Ein großer Holzkasten mit Glasfassade, eine Art Schaubude, abgestellt auf einem öffentlichen Platz, die Frontseite der Straße zugewandt. Wer daran vorbeigeht, fragt sich zwangsläufig, was drinnen wohl vorgeht. Man muss aber nah herangehen um etwas zu erkennen, denn die Scheiben sind getönt. Auf den Holzbänken im Innern mögen etwa achtzig Zuschauer Platz finden. Für die neugierigsten Passanten werden sie während der Aufführung selbst zum Spektakulum. Für das Publikum drinnen aber wird die Stadt selbst zum Schauspiel. Ist sie groß genug, um Passanten Anonymität zu bieten, lassen so manche von ihnen ihre Hemmungen fallen und nehmen Kontakt auf mit dem „Publikum“, das ihnen wie Gefangene oder andere Arten surrealistisch gaffender Fabelwesen erscheinen muss. Jugendliche kleben sich an die Scheiben und feixen. Wo die Straßenszenen lebendig genug sind, bräuchte Lotte van den Berg eigentlich gar keine Schauspieler einzusetzen. Deren gibt es immerhin sieben und sie gehen ein und aus, meistens durch eine Tür in der Glasfront. Dann verschwinden sie in der U-Bahn, in der Ferne oder in einem Supermarkt. Im Saal verfolgen wir ihre Dialoge. Die Versuchung ist groß, dann eben auch einkaufen zu gehen und mit einem Fresspaket zurückzukommen. Nicht etwa, weil die Schauspieler uninteressant wären, sondern um selbst Teil der Aufführung zu werden. Draußen verstören die verrückten Holländer gerade die Passanten mit schrägen Tänzen. Dann beackert auch noch einer einen Müllkübel mit Fußtritten. Über sein Mikro hören wir den Rhythmus im Saal. Es ist ein Privatkonzert, das sich mit der Musik von Scott Gibbons mischt. Gerade die Musik verändert noch zusätzlich unseren Blick auf die Stadt. Nun scheint jeder Passant eine Geschichte zu erzählen. Obwohl der Titel der Performance auf ein „Gerücht“ verweist, fügen sich die Dialoge der Performer zu keiner Geschichte zusammen. Und das ist gut so. Denn müssten wir einer Fiktion folgen, würde die uns nur von all den wahren (weil möglichen) Geschichten ablenken, die uns das Volk auf der Straße eingibt. Wie weit werden sie draußen gehen? Bis zu einem Solo mit einer Milchtüte die, hochgeworfen, auf dem Pflaster zerschellt. Eine Polizeistreife schaut misstrauisch. Ziel der Aufführung ist natürlich, uns die Stadt anders wahrnehmen zu lassen. Und hier gelingt Van den Berg ein glattes Kunststück. Denn wenn man dem Straßentheater heute oft genug vorwerfen muss, dass es im Schutz von Schulhöfen, Zelten und anderen nur noch halb öffentlichen Orten die Stadt ausblendet, so macht Van den Berg die urbane Landschaft und ihre Bewohner zum Gegenstand der Aufführung, und das, obwohl sie uns in einen geschlossenen Raum lädt. Aber dieses paradoxale „Gerücht“ kann eben nicht wie andere ins Freie verlegte klassische Formen von Theater im Saal gespielt werden. Van den Berg zeigt politisches Engagement, ohne über Politik zu schwafeln. Lotte van den Berg studierte Theater und Philosophie in Amsterdam und arbeitet als freie Regisseurin in den Niederlanden und in Belgien. Sie inszenierte u. a. „Braakland“ für die Kompanie Drakar (siehe Trottoir NR. 50).
Und dann kommen plötzlich die weltberühmten Feuerwerker von Groupe F und wollen ein politisches Stück machen, ein Antikriegsstück. „Des Paysages“ (Landschaften) heißt es. Kanonendonner, Chansons von Boris Vian über Schlachthöfe und das Völkerschlachten. Da setzen sie großartige Videos ein und große runde Sphären, in denen sie Schattentheater spielen. Dieses Stück ist für Groupe F ganz klar ein Schritt auf neues Terrain. Und der läuft nicht ganz reibungslos. Da bauen sie eine gigantische Palisade als Leinwand auf und über der spielen sie Theater. Die Figuren sind Opfer des Kriegs. Durchgeschüttelt, Zombies, grünlich leuchtend, an Echsen erinnernd oder wie durch Zeit und Raum katapultiert. Manchmal wie Silhouetten von Toten, und dazu Kanonendonner vom Band und Granaten, die senkrecht abheben. Die letzte Landschaft aber ist eher kosmisch. Es kehrt Frieden ein und die Ruhe stiller Wasser. Und am Ende geht es Hand in Hand in die Lüfte, in einer Art Rakete, als würden wir nun auf Exupérys Kleinen Prinzen treffen. Diese Landschaften enthalten also reichlich Motive und sind, wie Landschaften es immer waren, auch recht fotogen, vor allem, was die Videos angeht. Aber es hapert an der Dramaturgie, der Dichte und ausgerechnet am Feuerwerk! Dass Abwege sich als holprig herausstellen können, das mussten schon andere Kompanien erfahren. In jeder Kunst gibt es nur wenige Genies, die sich neu erfinden können, ohne an Qualität zu verlieren. Und das gilt umso mehr im Straßentheater, das naturgemäß eine demonstrativere Ausrichtung hat als Indoor-Theater. Die Kompanie aber scheint sich der Risiken bewusst zu sein und wird weiter feilen in ihrem neuen Epos (www.groupef.com).
Wenn Straßenkunst da auftaucht, wo sie niemand erwartet, dann ist das Politik. Da gibt es in Paris politische Künstlergruppen, die Werbeplakate überall übersprühen, um gegen die Invasion des öffentlichen Raums durch Werbebotschaften zu protestieren. Bei diesen Kommandoaktionen gilt es, schneller zu sein als die Polizei. So hat sich hier letztendlich (noch) kein wirklich künstlerischer Anspruch entwickelt. Aber es gibt Posterrahmen, die von Künstlern permanent als Arbeitsfläche genutzt und auch geduldet werden. Doch im Vergleich mit anderen Weltstädten glaubt man sich in Paris in einem Museum. Urban Screens fehlen total. Keine Chance, sie irgendwo anzubringen, es wäre ein brutaler Stilbruch. Wenn nun in anderen Metropolen auf diesen Medienfassaden statt Werbebotschaften plötzlich Kunstwerke flimmern, dann ist das Politik, und das umso mehr, wenn wie in Berlin auch die Bevölkerung aktiv eingreifen kann. Das erste Medienfassaden Festival bot in Berlin gleich mehrere Projekte. Da konnte man mit der Bewirb Du Dich Agentur seinen eigenen Werbespot kreieren und einspielen. V/R Urban bot einen medialen Speaker’s Corner und der Ambientador bot Internauten die Möglichkeit, Ton- und Bildwelten zu beeinflussen. Die künstlerische Leitung dieser Subversion der Mediengesellschaft und des Werbeterrors liegt in den Händen der Berliner Medienkünstlerin Susa Pop, die in der zunehmenden Verbreitung von Medienfassaden eine neue Herausforderung für Architekten und Kulturschaffende sieht, bis hin zur Einberechnung des Energieverbrauchs (www.publicartlab.com; www.mediaarchitecture.org/mediafacades2008).
Dagegen nimmt sich Tanz eher bescheiden aus, was die Dimensionen angeht. Aber die Kompanie Otradanza aus Alicante kann durchaus einen größeren Raum bespielen, indem sie verschiedene Stationen geschickt in Zeit und Raum verteilt. Eher dramatisch ist ihr Duo an der Baustelle. Unter rinnendem Sand klettern sie das Gerüst entlang. Oder das Finale, mit tiefem Griff in die Farbtöpfe und Anspielungen an Demenz und Lebensfreude gleichzeitig. Surreal und poetisch ist dagegen das Erscheinen der Diva aus dem Nichts, wie eine moderne Märchenprinzessin. Oder die Begegnung eines Paars unter einem Lamellenvorhang, der ihnen auch als imaginärer Spiegel dient. „Orillas“ ist durch sein modulares Konzept äußerst flexibel im Hinblick auf öffentliche Räume verschiedenster Art (www.otradanza.es).
Eher von der heiteren Seite nehmen zwei französische Kompanien den Tanz. Fanfare ballet sind eine Kapelle, die dem Straßenverkehr wie eine Truppe Clowns zu Leibe rückt. Und wenn die Autos erst mal stehen, gibt’s auch Rollen über die Motorhauben. Trotz ihrer weißen Anzüge haben sie keine Angst, über den Asphalt zu rollen. Ihre Welt ist die des weißen Clowns. Deshalb sind sie wenig provokant. Sie schleichen sich sanft in die Mechanik des Alltags, um sie einen Moment lang auszuhebeln. Je nach Situation improvisieren sie auch mit dem Publikum oder mit Ladengittern. Und das Wort Ballett steht nicht aus Zufall im Namen. Dass sie dabei musizieren, gibt der Veranstaltung fast Dorffest-Charakter. Vielleicht ist es sogar ein wenig zu nett?
Tango Sumo gibt sich humoristisch in „Moyen plume“. Der Titel spielt auf die Gewichtsklassen im Kampfsport an. Und das Duo zeigt ein munteres Duell zwischen Judo und Sumo. Hinten spielt der Schlagzeuger und vorne streiten sich der Grimmig-Stämmige und der Wendig-Listige. Diese Satire hat weder Schiedsrichter noch Sieger, aber sie bringt viel Spaß für das Publikum durch beeindruckende Akrobatik und ferne Erinnerungen an japanisches Ritual (www.tangosumo.com).
Redaktion: Thomas Hahn
AdNr:1018
2008-12-15 | Nr. 61 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn