jugendliches Spiel von gegenseitiger Verführung, aber auch über die Schwierigkeit, mit den Mitmenschen (des anderen Geschlechts)  in Kontakt zu treten. Die Choregrafin Annie Dubet lernte und arbeitete u.a. mit Jango Edwards, Jorma Uotinen, Dominique Bagouet und Rui Horta.

    Wer auf der Strasse tanzt, wird noch immer leicht als Verrückter oder Störer der öffentlichen Ordnung abgetan. Und das selbst während eines Tanzfestivals. Die Erfahrung machte Bernard Menaut mit seiner Kompanie des öfteren auf Danse à Aix. Das kleine Kommando aus Tänzern und Trompeter kann auf einer Brücke auftauchen, zwischen den Wasserspritzen städtischer Reinigungskommandos, auf dem Postamt oder in einem Linienbus. Da greift schon mal die Polizei ein. Die Reaktion der Passanten, von feindselig bis amüsiert, verrät beinahe deren politische Einstellung. Dabei ist das Kommando bei seiner « Choreografischen Unruhestiftung » (Perturbations chorégraphiques) in schicken Anzügen und Krawatte gekleidet. Allein mit ihren Bewegungen scheinen sie uns aus anderen Zeiten und Räumen anzusprechen, könnten sich aber in jedem Moment unauffällig in der Menge der Einkaufenden verlieren. Zunächst aber schütteln sie Hände, streicheln Waden oder tragen Passantinnen im Arm. Menauts Visitenkarte ist die Zärtlichkeit im öffentlichen Raum. Des Kommandos Art sich zu bewegen wirkt ähnlich wie eine Clownsnase, sie flösst sofort Vertrauen ein. Kinder geben ihnen ihre liebsten Spielzeuge anheim und Blumenhändler ihre Töpfe. Selbst wenn sie einer Autofahrerin auflauern und ihr den Einkaufskorb aus dem Kofferraum entwenden, amüsiert sich dieselbe königlich. Natürlich gibt es auch feindliche Reaktionen. Denn was tun sie dort wo unsere Gesellschaft Mehrwert produziert, also zum Beispiel in der Schlachterei oder im Schönheitssalon ? Nichts ! Sie tanzen. Brechen psychische Schutzwälle auf und stören damit die innere Ordnung weit mehr als die öffentliche. Merkwürdig ist, dass man sie nie auf Strassentheaterfestivals sieht, sondern meisten in Aix-en-Provence auf dem jährlichen Tanzfestival. Ihr Heimvorteil dort ist, dass sie unerwartet auftreten und die Passanten tatsächlich überrraschen. Trotzdem – Tanzkompanien die mit der urbanen Landschaft in Dialog treten, sind auf Strassentheaterfestivals eine Seltenheit und Leute wie Menault fehlen dort an allen Strassen und Plätzen.

     

    Frauenpowertänze

    Ganz das Gegenteil ist die Katalanin Sol Pico, die sowohl indoor als outdoor alle ästhetischen Mauern einreisst. Ihr neues indoor-Solo « Besame cactus » ist eine schrille, surrealistische Persiflage auf das Leben einer Tänzerin. Wer ihr outdoor einen grossen Parkplatz bereit stellt, der erlebt sein rotes Wunder in « Amor diesel, » das auf VivaCité in Sotteville-lès-Rouen Premiere hatte. Auf einer LKW-Rampe sieht man drei Frauen in weissen Lackmänteln in einer Bar. Es regnet und der Heimweg wird zu Albtraum. Plötzlich kippen alle drei in die Baggerschaufeln drei mechanischer, von Männern gefahrener Monster. Dort verzehren sie sich in Leidenschaft, zu Fado und Techno, leicht provokant wie Can-Can-Tänzerinnen, satirisch mit Militärgruss, zu Flamenco verkehren sie alle Klischees der Weiblichkeit, genau wie vor fast zwei Jahrhunderten die ersten Cancanneuses. Atemberaubend schnell fahren die Schaufelbagger ein Ballett, schwenken die Zähne der Schaufeln wie Bestien. Am Ende sind dann aber doch die Frauen die Stärkeren, wie immer bei Sol Pico. Trotzdem überrascht sie jedesmal mit ihrer Exzentrik. « Amor diesel » ist eine monumentale Performance, eines der stärksten Erlebnisse der letzten Saison.

