Hoch über Backnang steht die Stiftskirche St. Pancratius, nach einem Brand im Jahr 1697 zwar einfacher wieder aufgebaut, aber immer noch ein sehenswertes Bauwerk. Auf der Rückseite ein schöner, von Kastanien beschatteter freier Platz mit herrlicher Sicht auf Backnang und die Murr, die im Bogen die Altstadt umfließt. Der heute „Freithof“ genannte freie Platz war vor dem 12. Jahrhundert vermutlich der Friedhof der Pfarrgemeinde Backnang. Oft bin ich hier schon gestanden, wenn bis zum Beginn der Vorstellung im TraumZeit-Theater noch etwas Zeit war, denn auch der Gewölbekeller des Bandhauses, in dem das Theater untergebracht ist, grenzt an diesen ehemaligen Friedhof. Aber die Idee, hier ein Open-Air-Festival zu veranstalten, wäre mir nicht gekommen. Zugegeben: Michael Holderried, der Theaterdirektor, ist hier zur Schule gegangen – die exakt in dem Gebäude war, in dem er jetzt sein Varietétheater betreibt. Daher kennt er den Platz noch als Pausenhof. Und seine frühen Berufsjahre auf dem Finanzamt, das ganz in der Nähe residiert, hat er ebenfalls hier verbracht. Trotzdem: Auf der schmalen Seite des trapezförmigen Geländes zwischen Außenmauer und Kirche die Bühne einzupassen und damit den Platz nach hinten abzuschließen, die Zuschauer und die Bewirtungs- und Technik-Zelte auf dem Friedhofsplatz zu platzieren und die evangelische Kirchengemeinde um Spielerlaubnis zu bitten – auf den Gedanken muss man erst einmal kommen.
Dem Konzert auf nachgebauten historischen Instrumenten Des Geyers schwarzer Haufen war der Wettergott dann leider nicht so wohl gesonnen: Dieses Gastspiel musste wegen Regen und Sturm ins Theater verlegt werden. Um so mehr ließen sich dann aber die Besucher des Open-Air-Varietés am Tag darauf von einigen Teilnehmern der Varieté-Schule und den professionellen Lehrern dieser Kinderferienfreizeit begeistern. Diese nutzten die raffiniert einbezogene und effektvoll beleuchtete Kirchenkulisse mit Freitreppe zur Sakristei-Holztür und eine weitere überdachte Außentreppe an der Mauer als willkommene Kulisse und stimmungserzeugenden Hintergrund für ihre Darbietungen. Ein über die Friedhofsmauer drapierter roter Vorhang und das davor hängende Drahtseil schufen eine umbausparende Seitenbühne, ebenso das am Ende der kurzen Freitreppe auf dem Absatz vor der Sakristeitür aufgebaute Piedestal für Enricos hochkarätige Handstand-Äquilibristik – während der Arbeit von 2 stimmungsvollen, großen Kerzenleuchtern eingerahmt.
Enrico war der vielseitigste Artist des Abends: Er glänzte mit Jonglage am Trapez, auf dem Drahtseil, als Fakir und mit der schon erwähnten Handstandarbeit. Auf dem Drahtseil tanzte er mit Partnerin Janina Sperlich, die auf dem dünnen Draht unter anderem aus dem Stand in den Spagat ging. Acht Mädchen der Varieté-Schule hatte Janina in nur einer Woche beigebracht, wie man Pyramiden baut und mit anderen Elementen der Bodenakrobatik zu einer Nummer verbindet, in die die Trainerin Janina als neunte Mitwirkende völlig integriert war. Eine Nummer, die den Ausführenden und den Zuschauern große Freude machte und die sich hinter dem leistungsstarken Profiprogramm in keiner Weise zu verstecken brauchte. Wenn man bedenkt, dass eine so große Pyramide nur gelingt, wenn jeder auf jeden achtet und sofort ausgleichend reagiert, wenn etwas aus dem Lot zu geraten droht, dann wurde in der Varieté-Schule wohl weit mehr gelehrt als eine vorzeigbare, artistisch-sportliche Leistung zu präsentieren (zur Ferien-Varieté-Schule siehe auch Trottoir 44/2004. In diesem Jahr lief sie ganz ähnlich ab, betreut von den bewährten Lehrern, allerdings bereits in zwei Kursen nacheinander mit der doppelten Anzahl an Kindern, also insgesamt 120.
Neben seiner perfekten Sieben-Ring-Solo-Jonglage hatte Enrico noch eine Keulen-Duo-Darbietung mit Alexander Koplin einstudiert, der seinerseits Variationen zum meisterhaften Umgang mit 3 Jonglierbällen und einem bzw. zwei Diabolos demonstrierte. Eine für die imponierende architektonische Kulisse besonders geeignete, abwechslungsreiche Feuershow vereinte Varietéschüler Michael, das Crew-Mitglied Dirk und nochmals Enrico und Alexander zu den 4 TraumZeit-Feuerteufeln, die das rundum gelungene und von Werner Schaffrath zaubernd und bauchredend angesagte Varietéprogramm und gleichzeitig das gesamte Open-Air-Festival einprägsam abschlossen.
Einem 2. Open-Air-Varieté im kommenden Jahr steht, denke ich, nach dem gelungenen Auftakt 2005 nichts im Weg. Bereits jetzt steht fest, dass zuvor die besonders erfolgreiche 19. Monatsproduktion vom Mai 2005 „Viva Las Vegas“ komplett im Mai 2006 wieder auf dem Spielplan steht. Damit wird das 100. Jubiläumsjahr von Las Vegas würdig beendet. Und viele begeisterte Zuschauer werden gerne ein zweites Mal kommen, wenn Elvis-Imitator Phil Dexter mit den bekanntesten und besten Hits beweist, dass der King nicht tot ist. Dieses Thema bildet den roten Faden, der Spitzenartisten zu einem spannenden Programm zusammenbindet: Antje Pode (Fußjonglage mit ungewohnten Gegenständen wie Koffern, Taschen und Orangen, und eine Nummer mit einer Mischung aus Vertikaltuch und Strapaten), Illusionist Karel Busch und seine Bohemia Dancers, Dany Daniel (aus der Circusfamilie Lorador, mit Rola-Rola) und Partnerin Edina (in einer Tanzparodie zusammen mit Dany) und vor allem auch die Zauberer-Legende Finn Jon.
Zuvor wird das TraumZeit-Theater aber noch – nach der September-Varieté-Produktion „Jetzt geht’s rund“ – den Jahreskongress der I.B.M.-Deutschland in Backnang ausrichten. Für die Öffentlichkeit wird es dabei am 30.9. eine von Sylvia Schuyer zauberhaft moderierte Varieté-Gala und am 1.10. eine „Welt der Illusionen“ mit Finn Jon, Tel Smit, Roy Roth aus England, Karel Busch und anderen geben, moderiert von Dixon. Wegen des zu erwartenden großen Andrangs werden beide Veranstaltungen im Backnanger Bürgerhaus stattfinden.
Am 28.10. kommt Kabarettist Matze Schenk mit seinem Soloprogramm „Papa trinkt wieder“ ins TraumZeit-Theater. Er belegte im vergangenen Jahr den 2. Platz im Wettbewerb um „die goldene Backnanger Treppe“. Das November-Varietéprogramm wird vom Schattentheater Vangatei Erhardt gestaltet. Und bereits am 25.11. startet das 3. Backnanger Weihnachtsvarieté, unter anderem mit dem Akrobaten The Abdul, dem schwarzen Theater Papillon und dem Hausherrn Michael Holderried mit Großillusionen. Chapeau wird zaubernd durch das Programm führen. Weitere Informationen, auch über die hier nicht genannten musikalischen Gastspiele, den Jonglage-Workshop im November und die Zauberschule, unter www.traumzeit-theater.de oder Telefon 0 71 91-90 85 20, Montag–Freitag von 10.00–17.00 Uhr.
Redaktion: Manfred Hilsenbeck
2005-09-15 | Nr. 48 | Weitere Artikel von: Manfred Hilsenbeck