Strassenkunst ist, den Winter ausgenommen, ein ständiger Wander- und Tourneebetrieb und das verlangsamt u.a. die Entstehung neuer Stücke. Um den Austausch von Produktionen und das gemeinsame Finanzieren neuer Kreationen zu fördern, schliessen sich gerade die etwas kleineren Festivals zu internationalen Netzwerken zusammen. So beteiligt sich Viva Cité in Sotteville-les-Rouen an dem europäischen Programm Interreg, das, von drei Festivals ins Leben gerufen, in seine dritte Phase geht. Zu Interreg II (1997-2000) gehörten Viva Cité, La Fête dans la Ville (Amiens) und Streets of Brighton. Alle drei Festivals trugen zur Produktion von „Ngalyod" bei, der Parade von Les Plasticiens volants und der australischen Kompanie Black Dance Australia (besprochen in Trottoir III/2000). Interreg III läuft bis 2003 und wird um Festivals in Lille, Loos-en-Gohelle und Turnbridge Wells erweitert. Das Programm begann im Juni auf Viva Cité mit der Premiere von „Flux" der englischen Kompanie Red Earth, einer Koproduktion die noch während Interreg II begonnen hatte. Zu den Zielen von Interreg III gehört die Eröffnung von ständigen Produktionsstätten für Strassenkunst in Brighton (Creation Center) und Amiens (Le Hangar).
Noch grösser ist das Netzwerk Eunetstar (European Network of Street Arts). Was (leider) wie ein Pool von Fluglinien klingt, vereinigt nicht nur zwei Länder, sondern sechs. Eigentlich sieben, denn aus Belgien beteiligen sich ein flämisches und ein wallonisches Festival und wie sehr der Nationalstaat Belgien ein Kunstgebilde ist, braucht man wohl Niemandem mehr zu erklären. Aus „Belgien" also Namur en Mai und das International Straattheater Festival aus Gent. Dazu das Malta International Theatre Festival in Poznan (www.malta-festival.info.poznan.pl), das Stockton Riverside Festival (www.stocktonfestival.co.uk), das Terschelling Oerol Festival in Midsland (www.oerol.nl), das International Street Theater Festival in Köln und Coup de Chauffe in Cognac.
Das erwähnte „Flux" von Red Earth spielt mit Fackeln und Feuer, Mythen und Märchen ohne sein Terrain zu verlassen. Dass sie durch Feuer, Licht und Klang Kontakt zu höheren Sphären suchen, indem sie zwei von Riesen beherrschte Türme wandeln lassen, macht die Aufführung natürlich heute noch interessanter, wenn auch nicht origineller. Von 1999 bis 2001 dauerte die Entwicklung, ein Zeitraum den viele Produktionen beanspruchen, von der Idee bis zur Premiere.
Und, ja wenn das kein Triumph ist, die Strassenkunst hält Einzug im offiziellen Programm des Festival d'Avignon. Und in der Tat, es war … kein Triumph. Die Kompanie Ilotopie ist fast schon Stammgast in Avignon und ihre Kreation „Cachots/Cachotteries" fiel eher flau aus. Die Idee war, kleine Gruppen von Zuschauern nacheinander in verschiedene Zellen bzw. Sphären zu sperren um sie dort mit Angst und Gewalt zu konfrontieren, mit Rätselhaftem oder Tabu Brechendem. Und dass man nicht unbedingt bequem sitzt, wenn man nicht sogar steht und leicht geschüttelt wird, sollte destabilisierend wirken und die Zuschauer (?) miteinander und sich selbst konfrontieren. Um das zu erreichen, müsste man aber die Sphären sehr viel beängstigender gestalten. Es bleibt alles ein braves Spiel und wir verweilen in jeder Kugel nur drei Minuten, zu wenig um die Phase des Amüsements zu überschreiten. Dass das Ganze in dem Fort Saint André, einem ehemaligen Zuchthaus bei Avignon, wie ein Thriller inszeniert wurde, mit Sherrifs, Hunden und (versuchter) Einschüchterung beim Check-In, war noch der beste Teil des Parcours.
Wenn also weder Stereotypen noch experimentelle Kreation überzeugen, dann beweist das wiederum, dass auch im vierten Jahr Bedarf für den Wettbewerb „Ecrire pour la rue" besteht. Hier können Kompanien oder Autoren eine residence in Chalon-sur-Saone und 3.000 Euro gewinnen. Der Sieger 2001 war die Kompanie Kumulus, deren Szenario über Migration und Entwurzelung ab 2003 auf den Festivals zu sehen sein wird. Einsendeschluss in diesem Jahr ist der 15. April. (L'Abattoir-„Ecrire pour la rue" ; 52, quai Saint-Cosme ; 71100 Chalon-sur-Saone / www.chalondanslarue.com).
