Die europäische Spielart des Zirkus hat sich inzwischen auch dort etabliert, wo traditionell freiere, unverbindlichere Formen von Akrobatik Hausrecht haben. Zum Beispiel in Afrika. Vor ein paar Jahren waren äthiopische Strassenkinder auf Europatournee und wirbelten als Circus Ethiopia und unter schweizer Obhut z. B. das Festival d'Aurillac durcheinander. Die Zirkuskünste sind kommunikativ, brauchen wenig oder keine Ausstattung und sind daher geeignet, soziale Projekte zu tragen. So auch in Brasilien oder Marokko. Im Norden von Paris probten im Dezember ein Dutzend Strassenkinder aus Teresina in Brasiliens Nordeste unter dem Zelt der Zirkusschule Annie Fratellini für eine Aufführung, die von der Kompanie Cirque O betreut wird. Inzwischen existiert in einer Favela von Teresina, angeblich die ärmste Stadt Brasiliens, eine permanente Zirkusschule namens Vivendo e Aprendendo, unterstützt von Frankreichs Kulturexportbehörde, der AFAA. Ähnliches geschieht in einem Slum in der Nähe von Rabat wo mit Unterstützung eines lokalen Kinderhilfswerks, der Unesco und der Ecole Annie Fratellini eine Zirkusschule namens Shems'y entstanden ist. Auch in Libreville im Gabun existiert eine Zirkusschule unter dem Namen Fratellini.
Das primäre Ziel solcher Initiativen ist natürlich, die Kinder generell in einen Bildungszyklus einzugliedern. In Rabat ist das bisher in einhundert Fällen gelungen. Sollten dann einige von ihnen tatsächlich im Zirkus Karriere machen, umso besser. Dass das Potential vorhanden ist, bewies im letzten Jahr im Pariser Cirque d'hiver der Abend unter dem Titel Circafrica. Denn die Zirkuskontinente wachsen zusammen. Formen des Austauschs wie Tourneen, Workshops und Gastperformances in fremden Kompanien nehmen zu zwischen Afrika, Asien und Europa. Schon Jerome Thomas hatte auf das Jonglieren verzichtet, um vor Jahren eine Inszenierung mit kenyanischen Akrobaten zu kreieren. Für Alle, denen die Ausstrahlung von Circafrica auf Arte im Dezember 2001 entgangen ist, hier ein paar Eindrücke direkt vom Ort des Geschehens wo die Truppen ihre Logen in den ehemaligen, wundervoll restaurierten Pferdeboxen fanden. Bemerkenswert ist, wie sich traditionelle Künste mit der zeitgenössischen Idee von Zirkus verbinden. So mutet der akrobatische Maskentanz der Troupe Dodo aus Burkina Faso in seinen Tierdarstellungen wie eine religiöse Zeremonie an. Aus Gabun, der Cirque de l'Equateur, mit Seiltanz, menschlichen Pyramiden und Sprüngen durch Feuerwände, orchestriert durch einen Tanz aus den Hochebenen der Savanne. Aus Kenya dann Jambo Mambo. Die typische Touristennummer, in Zebrakostümen und zu Soukouss- bis Reggaeklängen. Pyramiden, Seilspringen mit Salti, Limbo und Sprünge durch den Reifen, alles in mitreissender Dynamik. Angeblich zeigt sich hier der Einfluss russischer und chinesischer Schule. Die Jongleure vom Ägyptischen Nationalzirkus aus Kairo wirbeln mit Tellern, Waschschüsseln und Bällen oder lassen Dreispitze über ihre Körper kreiseln und spielen gar Fussball mit den wirbelnden Pieksern. Hier zeigt sich, dass die nordafrikanischen Länder dem europäischen Zirkus wesentlich näher stehen als die Regionen südlich des Sahel. Doch durch die eigenen Traditionen entstehen verblüffende Mischungen, zum Beispiel durch Integration eines alten ägyptischen Stockkampfes. Sie inszenierten ihre Show aus Jonglage und Kontorsion wie auf einem orientalischen Marktplatz. In einer zweiten Session spielen sie eine Slapstickszene, in der sie als Fladen- oder Pizzabäcker in einem Restaurant den Chef verwursten, indem sie rasend schnell mit Tomaten, Tellern und riesigen Bestecken jonglieren. Ganz oben in der Hitliste (je origineller, desto hingerissener das Publikum), denn so kann der Zirkus zum Symbol werden für Kraft, Fantasie und Optimismus für die Entwicklung eines ganzen Kontinents. Aus Guinea kam eine Truppe musizierender Akrobaten, Les Niamakalas, eine Art Brass Band die u.a. die Marseillaise auf dem Balafon intonierte. So gibt es in Guinea neben dem Circus Baobab bereits eine zweite professionelle Truppe. Die Mischung aus Musik und Akrobatik ist in Guinea weit verbreitet. In Ghana dagegen soll ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sich der Jonglage hingeben. In Circafrica vermengt das Trio Assassissou Sprünge, Jonglage, atemberaubende Kontorsionen und Tanzschritte, lächelnd und mit viel Humor.
