Die (Musik-) Welt scheint nachdenklicher und melancholischer zu werden. Jenseits von Metal und Techno ist Träumen angesagt. Daran ist nichts Verwerfliches. Sich von Musik verzaubern zu lassen, ist legitim. Eine, die diese Kunst aufs Beste versteht, ist die Kanadierin Dale Kavanagh. Sie lässt ihre Zuhörer regelmäßig einfach in Musik versinken. Dabei wird selbst der Stellenwert der dargebotenen Stücke nebensächlich. Dale Kavanagh betritt die Bühne, um ihre Zuhörer mitzunehmen auf eine Reise in die Schönklänge der Gitarristik.
Sie ist eine Lyrikerin auf der Gitarre, die sie virtuos beherrscht. Und eine Romantikerin dazu, die sich kontemplativ die Werke zu Herzen nimmt und sie mit Herz interpretiert. Dem Komponisten Carlo Domenico etwa widmet sie ihr spielerisches Können, setzt die ungeheure Dynamik des „Triptychon“ frei, meditiert den zweiten Satz „Intonazione“ und spürt den Bach’schen Inspirationen nach. Die vereinigen sich mit Einflüssen von Powell oder Villa-Lobos.
Das Liedhafte liegt dieser Interpretin, etwa dann, wenn Melodik und Fröhlichkeit sich in Ruiz-Pipos „Cancion y Danza“ begegnen oder die Hoffnungslosigkeit in Rodrigos „Invocation e Dance“ immer wieder durch Dreiviertel- und Vierviertel-Tänze durchbrochen wird. Das Volksliedhafte zelebriert Dale Kavanagh in ihren eigenen Bearbeitungen eines alten Liedes ihrer Heimat Neuschottland/Kanada („Briny Ocean Toss“) oder der Auseinandersetzung Robinovitchs mit „Kol Nidre“ aus der Jom-Kippur-Zeit. Applaus aber bekommt diese Gitarristin nicht nur zum Schluss. Bejubelt wird auch ihre Komposition, bei der sie die Klangfarben der „Contemplation“ verfügbar macht und im furiosen Abschluss „A la Fueco“ dafür sorgt, dass sich Energie freisetzen kann. Das alles aber haben die Zuhörer nur am Rande wahrgenommen. Sie sind berauscht von einer Virtuosin, die Musik traumhaft verwirklichen kann.
Mit Aniello Desiderios Saitenartistik in Berührung zu kommen, hat ebenfalls etwas Fantasiehaftes. Sein erstes Konzert gab der Italiener bereits im Alter von acht Jahren. Mittlerweile gehört der 1971 in Neapel geborene Virtuose zur ersten Garde der Klassikgitarristen. Erste Preise gewann er weltweit bei allen namhaften Festivals, nicht zuletzt wegen seiner filigranen Spielweise.
Sein Solorecital gerät zu einer Sternstunde der Gitarristik. Optimal vorbereitet und mit einer absolut genialen und präzisen Technik bringt er sein Instrument zum Klingen. Da filtert er aus Scarlattis „Tre Sonate“ die Basslinien heraus, ohne die virtuosen Umspielungen zu vernachlässigen, und erzeugt im Zusammenklang immense Synergieeffekte. Liebevoll sein Umgang mit dem zweiten Teil dieses Werkes, dem er tausende gespielter Noten in faszinierender Leichtigkeit folgen lässt. Seine Umsetzung von Mauro Giulianis häufig aufgeführter „Rossiana 5“ setzt neue Akzente. Durchdacht arbeitet er die Rossini-Themen heraus, die strahlen wie funkelnde Kristalle.
Desiderio ist Spurensucher, ergründet die experimentellen Ansätze in d’Angelos „Due Canzone Lidie“ und verhilft den Satzbezeichnungen Tranquillo und Agitato zu ihrer ursprünglichen Bedeutung. Kaum ein Atemzug ist im Auditorium zu hören, wenn Desiderio die dynamischen Feinheiten und die rhythmischen Miniaturen in Fallas Hommage an Debussy ergründet. In allen Facetten spielt er mit Farben des Klanges, setzt Pausen dort, wo es ihm und dem Werk gemäß ist – und den Zuhörern lieb.
Was dieser Gitarrist aus seiner Gitarre zaubert, grenzt ans Unglaubliche. Treffend setzt er den Schlussstrich des Programms mit dem „Capriccio Diabolico“ von Castelnuevo-Tedesco. Dieses Paganini gewidmete Stück spielt er – Gott sei Dank – teuflisch gut.
Mehrfach durfte ich ihn spielen hören. Aber diesmal hat sich der italienische Virtuose selbst übertroffen, markiert seine Extraklasse und entlässt seine Zuhörer nach den Zugaben mit Staunen.
Auch Volker Höh reiht sich nahtlos in die erste Liga der Guitarrieros ein. Er ist als Solist – auch mit Orchestern und in kammermusikalischen Besetzungen – international auf den Konzert- und Festivalbühnen zu Hause. Die von der Fachkritik ausgezeichneten CD-Produktionen sowie regelmäßige Rundfunk- und Fernsehaufnahmen dokumentieren seinen künstlerischen Rang ebenso wie zahlreiche ihm gewidmete Werke renommierter Komponisten. Mich beeindruckt vor allem seine Umsetzung der lateinamerikanischen und spanisches Danzas Fantasticas. Seine Artistik auf dem Griffbrett verschafft dem Zuhörenden einen gleichermaßen spannungsgeladenen wie entspannenden Abend. Aufsehen erregend ist auch seine Hommage an den Buena Vista Social Club. In dieser gönnt er seinem Publikum gleich ein komplettes Konzert mit kubanischer Musik. Und die interpretiert er einfach großartig!
Die Grenzen zwischen Klassik und Sinti-Jazz sind fließend. Hier wie dort betört der Klang das geneigte Ohr – mitreißend und manchmal in andere, traumhaft-schöne Welten entführend.
Seit dem legendären Django Reinhardt scheint der Name Reinhardt Synonym zu sein für das Festhalten und Fortführen der musikalischen Traditionen und Leidenschaften des bekannten Vorfahren. Zumindest entsteht dieser Eindruck beim jährlich stattfindenden Festival in Koblenz.
Mitreißend ist das, was etwa Djangos Erben Mike und Moro (Gitarre) mit Dawo Reinhardt am Bass 90 Minuten lang ins Auditorium schicken. Atemberaubend die Soli, kraftstrotzend und elektrisierend die Rhythmen, die mitsamt der unendlichen Vielfalt der Jazzharmonik von diesen Saitenartisten zelebriert werden. Ein Festival-Urgestein ist Sascha Reinhardt, der es sich nicht nehmen ließ, trotz Handicaps nach schwerem Unfall mit seinem Ensemble auf die Bühne zu gehen.
Sascha ist Garant für das Swing- und Waltz-Feeling à la Django und Hot Club du France.
Unter tosendem Beifall betritt auch Lulo Reinhardt mit seiner Band die Bühne, um einmal mehr seinem Publikum zu zeigen, dass seine Kreativität im Umgang mit Klängen und Rhythmen schier grenzenlos ist. Lulo ist nicht nur als Gitarrist ein Phänomen. Unter anderem malt er auf der nach ihm benannten „Lulo-Reinhardt-Gitarre“ die Vielfalt der musikalischen Klangfarben, zelebriert einzelne Töne wie Kristalle und lässt sie einfließen in das absolut beeindruckende Gesamtbild der Arrangements. Latino-Percussion liiert mit Flamenco-Harmonik, Spanien trifft Australien. Und in all dem hat Lulo Bodenhaftung, bleibt nicht nur in der Sprache der Titel seiner Sinti-Tradition verbunden. Berauschend fließt der Samba „Mu mal“ aus den Lautsprechern. Beim „Somewhere in Sydney“ nimmt Lulo seine Zuhörer mit auf eine Traumreise nach Australien. Percussion, Schlagzeug und Bass liefern bei allem die pulsierende Rhythmik, zu der Klavier-, Trompeten-, Flöten- und Saxofonsoli Kapriolen schlagen.
„Projekt No. 2“ heißt die CD, die die Band an diesem Abend live präsentiert. Wer No. 1 kennt, staunt über die nochmalige Steigerung. Lulos Band ist perfekt eingespielt, bringt seine Musik auf den Punkt. Uli Krämer (Drums) und Jürgen Schuld (Percussion) brechen aus dem Alltäglichen aus und sorgen für mitreißenden Drive. Wolfram Schmitz am Klavier kreiert gleißende Soli und markante Jazzapplikationen. Am Bass versetzt Johannes Schädlich die Kompositionen mit klaren Konturen. Uwe Schmidt (Trompete) und der Chilene Sergio Teran (Saxofon, Flöte und Gesang) flechten ihr Können ein in das imposante Ganze. Und über all dem können der Geiger Daniel Weltlingen und Ron Jackson (Gesang) musikalische Anmut entfachen. Das löst immer wieder Begeisterungsstürme aus.
Zu den bekannten Sinti-Virtuosen gehört auch der Geiger Titi Winterstein. Mit seiner Formation setzt er die Urkraft des Swing und des Czardas frei und lässt die russische Zigeunerseele triefen. Nicht nur dafür wurde er von Yehudi Menuhin geehrt und heimste internationale Preise ein. Die Zuhörer feiern diesen Genius ebenso wie Galo Weis, dessen Quartett einmal mehr die Saiten und die Zuhörerherzen zum vibrieren brachte. Ein genialer Schlusspunkt eines großartigen Festivals.
Bleibt am Ende die Frage, ob denn Musikzauber ein Trend ist oder eine grundsätzliche Eigenart der Musik. Wie dem auch sei: Musikalische Schönheit bewegt Herzen – auch meines.
Bis demnäx.
Redaktion: Bernhard Wibben
2005-09-15 | Nr. 48 | Weitere Artikel von: Bernhard Wibben