Tanz im Wind, im Wagen, an der Wand
In Brighton haben sie sogar einen Strand für ihr Festival und können daher eine Kompanie wie Ex Nihilo aus Marseille nach state-of-the-art präsentieren. „Loin de là" heisst ein Stück von Ex Nihilo das am Strand getanzt wird, mit dreizehn roten Stühlen und einem Metallfass. Sieben Tänzer und zwei Musiker spielen mit Wind und Wellen. Im Zauber der Natur reicht hier einmal „reiner" Tanz während Strassentanz ja sonst eher figurativ daher kommt. Wie zum Beispiel in „Salida", auch von Ex Nihilo wo es um Beziehungen geht. Dieses Stück verträgt städtisches Ambiente und wird sogar indoor angeboten.
Eine Wand dürfte es dafür in jeder Stadt geben, und an der kann die Kompanie Revêtement mural aus Toulouse ihren Fassadentanz aufführen, der sich mit Kletterkünsten vermischt. Der Titel „Quatre suggestions pour mourir triste" (Vier Ideen um traurig zu sterben) zielt natürlich auf Lacher.
Senza Tempo aus Barcelona (www.senzatempoteatrodanza.com) dagegen erzählen mehr als zuvor einen konkrete, anekdotische Geschichte. Ihr neues Stück war zu seiner Uraufführung im Juni auf Viva Cité noch ohne Titel. Zwei Machos mit ihren Frauen verfahren sich auf einer Landpartie an der Costa Brava. Frustriert und streitlustig steigen sie aus ihrem Auto und leben ihre Aggression in Contact Dance und einer Art Tango aus. Eine echte Latino-Komödie, elegant und leidenschaftlich. Inzwischen heisst der road movie von der Costa Branca „Frena mi amor – Brems', Liebster, brems'!" Wenn das Mineralwasser in Strömen über die Gesichter fliesst und weibliche Nevrosen bloss legt, fühlt man sich natürlich auch an Almodovar erinnert.
Les filles d'aplomb aus Strassburg tanzen auf einem Sofa, holen also das Wohnzimmer auf die Strasse. Auch hier eine Geschichte zwischen Männlein und Weiblein, allerdings mit Tanz als Ausgangspunkt und längst nicht so anekdotisch konkret wie Senza Tempo. Dafür aber schürfen die Choreografin und Interpretin Catherine Dreyfus und ihr Partner Frederic Verschoore wesentlich tiefer in den Psychomechanismen eines Paares. Tanztheater auf dem Trampolin wie auf einem Schleudersitz der Gemeinsamkeit, wo jede Geste fatal sein kann. Der Titel „Toit emois" ist ein Wortspiel in dem sich Du und ich, das Dach über dem Kopf und Emotion spiegeln, ganz wie in der unkomplizierten, aber sensiblen und sehr bewegenden Aufführung.
Dem Tanz nahe steht auch eine junge Kompanie aus Aurillac, Trace(s) en poudre. Sie definieren ihr Stück „Portées dis…" als Körpertheater und traten u.a. im Off von Mimos auf. Am Ende der Aufführung bleiben farbige Spuren, Federn und aufgespiesste Makrelen zurück. Da vermischen sich Alltag und Märchen in Szenen aus der Reifung eines Mädchens und die Reife der Aufführung ist erstaunlich für ein erstes Werk. Ein Stück Strasse reicht ihnen als Bühne, und um uns zu verzaubern.
Aufwändiger ist das rote Rüschenzelt der Kompanie Alyades. In „SOS Allégresse" spielen sie zauberhafte Musik auf historischen Instrumenten, mischen Klamauk und Butoh, Marionetten und Sagen, Tanz und Mime. Ob rot verhüllt ober weiss entblösst, die komischen Gnome öffnen und schliessen sich als wären sie eine Qualle, während ihre faltige Yurte wie ein Monster mit zwei Köpfen anmutet. Die Aufführung ist eine Hymne an die Fantasie und den Spass, vielleicht die Comedy-Variation des Herrn der Ringe, im Reich des roten Riesen.
Redaktion: Thomas Hahn
tête-à-tête Internationales Strassentheaterfestival Rastatt 28. Mai bis 2. Juni 2002 Grösstes Festival dieser Art in Deutschland Veranstalter: Stadt Rastatt, Tel.: 07222-972462 Fehler! Textmarke nicht definiert.
SOMMER SZENE Internationales Strassentheaterfestival 25. Juli bis 4. August 2002 Dezentrales Festival im Saarland: Saarbrücken, Völklingen, Dillingen, Illingen Veranstalter: KulturDirekt e.V.
Strassentheaterfestival Ludwigshafen im Rahmen des Kultursommers Ludwigshafen 9. – 10. August 2002 Veranstalter: Stadt Ludwigshafen, Tel.: 0621-51 20 35
Heilbronner SOMMER THEATER Strassentheaterfestival 29. – 31. August 2002 Veranstalter: Stadt Heilbronn, Tel.: 07131-562270
Strassentheatertag im Rahmen des Mosbacher Sommers 1. September 2002 Veranstalter Stadt Mosbach, Tel.: 06161-82236
2002-03-15 | Nr. 34 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn