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    Mimen im Zeichen der Globalisierung

    Nie zuvor war Mimos so international wie in diesem Jahr. Beinahe fünfzehn Länder waren vertreten. Aus diesem Jet-set-Angebot folgen in dieser Ausgabe Theater und Performance nachdem ich im letzten Trottoir mit Japan und Butoh begonnen hatte.

    Frauenbilder

    Aus den Niederlanden die kleine Kompanie von Judith Nab, Théâtre Espace. Ihr «Twilight» ist eine Mischung aus Illusions-, Schatten- und Körpertheater, ein Anflug von Philippe Genty im Kleinformat. Judith setzt auch Sampling von Filmdialogen ein, um Fantasien in der Grauzone des Halbschlafes zu erkunden. Das Design ist en vogue. Text, Musik (elektronisch), Schatten, Körper und grafische Designerbildstörungen wirbeln durch die Hirnströme und befruchten sich gegenseitig. Die ästhetisch aufregendste, innovativste Erscheinung. 

    Simona Levi ist Italienerin, doch ihr eigenes Theater und Festival hat sie in Barcelona erkämpft. Conservas heisst der umgebaute Shop im Barrio cino und « Femina ex-machina » ihr Bilderwerk zum Frauenbild. Dahinter steckt viel mehr Humor und Selbstironie als Feminismus. Dennoch wird deutlich, wie sie es ausdrückt, dass es «immer noch schmerzhaft ist, ein Frau zu sein.» Und wäre da nur jenes Bild in dem rotierende Drahthaken die Brüste einer Actrice kreisen lässt oder das Spaghettiessen auf dem Bauch einer nackten, lesenden  Dame. Und die modisch gekleidete Grossstädterin mit dem Kopf im runden Aquarium, deren Leben so verloren sich im Kreis dreht wie der Goldfisch der vor ihren Augen schwimmt. Das war der kämpferischste Auftitt auf Mimos, katalanisch gewürzt mit einer Prise Almodovar.

    „Latex“ ist eine Performance der Tänzerin Maren Strack (Berlin/München). Maren nimmt das Frauenbild der Sechziger aufs Korn. Befreit Latex die Frau? In einem Plissékleid aus Latex, das am Boden festgenagelt ist, reckt, windet und dreht sie sich, lässt den Latex krachen, rollt und wächst bis an die Grenze des Möglichen (ihre Haarpracht wird in die Höhe gezogen, durch das Gegengewicht einer Nähmaschine). Danach erzählt sie vom Puppenkleider nähen in ihrer Jugendzeit. Eine brilliante Performance, massgeschneidert für unkonventionelle Spielstätten wie z. B. Kunstgalerien. Auf der frontalen Theaterbühne ging leider etwas verloren von dem möglichen direkten Bezug zum Publikum.

    In „Marylin, Madonna und die anderen“ erhärtet  Ennio Marchetti den Verdacht, dass Italienern die Verkleidungskunst von Geburt an in den Gelenken steckt. Dabei gibt Marchetto eher den Clown. Seine jeweils neu zusammengestellte Auswahl aus etwa einhundert Personen spielt er als Sandwichman und in jedem Pappklappbild steckt schon die nächste Figur und die übernächste. Fast alle sind Sänger(innen). Das hat mit einer Anziehpuppe mehr zu tun als mit Kostümwechselwahn im Sinn von Fregoli. Als Zugabe zu der humoristisch vorgetragenen Botschaft dass Stars (ob Mann oder Frau) nur Abziehbilder sind, ist sein Auftritt eine Hommage an die Crème des Pop, Jazz und Soul  – ein Fest für Melomanen.

    Labyrinthe

    Auch wenn der Name es nicht verrät, die Kompanie Ratzan’kor kommt aus Berlin. Immerhin steht Andreas Müller in seiner Partnerin Josephine Evrard eine Französin zur Seite. Des Duos Labyrinth ist ein Baugerüst. „In vitro„, „pulp„ oder „staccato nudo„ lauten manche Sätze in ihrer visuellen „Symphonie obscène„. Das Adjektiv bezieht sich auf  den Ursprung des Wortes obscaenum: abseits der (hier: kleinen) Bühne. Denn beide klettern durch ihre Wohnbaustelle wie durch eine Beziehungskiste. So nackt sie auch sind, wirklich entblössen werden sie sich nie. Mag sein, dass man dieses leicht expressionistische „physical object theatre“ auch als Metapher auf die (Kopf-)Baustelle Berlin bzw. Deutschland lesen kann. Die mysteriöseste Kletterpartie auf Mimos.

    In „Le Labyrinthe“ der Kompanie L’Oiseau-mouche ensteht auf der grossen Bühne Teil für Teil die Mutter aller Irrgärten. Im inneren verbirgt sich der Minotaurus, eine Metapher auf das Fremde in uns selbst. Furchterregend. Und doch, wenn man es erst kennen lernt, wird aus dem Ungeheur ein plüschiges Tierchen. Die elf Akteure scheinen direkt dem Dunkel des Hades zu entsteigen. Der Rhythmus, endlos langsam, ähnelt dem des Butoh. Die Körper bemächtigen sich keiner Kunstsprache. Sie sind selbst Kunst. Alle Akteure von L’Oiseau-mouche sind „geistig behindert“. In ihren roten Röcken tanzen sie am Schluss einen Flamenco, der einem das Blut gefrieren lässt. Es war das leiseste Spektakel auf Mimos.

