„Sag mir, mit wem du gehst und ich sage dir, wer du bist“, wusste einst Goethe. Mit diesem Spruch wirbt der private Berliner Radiosender 100,6 seit Wochen an vielen Plätzen in Berlin. Er mahnt, nicht zu vergessen, was in Berlin vor 1989 geschah. Ebenfalls zahlreich aufgehängt, wurden die Plakate der Parteien zur Wahl des Berliner Bürgermeisters am 21.Oktober 01 in Berlin. Erfrischend, dass das Kabarett „Kartoon“ im Haus am Köllnischen Park die derzeitige Stimmung hochaktuell in dem Stück: ARLARMSTUFE ROT oder „Hilfe, die Russen kommen“ widerspiegelt.
Politisches Kabarett live: Eine Familie aus dem Berliner Stadtbezirk Neukölln sitzt im Bunker, vor Angst vor den Roten. Am Ende können sie aufatmen. „Steffel hat gewonnen, Gysi ist nach Nordkorea geflohen, Wowereit ist Gleichstellungsbeauftragter ....“.
Das aktuelle, geistreiche und angriffslustige Programm fordert den Gast. Er muss schon Kenntnisse aus der Politik und Literatur mitbringen. Simone Storch stellt die „Gretchenfrage“. Gekonnt wird diese bekannte Szene aus dem Faust in ihrer Rhythmik und Wortwahl auf der Bühne umgesetzt. Das deutsche Volk wird in der Wahlvorbereitung beobachtet: „Jeder Wähler kann sich darauf verlassen, wo SPD draufsteht, ist CDU drin....“. Ebenso professionell sind die Lieder eingebaut. Das Lied „Danke, dass du kein grosser und nur ein kleiner Schuft bist“ , geht an Thierses Adresse. Die bekannte Melodie geht später in einen stimmungsvollen Gospelgesang über. Geistreiche und originelle Ideen durchziehen das ganze Programm. Im Programm vorgestellt wurde auch ein Büro, das Leute erledigt, die für die Politik zu gefährlich werden. In diesem Falle ohne Waffen, einfach mit der Vergangenheit, damit sie keine Zukunft haben. Das geht bei Gysi z.B. ganz leicht. „Gysi ist ein Wessi, sein Vater packt aus....“.
Oft ist der Wortschwall für den Normalverbraucher zwar nicht immer klar und etwas schnell in der Abfolge. Das ist natürlich gerade bei den Tipps zu den Aktien und Steuern bitter, aber vielleicht auch gut so.
Peter Tepper, der künstlerische Leiter verwies schon in seiner Begrüssung auf die Schwierigkeiten des Kabaretts. Die Wirklichkeit übersteigt zur Zeit das Kabarett an Groteske. Auf der Bühne geht es Schlag auf Schlag. Die Künstler sind gut ausgebildet und nicht nur auf der Bühne tätig. Das 1973 gegründete Studentenkabarett der Hochschule für Ökonomie wollte nach der Wende weitermachen. Dafür wurde ein künstlerischer Leiter gesucht. Peter Tepper vom Berliner Ensemble hat das Haus in der Französischen Strasse am Gendarmenmarkt 1990 übernommen. Nach 8 Jahren hatte jedoch eine Bank für die Miete mehr geboten. Nach 2 jähriger Pause sind sie neu wiederhergestellt im Haus am Köllnischen Park zu finden. Hier warten sie nun auf Gäste. Das sei ihnen von Herzen gewünscht.
Niveau und Anspruch sind ja subjektiv. Nicht so genau hinhören muss man vielleicht in der „Show deines Lebens“ im Varieté Chamäleon. Viele Touristen amüsieren sich bei der Show von Winterberg und Brandl auch beim Hinschauen. Hier in den bekannten Hackeschen Höfen ist der Saal fast immer ausverkauft. Jetzt wird auch hier sogar Freitagnacht getanzt. Auch diese Idee ist nicht neu. Für den einschlägigen Berlintouristen gehört das Chamäleon zum Standardprogramm, egal, was gespielt wird. Den Theatersport gibt’s hier weiterhin jeden Montag.
Ausverkauft, an einem Montag war das politische Kabarett Distel in der Friedrichstrasse für das Stück „Kaiser, König Bertelsmann“.
Programmänderung- Veränderung?