    Der Abräumer im Off von Chalon dans la rue war « Soy Imperfecta, » trotz des spanischen Titels eine Kreation der Kompanie Trace(s) en poudre aus Aurillac. Ein stationäres Stück, inspiriert von eigenen Studien über das Milieu der Prostitution. Dabei vermeiden die jungen Interpretinnen jenen Betroffenheitsgestus, der, neben Milieuklischees, in engagiertem Tanztheater besonders zu fürchten wäre. Sie inszenieren eher die Träume der Prostituierten, aber auch die psychische und physische Gewalt, der sie ausgesetzt sind, und das stellvertretend für die condition féminine allgemein. Erstaunlich ist die Reife dieser jungen Kompanie, die hier erst ihr zweites Stück vorstellt. Die Figuren mit ihren obsessionellen Verhaltensweisen, der Ängste und Erniedrigungen, der Hoffnungen und des Überlebenswillens, entliessen jedes Mal ein innerlich aufgewühltes Publikum, so emotional spielen die drei Akteure. Ohne sich in tänzerischen Ornamenten zu verlieren, gehen sie körperlich bis an ihre Grenzen. Der Name der Kompanie ist Programm. Sie hinterlassen Spuren, nicht nur in den Köpfen sondern auch auf dem Asfalt.

    Noch ein Frauenstück : Die sehr etablierte Kompanie Les Pietons, gleitet von Jean-Marie Maddedu lädt zwölf Tänzerinnenin ihren « Jardin de femmes », den Garten der Frauen. Der idyllische Titel ist natürlich blanke Ironie. Das Stück, besprochen in Trottoir 33, bleibt weiter gut im Geschäft.

     

    Ein Hauch von Tanz

    Im In von Chalon sah man ein besonderes Experiment. Eine Karawane aus fünf Tangopaaren schob sich über einige Hauptverkehrsadern der Stadt. Die Musik trugen die Herren in Lautsprechern auf dem Rücken. Die Kompanie Un rien de tango dans la démarche, ein Hauch von Tango in der Gehweise, wollte den Alltag durch Sinnlichkeit umkrempeln. Vielleicht waren sie zu alltäglich angezogen, funktionierte die Kombination aus Tango und Fortbewegung nicht komplett oder das Publikum war enttäuscht, hier eben nicht Klischees, sondern nur einen Hauch von Tango zu finden. Jedenfalls zogen die Milongueros der « Caravane Tango, » ein Werk der Tango-Choreografin Nathalie Clouet, eher einsam durch die Strassen. Eigentlich sollen sich die Zuschauer der Karawane tanzend anschliessen, und die wenig tangospezifischen Kostüme sowie der offenere Tanzstil sollen Hemmschwellen senken. Eigentlich eine zündende Idee. Dass es in Chalon ein Flop wurde, lag wohl auch daran, dass die Strassen etwas abseits lagen, da Chalon dans la rue sich bewusst auch in Randbezirke der Stadt « exportieren » wollte. Zu anderen Aufführungen klappte das auch bestens, das Publikum war durchaus gewillt, auch die Peripherie zu besuchen. Noch mehr Fussarbeit verlangt Christine Quoirot von ihrem Publikum und vor allem von sich selbst. Im Rahmen des Festivals Paris Quartier d’été durchstreifte sie die Seine-Hauptstadt und deren Vororte auf verschiedensten Wanderrouten und legte dabei Tanzpausen ein. Morgens um 6 Uhr ging es los, bis zum Abend, und das eine Woche lang. Wer es durch hielt, lebte mitten in der Stadt den Rhythmus der Natur. Man konnte aber jederzeit über Handy den aktuellen Standort erfragen und sich für eine Kurzstrecke anschliessen.

    Zu den kleinen Produktionen, die Erwähnung verdienen, gehört Banc Public, ein Duo aus Tänzerin und Akrobat/Jongleur, das auf einer Parkbank sehr subtil die Verwandlung zweier Unbekannter in ein Pärchen durchspielt. Hier ist nicht nur viel Können, sondern auch philosophische Einsicht am Werk. Genauso exzellent ein weiteres Duo, Les rats clandestins. Diese Ratten aus dem Untergrund wiederholen das Schema Tänzerin plus Akrobat. Ihre sehr in schwarz gehaltene Nummer « A toi, à moi », Tanzakrobatik um einen Regenschirm, ist für das Variété konzipiert, feiert aber auch auf Strassentheaterfestivals Erfolge. Zehn exquisite Minuten (nach Einbruch der Dunkelheit).

     

    Im nächsten Heft eine Begegung mit Festivaldirektoren aus Teerschelling (NL), Stockton (UK), Poznan (PL) und Ljubljana (SLO), Chalon und Cognac (F).

     

    Redaktion: Thomas Hahn

    2003-03-15 | Nr. 38 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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