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    Sie leben noch, und wie!

    Brasilien macht Dampf. Vor allem musikalisch, wie nicht anders zu erwarten. Die Kompanie O Cirque aus Paris arbeitet mit einer Zirkusschule in Teresina im brasilianischen Bundesstaat Piaui im Nordosten des Landes. Die Sängerin Suzit Menezes ist umwerfend und wird von einer Gruppe brasilianischer Musiker begleitet, die durch alle (Tanz-)Musikstile des Landes führen. Und Schimmel tanzen dazu. Ja, es gibt neun echte Pferde in einem bemalten Zelt, als wären wir in einem Magic Mirror und gleichzeitig unter dem Eiffelturm.  Zirkuszelte_Theater MetronomDie neun jungen Akrobaten aus der Schule Vivendo e Aprendendo stellen sich in den Dienst einer Dramaturgie und Inszenierung von Gilles Audejan und Christophe Sigognault, die in manchen Sketchen von der kolonialen Vergangenheit Brasiliens erzählt. Der Dschungel kommt vom Tonband, die Keulen sind innen beleuchtet. Da ist alles beisammen für ein Fest der Sinne. Allein, die Dramaturgie und die Voltigiernummern sind doch etwas flau. Mehr Schwung bringen die Akrobaten zusammen mit der Tänzerin Florence Rougier und verwandeln am Ende die Manege mit dem Publikum in einen Tanzboden. „O Sol Tambem“ ist nicht das beste Artistik- oder Dressurprogramm aller Zeiten, doch die Kombination mit Brasiliens musikalischer Energie bringt ein ganz neues Zirkuserlebnis (www.ocirque.com).

    Groß in Form sind die Belgier. Auch wenn man die Jongleure von Circus Ronaldo eher für Italiener halten kann. In „Cucina dell’arte“ entführen sie in ihrem Zelt das Publikum in eine authentische Trattoria mit rollender Küche aus dem 19. Jahrhundert. Da rotieren Pizzateigscheiben über Arme und Schultern wie bei anderen die Bälle und fliegen durch die Luft wie ein Diabolo. Ungeschick und Akrobatik eines schier unglaublich tollpatschigen Fellini-August spielen mit der Angst des Zuschauers vor Knochenbrüchen, aber auch mit der heimlichen Lust auf das große Scheppern am Esstisch. Und auch mit der Lust auf Pizza, die ein Paar aus dem Publikum dann auch verspeisen darf. Vorher allerdings müssen sie einige Mutproben durchstehen. David und Danny Ronaldo verbinden chinesische Tellerjonglage, sizilianisches Temperament und belgischen Surrealismus. Und sind einerseits ein Familienzirkus in der sechsten Generation, andererseits inhaltlich erfinderisch wie der neue Zirkus nur selten (www.fransbrood.com).

    Das Duo Baladeu’x gehört aber zu den Virtuosen des neuen Zirkus. France Perpete und Toon Schuermaans aus Drogenbos in Belgien (www.baladeux.be) spielen wie im Rausch. Verbunden und getrennt durch eine Tür, zeigen sie alle Höhen und Tiefen einer Liebesbeziehung. Dabei begeistern sie nicht nur mit exzellenter Akrobatik, sondern auch mit psychologischer Tiefe. Und die Bälle, mit denen sie jonglieren, werden zum Symbol von Wut, Enttäuschung oder Zärtlichkeit. „Double tour“ geht ans Herz und hat durchaus mit Tanz zu tun, aber auch mit Magie, denn die Tricks mit der Akrobatik-Tür sind absolut verblüffend.

    Was tun die Franzosen? Wenn eine der größeren Kompanien mal wieder einen echten Reißer in moderner Manege zustande bringt, freut man sich, allein deshalb, weil das in letzter Zeit selten wurde. Für „Question de directions“ tat sich das Collectif AOC mit der italienischen Choreografin Rebecca Murgi zusammen. La direction, die Richtung, ist hier meist die Himmelsrichtung: geradeaus nach oben, und zwar wie vom Katapult geschossen. Sie stoßen nämlich mit Vorliebe aus dem Untergrund hervor, durch allerlei Falltüren im Boden. Wann immer sie springen, laufen, tanzen, überraschen sie mit unvorhersehbaren Richtungswechseln, Beschleunigungen oder Stopps. Mit viel Humor spielen sie ihre Figuren, ohne dabei gleich eine Geschichte erzählen zu müssen. Wir sind aber ganz nah am Theater, und genauso nah am Tanztheater. Besonders gelungen ist Murgi die Sequenz am Trampolin, wo aus der Schwerelosigkeit ein Ballett der Flugbahnen entsteht, so harmonisch wie ein japanischer Garten und so quirlig wie ein Feuerwerk. Wie oft wird im neuen Zirkus die Akrobatik einer Art Konzeptkunst geopfert! AOC zeigen endlich, dass das eine Sackgasse ist, dass die Dynamik des Zirkus dann zurückkehrt, wenn die Artisten wieder Power machen. Das schließt nicht aus, dass sie mal auf einer Bank sitzen, sich anschauen und auf den Einsatz warten. Aber die Energie, die ist halt drin, auch ohne hüpfen. Seil, Trapez, Mast und Wippe und sogar der Clown scheinen rehabilitiert, aber in ganz aktuellem Gewand, zu reichlich Jazz, Hip-Hop und Reggae, zum Teil live gespielt, wenn das Schlagzeug aus dem Untergrund auf die Bühne schnellt. Immer laufen mehrere Aktionen gleichzeitig, liegt der Zuschauer auf der Lauer wie ein Jäger (www.collectifaoc.com).