Endgültig scheint sich die Szene in punkto Chanson in Berlin verändert zu haben. Wurden auf alten und neuen Bühnen (siehe Beiträge 1999-2001) das Chanson bejubelt, bleiben einige Plätze sogar bei Romy Haag oder Tim Fischer leer. Das ist neu. Oft kommt auch das Publikum im 2. Teil eines Programms erst in Fahrt, dann meist mit bekannten Titeln, die wiederum ihre Zugaben einfordern. Sehens- und hörenswert ist das Programm der fast seriösen Diseuse Romy Haag mit „Balladen für Huren & Engel“ im BKA Luftschloss. Ebenfalls ein Höhepunkt der Chansonszene war das neue Programm „Tim Fischer singt Kreisler“ mit Hans Jehle (Geige) und Thomas Dörschel (Piano) Die Premiere am 30.08.01 war, wie zu erwarten, ausverkauft. Inzwischen kurzhaarig, zum professionellen Sänger gereift, könnte Tim Fischer (Deutscher Kleinkunstpreis 1995 als jüngster Chansonnier) den 20er oder 30er Jahren entstiegen sein. Jedes Lied sitzt, wer Kreisler mag, ein Genuss. Bemerkenswert, dass Tim Fischer nur mit einem einzigen Wort als Zwischentext auskommt. Schliesslich war seit dem Erfolg von Georgette Dee gerade der meist witzige oder komische Zwischentext das eigentliche Programm. Eine Tendenz macht sich auch hier bemerkbar. Ein gutes Programm mit einem bekannten Sänger in der renomierten Bar jeder Vernunft hatte nur zögerlich verkauft werden können. Liegt es an Kreisler, an Tim Fischer? Wohl eher an dem Genre, dem gerade das Publikum auszugehen scheint. Will denn keiner mehr Chansons hören?
Das diesjährige 6.Chansonfest hat sich dieser Problematik schon angenommen und programmatisch erst einmal den Ort gewechselt. Aber auch in der in Berlin-Mitte gelegenen Kalkscheune wurden nicht die Besucherzahlen der letzten Jahre erreicht. Wer sind eigentlich die Besucher?. Gesehen wurden einige Studenten, jung gebliebene 68er, vereinzelt Paare, gut gekleidete über 40, und natürlich viele Künstler und Freunde der jungen und jung gebliebenen Künstler. Jazz meets Chanson, verkündete nicht ganz neu Celina Muza, die mit ihrer gesungenen Leidenschaft mit ihren eigenen Lieder das Publikum am stärksten überzeugte. Immer wieder versuchten ChansonsängerInnen ihr Genre mit Jazz zu verbinden. So z.B. trat Michael Frowin bisher mit dem Programm auf: „Leben! – Jazz trifft Chanson“. Im November/Dezember folgt die Fortsetzung: „Kabarett triff Jazz & Chanson“ im Grünen Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, dem bisher haupsächlich als Chansonbühne bekannten Veranstaltungsort. Vollkommen anderes Genre: Schrottfisch, Preisträger des Berliner Jugendmusiksenders Fritz erinnert an eine niedliche Schulband und die Probleme von Teenagern. Das Publikum versank teilweise vielleicht auch in diesen Erinnerungen. Frau Isabell Tüngerthal verzauberte wieder mit ihrem „Sinnesrausch“. Für diese Künstlerin gibt es noch kein Schubfach. Auch hier ist das Wort Chanson nicht ausreichend. Die Moderatorin, Frau Tanja Ries, nannte sich einst selbst Chansonsängerin. Auch sie hat, wie viele, die vor etwa 5-6 Jahren vielversprechend anfingen, sich vom allgemeinen Verständnis des Wortes Chanson abgegrenzt und versucht nun, neue Wege zu gehen. Klar ist, Frau Ries erklärt es nochmal dem Publikum , Chanson ist ja nur das Lied oder Song. Die Szene Berlin verändert gerade ihr Programm.
Boris Steinberg, Organisator der Chansonbühne, trat ebenfalls in diesem Jahr hier nicht auf und beginnt bald ganz neu mit Pop Chanson. Sicher wird das Anhängsel Chanson auch bald verschwinden. Wie wird das Chansonfestival nächstes Jahr heissen?
Es scheint sich trotz der Ereignisse des 11. Septembers auch eher zu bestätigen, was lange nur vorsichtig gedacht wurde. Für 28,00 DM oder mehr will der Besucher Unterhaltung pur, mit oder ohne Niveau, je nach Geschmack. Ernsthaftes wird in der Oper oder Philharmonie angeschaut. Der harte Alltag braucht etwas Lustiges zum Schluss. Davon wollen aber die meisten ChansonsängerInnen (noch) nichts hören. So bleibt abzuwarten, wie sich die Berliner Kleinkunstszene zwischen Kabarett, Revue, Chanson und Show entwickelt.
Redaktion: Yvonne Helmbold
Distel
6.-9.12. und 17.-21.12. und 28.-31.12. „Kaiser –König Bertelsmann“
Ufafabrik
26.-29.12.01 Blanche Elliz: Sweet and Sexy
31.12.01 Sylvester-Show mit Comedy, Tanz , Musik und Akrobatik
BKA
12.12.01 - 20.01.02 Mi-So. Teufelsberg Produktion: Die Show mit Denken
19.-26.12.01 Tim Fischer : Kreisler Programm
28.01.02 - 31.01.02 Romy Haag: Balladen für Huren und Engel
Grüner Salon
8.12.01 M. Frowin. Gnadenlos- Kabarett trifft Jazz & Chanson
01: Pop Chanson mit Boris Steinberg
2001-12-15 | Nr. 33 | Weitere Artikel von: Yvonne Helmbold