    Weiter im Jet-set, nach Israel und zwar mit Clipa. Und wie heisst deren Bildertheater über das Leben eines bzw. des Mannes zwischen Mythologie und Mafia, Frauen und Minotaurus, Geburt und Tod, Streit und Frieden? Natürlich „Labyrinth“. Die rasend schnelle Uhr des Lebens rennt im Hintergrund. Clipa spielen ein opulentes Bildertheater, aber sie versuchen, glücklos, die Stile von Philippe Genty und Jan Fabre zu vereinen. Das Ergebnis macht klar, dass auch in der Kunst die Zeit rasend schnell vergeht. Clipa war der nostalgischste, altbackenste Auftritt.

    Den Preis der Kritik gewannen, mal wieder, die Russen. Nach Derevo nun chernoNEBObeloe (blackSKYWhite). Auch ihr „USSR was here“ (1994) handelt vom Labyrinth und von Orientierungslosigkeit. Handelt? Das Vorgehen ist abstrakt ästhetisch - dunkel und aggressiv. Ein Paar das sich langsam findet, dessen Beziehung aber von einer nicht benannten Gewalt durchzogen ist. Die mechnisierten Körper verlieren sich in schwarzem Licht und einer Überdosis Funk und Techno. Die Figuren sind dämonisch, wie terrorisiert und der Schock überträgt sich auf den Zuschauer. Gleichzeitig verarbeiten sie Motive aus der Tradition der Mimenkunst und des schwarzen Theaters. Die gestische Präzision von blackSKYwhite beweist wiederum dass das Erbe der russischen Schule bis heute weiter lebt. Der lauteste, rasanteste Act des Jet-set-Mimos.

    Talente

    Seit 1997 existiert der Centre national du mime . Auf Mimos gestaltete dessen künstlerischer Leiter Etienne Bonduelle einen bunten Abend als Querschnitt durch Frankreichs aktuelles Körpertheater. Ein Querschnitt der Ausschnitte, denn es ging ruck-zuck. Am Ende stand die Erkenntnis, dass Humor dominiert, aber auch formale Recherche stattfindet. Neben jungen Kompanien mit Erstlingswerken sah man auch bekannte Grössen wie A Fleur de peau (Denise Namura aus Brasilien und Michael Bugdahn aus Deutschland), von Dinosaurierinnen wie Pinok & Matho ganz zu schweigen. A Fleur de Peau leben und arbeiten in Paris. In der gerafften Fassung ihrer neuesten Kreation „Aller retour simple“ (Hin- und Rückfahrkarte einfach) zeigen sie ihr gewohnt agiles, humorvolles Tanztheater. Ein symbolisches Stück über den Aufbruch, die Reise und Konvulsionen in der Gruppenhierarchie.

    In ähnlicher Vorliebe für Humor, Beziehungen und Philosophie präsentierte die Kompanie K.O.C.H. ihr „On ne peut pas s’en défaire“ (Man kommt nicht los davon). Ein Thriller in Slapstick bzw. ein humorvoller Film noir in dem drei Männer zwischen Kampf und Zärtlichkeit um einen mysteriösen Koffer streiten.

    Innovativ ist Sylvie Chartraud mit „Le Sablier“ (Die Sanduhr). Die Franko-Kanadierin dialogiert auf zwei Ebenen mit ihrem eigenen Schatten – wie in einer Sanduhr. Kurz, schlicht, beeindruckend.

    Traditioneller, aber exzellent : Markus Schmid für die Compagnie Andrayas in „Requiem pour une béquille“ . Er tanzt mit seinem Stock und viel Ironie durch alle Stilarten von Musical oder Schattentheater, bastelt aber aus Bühne, Ton und Tanz ein elegantes Gesamtkunstwerk.

    Mit viel Humor nimmt Théâtre Diagonale den Traum von Liebe und Märchenprinz aufs Korn. Zum Beispiel in einem wilden Ping Pong aus Küssen, die den armen Supermann kräftig durchschütteln. „Amo, amas, amavi...“ ist aber eher zärtlicher Natur und auch für Kinder geeignet. Sophie Boissière und Esther Mollo sind Pioniere des Körpertheaters in der Region Lille.

    Rückhaltlos zum Ablachen ist die visuelle Geschichte eines Ausbruchs aus einer Nervenklinik. Les Eléphants roses ist sowohl der Name der Kompanie als auch der Titel des Stückes. Eine Parodie auf Thriller, in der sich die Kranken wie Kinder gebärden die Streiche aushecken. Ebenso herrlich verrückt: „Délirium très must“ der Compagnie Corinne Boijols. Fünf Akteure stellen mit ein paar Dialogfetzen den Büroalltag auf den Kopf und stürzen sich in apokalyptischen Slapstick. In den Szenen zwischen Chef, Angestellten und Sekretärin parodieren sie alle Filmstile. So zeigte der Abend, dass viel Nachwuchs nach oben strebt, dass Schattentheater und filmische Referenzen  weit verbreitet sind und dass vor allem viel gelacht werden darf.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2001-12-15 | Nr. 33 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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