    Gut bekannt ist die Ästhetik alten Eisens, rostiger Sprungfedern und imaginärer Spinnenweben. Aus diesem Register gibt es zwei exzellente französische Vertreter. In einer Art Kaffeemühle, dem „Moulin Cabot“, trifft man auf eine Bande skurriler Gesellen. Brummbären, die irgendwo aus der Tundra zu stammen scheinen. Ausgestattet mit kariertem Hemd, Latzhose, Banjo, kaputter Trommel und bescheidener Intelligenz. Einer könnte gar Autist sein. Sie grummeln zwischen Misstrauen, Neid und Schmollen. Figuren wie aus einem Zeichentrickfilm in vom Zeltdach rötlich gefärbtem Licht. Die Atmosphäre ist stickig. Sie beackern ihre schrägen Instrumente, behaken sich und jonglieren ein wenig mit Keulen, die ein Jahrhundert alt zu sein scheinen. Ihre Kunst ist die minimaler Aktionen in zerrissenen Schuhen. 2 rien merci heißt das Trio aus Tschechien, Kanada und Frankreich. Freddy Boisliveau steht nicht nur auf der Bühne, sondern er ist auch der Komponist im Stil von Tom Waits. „Moulin Cabot“ präsentiert sich wie eine Art surrealistisch-visuelles und klangliches Gedicht (www.2rienmerci.com).

    Größer ist das Zelt von Cyrk Klotz. Ein Mysterium in Schwarzweiß, oft genug in Kalkweiß. Eine der verzauberndsten Entdeckungen. Es sieht ein wenig aus wie bei Graf Dracula. Eine Klavierruine hängt unter der Zeltkuppel. Historische Grundlage ist das „Ballet Mécanique“ von 1924 des Komponisten George Antheil, für Perkussion und 16 Klaviere. Es ist, als sähen wir in „Note à vacarme“ (lärmende Noten) die Überreste von sechs Pianos der Originalbesetzung. Und die werden völlig zweckentfremdet. Ein Spinett ertönt und in einem anderen Piano wohnt eine Sängerin. Ein Piano wird Tangopartner, ein anderes dient dem Bandoneonisten als Klettergerüst. Ein drittes schaukelt unter der Kuppel, doch der Pianist spielt unbeirrbar. Es entsteht gar ein Gebirgskamm aus Klavieren. Klotz entführt in tiefe Stimmungen, lässt Seile schwingen und Trapeze fliegen, bringt aber auch humorvolle Saiten zum klingen. Alle männlichen Figuren sind Clowns. Da parodieren zwei von ihnen Zirkusnummern mit Goldfischen. Monsieur Loyal ist ein gealterter, grummelnder Italiener mit Wurzeln bei Fellini, natürlich. Ein zirkusmusikalisches Meisterwerk, in dem selbst die Klaviere zu Akrobaten werden, auf dem Weg vom „Ballet Mécanique“ zum Cyrk mekanik (cyrkklotz@yahoo.fr).

    Eine schöne Mischung aus Jonglage, Mime und Tanz bieten Petit Travers in „Le Parti pris des choses“. Ein Trio, das rennt, tanzt und Bälle schleudert, bis Freund- und Liebschaften sich zum Sturm auswachsen. Auch hier dienen die Bälle dazu, Freundschaft, Einsamkeit oder Begierde auszudrücken. Das Trio überzeugt vor allem in der Jonglage, Céline Lapeyre auch als Tänzerin. Als Mimen müssen sie dagegen noch reifen (www.collectifpetittravers.org).

    Das letzte Wort soll den USA gebühren. Ein ganz schweres Geschütz, hier für große Theaterbühnen, ist die neue Kreation der Cie 111 (die aber sitzt in Frankreich) des amerikanischen Regisseurs Phil Soltanoff, der in New York die Kompanie Mad Dog leitet. Im Zentrum von „Plus ou moins l’infini“ (mehr oder weniger die Unendlichkeit) steht eine sich ständig verändernde Struktur aus zig Metallstangen, die unter der Decke schweben und gemeinsam ihre Form ändern wie eine Wanderdüne im Zeitraffer. „Zu kalt“ sagen viele, doch man kann in dieser Maschinerie mit ihren komplexen Lichtspielen auch Verdun erblicken oder spielerische Poesie, und daher viel Emotion. Dazu kommt am Boden ein verblüffendes Körpertheater vorbeiflitzender Gestalten, mit Sinnestäuschungen wie bei Philippe Genty. Nicht „Zirkus“ steht im Programm, sondern „Bildertheater“. Wieder zu sehen ist die Superproduktion in Italien, und zwar in Brescia vom 4. bis 7. Juli (www.cie111.com).

    Redaktion: Thomas Hahn

    AdNr:1093  

     

    2006-06-15 | Nr. 51 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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