Kleinzellen bringen die Recherche im modernen Zirkus weiter voran und ziehen ihre Umlaufbahnen, von Finnland bis Afrika, von politisch angehauchter Performance bis Hip-Hop. Aus Zürich kommt ein Kollektiv, das seinen (exzellenten!) Ruf darauf gegründet hat, dass es den Plattenspieler zum Akrobaten machte und dem Zirkus schräge Töne einhauchte. In Sachen Offenheit und Performance-Kunst waren MZdP (Metzger, Zimmermann, de Perrot) ab 1999 mit ihren Stücken „Gopf“, „Hoi“ und „Janei“ Vorreiter. Dann wurde aus dem Trio ein Duo: Martin Zimmermann, der Artist und Mime, und Dimitri de Perrot, der Komponist, DJ und Performer, machten zusammen 2006 das Erfolgsstück „Gaff Aff“. Ihre mysteriösen schweizerdeutschen Titel taten dem Erfolg im französischen Sprachraum, dem Dorado des neuen Zirkus, keinen Abbruch. Und dass heute Frankreich nicht mehr das Monopol auf erfolgreichen nouveau cirque hat, ist nicht zuletzt ein Erfolg der Pariser Kulturfunktionäre, da Frankreichs Schulen Artisten aller Länder ausbilden und das Virus in die Welt hinaus verbreiten. Besonders erfolgreich infizierten sie Finnland. Sinnbild dieser Symbiose ist wiederum das Duo Cirque Aïtal der Finnin Kati Pikkarainen und ihres stämmigen Trägers Victor Cathala. Ihre putzige, burleske und feinsinnige Akrobatik ist ein Renner. Die winzige, gerissene Kati kann den bulligen, aber etwas derben Victor manchmal richtig vermöbeln. Ihre Gags und Tricks sind ein Feuerwerk der Erleuchtung. Auch Cirque Aïtal ist symptomatisch. Einerseits für das Potenzial dieser Kunst, volkstümliche Performance mit zeitgemäßem Blick auf die Gesellschaft und scharfsinnigem Humor zu verbinden, andererseits dafür, dass wie im Tanz immer mehr Duos und Soli die Szene beherrschen. Das Geld wird knapp. Für große Produktionen wird mehr und mehr in „Billiglohnländer“ ausgewichen. Insofern schaffen Zimmermann & de Perrot heute mit „Öper Öpis“ ein antizyklisches Stück, da aus dem Duo nun drei Paare plus eine Tänzerin werden. Aber ihr nächstes Projekt ist eine Inszenierung in Marokko mit den Akrobaten des Groupe acrobatique de Tanger, die zuletzt in „Taoub“ von dem Choreografen Aurélien Bory mit viel Geschick und Sensibilität geführt wurden. Andere Großproduktionen zeigen Kambodschaner, Tunesier oder die Absolventen der Zirkusakademie CNAC in Châlons-en-Champagne, zuletzt in einer Choreografie von Fatou Traoré. Da traten neun Frauen und kein Mann auf. Ein absolutes Novum war das, wenn auch künstlerisch nicht unbedingt erfolgreich. Zu viele gute Absichten verstellten sich gegenseitig den Weg. Und das zeigt: Je höher die Zahl der Artisten, umso schwerfälliger wird die Recherche. Wie wir wissen, will der moderne Zirkus, dass alle Interpreten ständig auf der Bühne präsent bleiben. Auf Soli, Duos oder Trios auszuweichen erhöht da die Flexibilität und die Möglichkeiten zum Experimentieren. Das Konzept von Zimmermann & de Perrot, absurdes Musiktheater mit dem Plattenspieler und mimische Burleske mit philosophischem Humor zu verbinden, ist denn auch nie kopiert worden. Nun mussten sie erfahren, dass es ganz besonders schwierig ist, unter Beherzigung der Ethik des neuen Zirkus Artisten aus aller Herren Länder zusammenzuschweißen. Gelöst haben sie die Aufgabe meisterhaft, doch es hat viel Schweiß gekostet. So ist die Kommunikation der Gruppe unterschwellig ein Leitfaden in „Öper Öpis“. Es ist das komplexeste Stück, das die Züricher Weltenbummler je kreierten, und es hätte ein Ready-made dreier Paargeschichten werden können. Doch dagegen hatten sie einen Impfstoff. Das spanisch-argentinische Paar aus der Kontorsionistin Blancaluz Capella und ihrem Partner Rafael Moraes muss ein gut Teil seiner Trapezkunst (die es ohne Trapez aufführt) hinter einer Wand verstecken. Akzeptieren konnten sie das in ihrer Logik nur schwer. Im Ergebnis ist weniger mehr und das Gefühl von Schauder und Bangen so fesselnd wie in den ersten Tagen des Zirkus. Überraschung ist die halbe Miete. Capella und Moraes hatten noch Glück. Während er sie durch die Luft schleudert und an Füßen oder Händen wieder auffängt, hat zumindest er einen festen Stand. Die Bühne schwankt in „Öper Öpis“ von einer Schräglage in die andere und bringt die Interpreten ins rutschen. Pikkarainen und Cathala haben damit immer wieder zu kämpfen. Unglaublich, wie Kati trotzdem auf Victors Nase einen Turm aus bunten Bauklötzen aufschichtet und ihn liebevoll als Träger ihrer Zweifel und Probleme missbraucht.