Zurück nach Frankreich, denn auch Homers Iliade ist eine Reise (wert). Das neue Stück des Cirque Baroque beweist, dass die Kompanie von Christian Taguet sich niemals irgendwo festsetzen wird, leider auch nicht in jenen Zonen, in denen sich Publikumserfolg von alleine einstellt. Nach «Ningen», das der Welt Mishimas gewidmet war und «Frankenstein» (Trottoir II/2000) spielt Taguet nun Reiseführer in Troja, zwischen Himmel und Erde, Raum und Zeit. Mehr noch als zuvor legen Taguet und Augustin Letelier den Schwerpunkt auf Dramaturgie und Zeichnung konkreter Figuren und zaubern Dialog und Parallelen zwischen der Antike und unserer Epoche. Helena, Athena, Kassandra und Agamemnon wachen über Archäologen, UN-Blauhelme oder eine trauernde Palästinenserin. Doch dann entfaltet das Stück seine Stärken ausgerechnet, wenn es sich im Fortgang der Handlung Ruhepausen gönnt und sich voll den circensischen Künsten widmet. In den Stricken des Szenarios wirkt «Troja, oder Die Abenteurer der verlorenen Stadt» oft flügellahm. Seit «Ningen» hat die Truppe visuell nicht mehr richig überzeugt. Dafür sind, ganz besonders in «Troja…», die Akrobaten, Jongleure und Mimen in ihren Fähigkeiten umso beeindruckender, auch in der Inszenierung einzelner Nummern. Hier und da hört man ja, der nouveau cirque ersetze technische Fertigkeiten durch Augenwischerei der Inszenierungen. Wer den Cirque Baroque gesehen hat, wird das nicht länger zu behaupten wagen. Dennoch klagt Taguet heute, vom Jahr des Zirkus und den lukrativen Spielorten in Frankreich ausgeschlossen zu sein. Man muss halt die richtigen Freundschaften pflegen, oder sich schmerzvoll alleine durchbeissen (www.cirque-baroque.com).
Auf Strassentheaterfestivals aufzutreten, ist eine andere Art zu reisen. Vor allem, wenn man der prominenteste Jongleur des Landes ist. Jerome Thomas hat inzwischen seinen eigenen Holzbau, rund wie ein Zirkuszelt und sein Spektakel heisst «Cirque Lili.» Hier amüsiert sich der neue Zirkus mit dem traditionellen. Kostüm und Accessoires reichen, um sich in Clown, Dompteur oder Voltigeur zu verwandeln. Mit nur einem Assistenten (Valentin Lechat) ist Cirque Lili praktisch eine Solonummer, und man kann sich fragen, ob das der Bestimmung des neuen Zirkus entspricht. Doch Jerome Thomas macht ja Zirkus über Zirkus, ironisiert das alles locker durch und wirbelt mit Bällen, Federn oder Ballons, bis am Ende eine Weisse Kugel ganz allein auf ihrem Orbit schwebt und so die ganze Unternehmung in einem Bild kondensiert. Denn wie diese Kugel, so schwebt auch der Rundbau des Cirque Lili durch die Zirkuswelt, als solitärer Poet und ironischer Kommentator einer Tradition, deren Gravitationskräfte zu schwer wiegen, um Lili gänzlich in andere Welten entschweben zu lassen. Natürlich hängt Lilis Kugel auch an der Nabelschnur von Jerome Thomas, doch der ist nun einmal Fixstern in einer sich ständig ausweitenden Galaxie der Jonglagekunst.
Dazu zwei Literaturhinweise zu Sonderausgaben, die die Welt des neuen Zirkus brilliant und reich bebildert umreissen: „Le cirque au-delà du cercle" von Artpress (www.artpress.com) und „Avant-garde, cirque!" von Editions Autrement (www.autrement.com ). Beide sind leider nur in französisch erschienen. Auf englisch, und ein exzellentes Portal in die Welt des Zirkus in UK, „Rest of Europe" und sogar USA unter: www.thecircusspace.co.uk
Redaktion: Thomas Hahn