Wenn sich Zirkus vermischt mit Breakdance, Cabaret, Theater und Mime, ist es keine Überraschung, dass die entstehenden Aufführungen nicht für Zelt und Kuppel geschaffen werden, sondern um das Publikum von der Bühne aus frontal anzublicken. Ziel ist es, die Stücke auch an Theatersäle oder Spielstätten für Tanz zu verkaufen. Und das gelingt immer besser. Viel Spaß mit fünf exzellenten Produktionen aus der Schweiz, Frankreich, Finnland und Portugal!
Der Morgen graut. Vor dem Wellblech, hinter einem Bauzaun, lauern drei Herren in schwarzen Anzügen, die den Figuren aus der Welt von Josef Nadj ähneln und mit Messbändern hantieren. Ihre Bewegungen zwischen Roboter und Mime sind die am schärfsten gezeichneten des Stücks. Mögen sie Architekten sein, Zimmermänner oder Immobilienhaie. Wie eine Macht der Unterwelt drehen sie zu Beginn und am Ende ihre Runden. Diese Klammer umschließt eine zeitlose Zeit des Spiels, des Traums, der Kletterei, der Akrobatik. In dem Lattenzaun tun sich überall Löcher und Luken auf. Hände, Füße, Köpfe schauen herein, beginnen ein komplexes Spiel. Sie schwingen sich am Laternenpfahl in die Höhe, springen Salti, rollen Reifen, lassen den Bauch Wellen schlagen, drehen auf den Unterarmen. „Terrain vague“ ist über weite Strecken bestes Tanztheater, narrativ und doch vage genug, die Bilder schrankenlos geträumt, voller Fantasien vom Überwinden der Schwerkraft, aber auch voller Ängste. Wie das Bild, in dem die Diebin, an endlos langen Ärmeln gefesselt, mit ansehen muss, wie das Gelände sich in ein Spinnennetz verwandelt. „Terrain vague“ ist ein Melting Pot von Pierrots, Obdachlosen, fahrendem Volk und Jugendlichen. Es ist die wohl erste Produktion, in der ein Hip-Hop-Choreograf B-Boys und Artisten in gleicher Stärke engagierte. Die Kompanie Käfig trifft auf Zirkus. Und was passiert? Die Akrobaten wirken schlüssiger, freier als die Breaker. Feldvorteil Zirkus. Ihr Choreograf Mourad Merzouki war nie ein Breaker ohne den Durchblick nach draußen. Mit sieben Jahren nahm er seine ersten Lehrstunden in einer Zirkusschule, und er blieb dabei, bis er achtzehn war. Auch strolchte er über Bau- und Bolzplätze. So enthält „Terrain vague“ ein gut Teil persönlicher Nostalgie. Sogar in Seoul ist die Truppe inzwischen schon aufgetreten. (www.kafig.com)
Das Duo Martin Zimmermann & Dimitri de Perrot lebt zwar in Zürich, doch ohne Frankreichs Produzenten und Publikum ginge es am Stock. Dass ihre Stücke oft dem Zirkus zugeschlagen werden, liegt natürlich daran, dass Zimmermann in dem Welterfolg „Le cri du caméléon“ mitwirkte, durch den der neue Zirkus sich international durchsetzte. Aber es zeugt eben auch von der Hilflosigkeit des Schubladendenkens. Denn enger noch als in den Erfolgsstücken „Gopf“, „Hoi“ oder „Janei“ von Metzger, Zimmermann und de Perrot befruchten sich in „Gaff Aff“ zwei Kunstsprachen. Der Komponist und der Mime sind in Hassliebe vereint. Mal scheinen die Töne den Arm mit dem Aktenkoffer zum schwingen zu bringen, mal öffnet sich die Aktentasche und entlässt ein Klangbild der Ängste und Träume des Herrn, nennen wir ihn Z, der doch nur seinen Arbeitsplatz erreichen will. Sozialen und physikalischen Zerrkräften ausgeliefert, versucht er mühsam, die Fassung zu bewahren. Er kann darin nur scheitern, denn die Distorsion der Töne verwirft die Kontinentalplatten unter seinen Füßen. Das dehnt und staucht, komprimiert und faltet Körper und Raum, Tempo und Zeit. Die Kälte und Hektik des Flughafens oder der U-Bahn werden mit einfachsten Mitteln zum Leben erweckt. Statt neuer Technologien dominiert Karton. Zimmermanns Solo auf der Drehscheibe beweist, dass aus dem Artisten und Bühnenbildner der Kompanie Anomalie („Le cri du caméléon“ und „Anatomie Anomalie“) ein begnadeter Mime und Schauspieler wurde. Dass hier die ganz großen Clowns Pate standen, ist offenkundig. Kafka, Keaton, Chaplin, Beckett – sie alle wissen, mit welchen Bildern sie Urängste auf den Plan rufen und helfen uns, über unsere Albträume zu lachen. Martin Zimmermanns Gummikörper ist aus diesem Holz geschnitzt. Mal spielt er Akkordeon mit seinen Gliedern, mal wird er sein eigener Korkenzieher. „Gaff Aff“ ist eine Anthologie des modernen Büromenschen, zerquetscht im Schraubstock zwischen Vorgesetzten, U-Bahn, Handy, Tagesschau und Aktenkoffer. In Paris schaffte die Truppe es, ein Theater, das noch nie Mimen oder Zirkus zeigte, über Wochen ansehnlich zu füllen. Ein echter Durchbruch! (www.zimmermanndeperrot.com)