Ein Tisch ist eigentlich viel nützlicher als ein Mensch, meint Zimmermann halb im Spaß, und macht damit auf der Bühne Ernst. Da kann aus jedem Lebewesen plötzlich ein Objekt werden. Egal, ob Cathala seine Kati waagerecht oder senkrecht trägt, er schafft es immer, uns glauben zu machen, dass sie nur ihr brettförmiges Abbild ist. Andererseits können Gegenstände plötzlich lebendig werden.
Zimmermann baut schon vor dem eigentlichen Beginn einen Stuhl aus Holzstreben. Doch der hält zusammen wie ein Kartenhaus, ist nur die Illusion eines Stuhls. So wie wir alle uns im Leben Illusionen hingeben, die „Öper Öpis“ mit absurdem Humor unterwandert. Der Titel bezieht sich genau auf diese Konfusion. Öper, der Mensch, Öpis, das Ding. Betrachten wir den Körper nicht als Gegenstand, an dem wir ständig herumhobeln?, fragen sie uns mit Szenen aus dem Fitnessstudio. Da kann jeder Performer Bodybuilder oder Trimmgerät sein. Nun, die eigentliche Maschine des Stücks ist der Schwenkboden, der sich oft so ironisch neigt, dass man glaubt, er würde direkt zu den Figuren sprechen.
„Öper Öpis“ ist ein Mosaik, in dem drei Paare und die Tänzerin Eugénie Rebetez eine instabile, aber ausgeglichene Verbindung eingehen. Sie zeigen auf, wie der nouveau cirque heute werkelt. Alle ästhetischen Grenzen sind gefallen, auch der Tradition gegenüber. CNAC-Absolventen reiten sogar. Niemand braucht sich mehr der Nostalgie gegenüber künstlich abzuschotten, gerade weil die kleinen Kompanien scharfzüngiger und gesellschaftskritischer werden. Zimmermann & de Perrot haben genau das mit „Gaff Aff“ gezeigt. In „Öper Öpis“ füllen sie die traumatischen Szenen wieder mehr mit Poesie und Artistik. Mit „Gaff Aff“ gewannen sie 2007 den Preis des Festivals Mimos, und 2009 werden sie in Marokko die neue Produktion des Groupe acrobatique de Tanger inszenieren. So führt ihr Weg im Moment wieder zurück zur Artistik, gewissermaßen zu den Ursprüngen. Auf die Arbeit mit den Marokkanern darf man umso mehr gespannt sein. Und das nicht nur, weil man sich schon fragen darf, wie denn die Akrobaten aus Tanger so einen schweizerdeutschen Titel verkraften werden, wie das Duo aus Zürich ihn zu seinem Markenzeichen gemacht hat, von „Gopf“ über „Hoi“ bis „Janei“ etc. (www.zimmermanndeperrot.com; www.karwan.info/-Cirque-Aital).
Die nächste Kleinzelle ist auch eine Paargeschichte, die bis Marokko führt. Die Compagnie Cabas besteht aus zwei französischen Artistinnen. Allerdings ist Nedjma Benchaib Tochter marokkanischer Eltern. Thema ihres Stücks „Koulouskouot“ („Halt den Mund und iss!“) ist denn auch die Schwierigkeit, als Individuum zwischen zwei Kulturen seinen Platz zu finden. Was haben die beiden an Witz und Ironie, von arabischen Sprechübungen bis Bauch- und Stocktanz! Aber sie kommen natürlich aus der Zirkusschule und zeigen deshalb sehr persönliche Nummern von Akrobatik bis Jonglage. Man muss wohl, in Anlehnung an das Tanztheater, heute einen Begriff wie „Zirkustheater“ ins Spiel bringen, mit gleicher Tiefe der Bedeutung. Im Leben als Person und Angehörige eines Kulturkreises anerkannt zu werden, ist für jemanden wie Benchaib ähnlich schwierig wie Jonglage. Die Offenheit und Freizügigkeit der Aufführung lassen geplante Auftritte in Marokko ganz besonders spannend werden (ciecabas@yahoo.fr).
Redaktion: Thomas Hahn
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