Auch „Espresso“, eine Koproduktion von Circo Aereo (Finnland) und Les objets volants (Frankreich), zieht frontal vor das Publikum. Und die drei Jongleure in den ersten Szenen sind recht venezianisch ausstaffiert in Grau, Schwarz, mit Pluderhosen und goldenen Rüschen. Und ihre silbernen Keulen setzen der Ästhetik noch die Krone auf. Die Jongleure bewegen sich leicht mechanisch, wie Spieldosenfiguren, und wenn sie eine Kugel auf der Stirn tragen, wirkt die deshalb umso schwereloser. Die optische Illusion der Balance-Acts ist bestechend. Da steht der Stock so gerade in der Hand der Tänzerin, dass er mit ihr zu jonglieren scheint anstatt umgekehrt. Wenn die drei Männer mir ihren Rundstöcken die charmante Sanna Silvennionen ziehen, schieben und modellieren, entstehen Traumbilder, die am Unterbewusstsein rühren. Der Rhythmus der stilisierten Bewegungen überträgt sich auch auf den Aufbau des Programms, das sowohl Anspielungen auf traditionellen Zirkus und Cabaret als auch moderne Kunst enthält. Der Grundton aber ist nostalgisch, wenn sie zu viert, jonglierend, dem Barocktanz nahekommen oder ein imaginärer Dompteur in Uniform Pferdefotos über drei Bildschirme hüpfen lässt – eine Hommage an die Entstehung der Fotografie. Doch auch modern-abstrakte Kunst kommt zum Zug. Das Schlussbild ist dann wieder venezianisch, doch die Geschichte der drei Pierrots und ihrer Akrobatin muss man selbst erfinden. „Espresso“ lässt einen tatsächlich glauben, italienisches Design habe hier den Zirkus erreicht. (www.circoaereo.net und http://lesobjetsvolants.free.fr)
Chloé Moglia und Mélissa Von Vépy gründeten nach ihrer Ausbildung am Centre National des Arts du Cirque (CNAC) in Chalons en Champagne ihre eigene Kompanie, Moglice – Von Verx. Das hört sich ähnlich an wie Zimmermann – De Perrot. Es scheint in Mode zu kommen, sich wie eine Anwaltskanzlei zu betiteln. In „I look up, I look down“ sieht sich der Zuschauer nicht nur der Bühne frontal gegenüber, sondern auch noch einer Wand. Diese Artistinnen erfinden den Zirkus des Bergsteigens. Da stehen sie oben an der Kante ihrer Berg- oder Kletterwand und blicken einen acht Meter tiefen Abgrund hinab, ein Hindernis, das sie nur gemeinsam bewältigen können. Wenn aber eine unten steht, muss die andere oben bleiben. Immer neue Windungen, Tricks und Hilfestellungen erfinden sie. Da hangeln sie an einer Hand, einem Fuß, ihre T-Shirts werden zu Gummiseilen. Immer wieder gilt zu entscheiden: Gemeinsam scheitern oder sich für die Partnerin opfern? Immer wieder sind sie gezwungen, von vorne anzufangen. Das alles läuft langsam ab, in voller Präsenz von Zweifeln, Liebe, Frust etc. Und so sagen sie alles über Sisyphus, das Absurde der menschlichen Existenz, das Auf-der-Stelle-Treten. Es ist wie bei Beckett, aber sanfter. Und nebenbei erzählt es die Geschichte einer Freundschaft mit Streit und Versöhnung, Solidarität und Neid. Dann gleitet auch noch Komik zwischen die Faszination des Nichts und die Angst vor dem Tod. (www.moglice-vonverx.com)
Aus Portugal kommen der Choreograf Rui Horta und der Kletterkünstler Joao P. Pereira dos Santos, der es sich in einem wunderbar poetischen Solo auf der Spitze des Mastes in einem Stuhl gemütlich macht, den er selbst kletternd dort hochschleppt. „Contigo“ heißt diese wunderbare Begegnung von Körper und Mast. Contigo: Mit dir! Rauf und runter bist du mein Partner, mein Feind, mein Traum und mein Trauma, du, der Mast mit deinen Versprechungen, deiner Härte, deinen Schwingungen. Wer liebt nicht, was ihn ängstigt, und umgekehrt? „Contigo“ ist eine Metapher, die uns zeigt, wie sehr der Mensch immer im Werden ist, im Übergang. Da ist die Akrobatik von dos Santos nicht mehr das Ziel, sondern Sprungbrett für Höheres. Selten begegneten sich Artist und Choreograf mit so viel Genie.
Wer nun wissen will, wie es dem Zirkus (aber auch dem Straßentheater) geht, von Dänemark bis Portugal, von Ungarn bis Irland, d. h. wie es sich verhält mit Subventionen, Institutionen und Auftrittsmöglichkeiten, findet eine Übersicht, hier noch als erste Annäherung an das Thema gehandelt, bei horslesmurs in Paris unter dem Titel: „Politiques culturelles en faveur des arts de la rue et du cirque en Europe“ auf der Website www.horslesmurs.com.
Redaktion: Thomas Hahn
AdNr:1093 AdNr:1085b
2007-06-15 | Nr. 55 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn