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    Die Zirkuswelt mit und ohne Geld und Zelt


    Ohne Zelt kein Zirkus
    . Einfach hinweggefegt wurden die meisten Zirkuszelte in und um Paris in den Morgenstunden des 26. Dezember. So stehen wohl einige Zirkustruppen vor dem Ruin wenn nicht die Kulturministerin mit ein paar Millionen aushilft. Das Unwetter traf die traditionellen Truppen härter als den nouveau cirque, dessen Kompanien ganz andere Werdegänge aufweisen und oft in geliehenen Zelten auftreten. Doch auch die Compagnie Foraine, die Zirkus mit bildender Kunst verbindet, hat ihr Zelt verloren. Völlig zerfetzt wurde das Zelt des Cirque Arlette Gruss in dem das 22. Festival mondial du cirque de demain stattfinden sollte. Ohne Zelt kein Zirkus und keine Kasse.

    Geld findet der neue Zirkus leichter als der traditionelle. Eine der größten Banken Frankreichs, Banque Paribas, fördert neben Tanz und Theater nun auch diese Gattung. Einige Bankiers hatten «Kayassine» von Les Arts sauts genossen. Im Liegestuhl, den Kopf ‘gen Zeltkuppel träumend, infizierten sie sich mit dem Zirkusfieber. Doch das Geld, je 450.000 Francs verteilt auf drei Jahre, bekommen zum Start Johann le Guillerm (Cirque ici) und Gulko der die Kompanie Cahin-Caha leitet. Bald wollen Frankreichs Zirkuskünstler auch Geld von US-Stiftungen für Tourneen in den USA. Dazu muss man sich dann schon selbst für sich die Trommel rühren. So gibt es bald ein Buch mit lauter Fotos von Cirque ici. Nabelschau in schwarz-weiß. Dabei wird auch von der Presse nachgeholfen. Die Revue Artpress (www.artpress.com) brachte einen Extraband zum neuen Zirkus heraus der auf 190 Seiten das Phänomen gründlich durchleuchtet. Und die vom Kulturministerium finanzierte Stiftung «Hors les murs» (www.horslesmurs.asso.fr)  kommt mit einem Jonglage-Special der Zeitschrift «Arts de la piste» das zwanzig Kompanien vorstellt und generelle Fragen diskutiert, z. B. Jonglage medizinsich gesehen. Dort erscheint übrigens auch eine Zeitschrift zum Strassentheater, «Rue de la folie.»

    Glück hatte der Cirque Plume, dessen Zelt dem Sturm standhielt, wohlbehütet im Parc de La Villette. Glück? Auch im Zirkus gibt es schon eine Ständegesellschaft. Das neue Superspektakel, deklariert als Zirkusoper mit dem Titel «Mélanges» hält zwar nicht dem Anspruch statt, mit dem nouveau cirque strukturierte Kunstwerke zu schaffen, doch «Mélanges – opéra plume» bietet Akrobatik, Jonglage, fast schon Tanz, viel Musik, Humor Engel, schwarzes Theater mit Luftritten auf dem Kontrabaß, Kammermusik, Rock, Folk, Reggae… Poesie und Engelsflügeln, zwischen Zirkus, Theater und Konzert. Ein Gemischtwarenladen für jeden Geschmack und einigen Bravourstücken.

    Ohne eigenes Zelt kommen Les Frères Kazamaroffs zurecht, ein Duo das sowohl in Theatern, im Freien und im Zelt auftritt. In "Le Cirque clandestin" (Untergrundzirkus) konstruieren sie die Geschichte zweier illegaler Einwanderer aus dem Osten. Erst klettern sie als Mumien aus einer Art Eisenbahncontainer, dann verwandeln sie ihr Rohrgestell in ein Klettergerüst. Vladimir und Aljosha heißen sie auf der Bühne. Im Leben lernten sich Gérard Clarté, der in der Tat an der Zirkusakademie von Budapest zum Jongleur und Akrobaten wurde, und Benoît Belleville bei Archaos kennen, als beide 1991 in "Metal Clown" auftraten. Sie jonglieren nicht nur mit Bällen sondern auch mit Federn und werden zu ironischen Folklore-Clowns. Zwar fehlt es ein wenig an Rythmus, doch "Le Cirque clandestin" gehört klar zu den besseren Acts. Dazu kommt gut gemeintes politisches Engagement, das allerdings künstlerisch eher behindert.

    Schon im August, und damit endet der Rückblick auf Mimos, stand der Cirque baroque in Périgueux ohne Zelt da denn das Gelände war schon von der Stadt belegt und «Ningen» (s. Trottoir  1/99) mußte ins Theater ausweichen, was größte Skepsis hervorrief. Denn der Steg auf dem die Geister, Samurais und Mishimas jonglierend sich tummeln verläuft zwischen den Zuschauern und gerade darin schien ja der besondere Reiz der Aufführung zu liegen, wenn die Akrobaten über den Köpfen der Zuschauer schweben, welche zu Erden auf Kissen sitzen. Nun mußten Christian Taguet und Agustin Letelier die Szenerie um 90° drehen und die Zuschauer auf japanisches Ambiente verzichten. Großes Erstaunen: das Experiment gelang. Manche Szenen waren sogar besser einzusehen und die Show war so wirbelnd und beeindruckend wie zuvor. Für Manchen gar des Guten zu viel.

    Fröhlicher als mit Avner Eisenberg aus New York hätte Mimos nicht enden können. Zwar tourt er schon 15 Jahre ausgiebig mit «Avner der Exzentriker» durch die Welt, doch hier sieht man was ein Lebenswerk ausmacht: Leichtigkeit, Brillianz, feinster jüdischer Humor, Akrobatik, Burleske, Pantomime, meisterhaftes Spiel mit dem Publikum. Ist das noch Humor oder schon Philosophie?  

     

    Ohne Russen kein Variété.

    Das Festival «Les feux de la rampe» verschreibt sich dem Genre Music-hall, auf deutsche Variété, und die Zirkusnummern finden deshalb im Theatersaal statt. Carla und Jean-Claude Haslé sichten Festivals und Videos um weltweit, zumindest in ganz Europa, Jongleure, Akrobaten, Magier etc. auszuwählen. Beim Festival gibt es dann Preise die von so erlesenen Persönlichkeiten wie Madonna Bouglione und Jean Guidoni vergeben werden. Zwar enttäuschte die Selektion ’99, doch nur gemessen an den hohen Erwartungen. Eine der interessantesten Nummern kam aus Rußland. Gerasim Drobot und Valeri Popov sind zwei Bodenakrobaten die Artistik mit bildender Kunst und einer Art Ballett verbinden. In ihren schwarzen Bodysuits und Masken, einem etwas martialischen Outfit, erinnerten sie die Franzosen an korsische Piraten.

    Zu den Jongleuren des Festivals: Bruce Wilson jongliert mit Ringen, mit denen er lebende Figuren zeichnet. Wilson tritt als moderner Pierrot auf, im bläulichem Licht einer Atmosphäre zwischen Märchentraum und Beckett in. Ein Genuß. Andrej und Aleksander Kirjushine, wieder aus Rußland, jonglieren auf die komische Tour in Leuchtfarben und einer närrischen Welt zwischen Shakespeare und Eulenspiegel. Dabei spielen sie das ganze Feuer ihrer weniger als 20 Jahre aus. Thomas Wallborn dagegen streichelt seine Bälle in Tango-Romantik, gibt den Akrobaten und auch Tänzer. Zum Schluß dann noch eine Diabolo-Zugabe von Bruce Wilson im Techno-Rythmus und schwarzem Lackleder. Hedonismus pur.

    Und die Magier? Höllischer Rythmus auch hier, mit Scott Penrose, dem zum parlieren keine Zeit bleibt da er alle zehn Sekunden einen Trick ausführt. Objektverwandlungen, Tauben und viele Blitze. Doch der Chef-Ornithologe unter den Magiern heißt Arnaud. An Tauben kommt niemand vorbei, aber wer sonst zaubert mit Sittichen, Papageien und Kakadus? Die steigen nicht nur aus den Hüten etc., sondern verschwinden auch wieder auf magische Weise.

    Nur eine Frau stand im Rampenlicht: Anastassia Bykovskaia, eine Gymnastin aus der Ukraine mit einer Hoola-hop-Nummer im Techno-Rythmus. Trotz Beherrschung von acht Ringen gleichzeitig nicht besonders aufregend, aber der Charme der Darbietung war der Jury auch einen Preis wert.

    Ohne Kammer keine Oper.

    Da es den lyrischen Sängern in Frankreich an Auftrittsmöglichkeiten mangelt, hat sich in der Pariser Enge das Genre der Kammeroper stark entwickelt. Kammeroper wird auf kleinen Bühnen mit Piano oder reduziertem Orchester gespielt. Dabei hat sich die Compagnie du Tabouret zusätzlich auf komische Oper für Groß und Klein spezialisiert. Die neue Produktion, wieder in der feinfühligen Regie von Sugeeta Fribourg, spinnt sich um ein Thema aus 1001 Nacht. In "Salima sac à ruses" (Die durchtriebene Salima) glänzen die Sänger ebenso wie ihre Kostüme. Dabei werden die Sänger auch zu Schauspielern. Das Libretto ist voller Raffinesse, doch die Ausdruckskraft der Darsteller überwindet Sprachbarrieren. Außergewöhnlich ist auch, daß hier nur Musik komponiert wird. Die Partitur von Gérard Condé ist ein Leckerbissen für Freunde zeitgenössischer E-Musik und wird vom Ensemble 2e2m interpretiert, das dem Ensemble Modern vergleichbar ist.

     

    Ohne Drehorgel kein Tango.

    Neue Wege werden im Tango selten genug beschritten. Zum Glück haben wir Haydee Alba, eine der besten lebenden Sängerinnen des Genres die immer mehr ihre schauspielerische Ader zur Wirkung bringt. Dazu kommt thematische Arbeit in der Musik. 1998 hatte sie auf ihrer CD "L'Epoque tango" (Playasound PS 65198) alle Titel an der Drehorgel begleiten lassen. Das brachte Flair von 1900 obwohl das gar nicht authentisch ist, denn vor Haydée Alba kam noch nie jemand auf die Idee, zum Leierkasten Tango zu singen. Doch prägten beide dieselbe Epoche und das Ergebnis ist epochal. Im Dezember kam nun ihre neueste CD heraus, "Milongas y... al tango - Borges" (CD Playasound CP 65222), die den Milongatexten von Jorge Luiz Borges gewidmet ist. Auch hier begegnen wir der Drehorgel, aber auch raffinierten Arrangements von Gustavo Beytelmann für Bandoneon, Piano, Kontrabaß und Guitarre. So ergibt sich ein Konzertprogramm, das zu Beginn der Sängerin als solcher huldigt und bald mit dezenter Theatralik Bilder von Fellini, Straßenszenen und Buenos Aires hervorruft. Ihre Stimme, fein klar und zerbrechlich, kippt überraschend um in ein schnatterndes Parlando. Wenn Haydée Alba in "Martirio" das Mikro weglegt und am Boden kniend singt, dann stehen für ein paar Minuten in ihrem Gesicht, ihren Händen und ihrem Gesang die Leiden eines ganzen Kontinents. Verwundbarkeit, Wehrlosigkeit sind Leitmotive dieses Tangoabends mit dem Titel "Magie et Nostalgie" der mehr bietet als einfach ein Konzert. Haydée Alba hat das Zeug zur Schauspielerin und Regisseurin Caroline Loeb hat Licht und Dunkel, Praesenz und Spiel filigran dosiert und ein lebendes Kunstwerk geschaffen. Ganz unaufdringlich. Alle neun Abende an der Bastille-Oper waren ausverkauft. Man kann nur allen Tango-Freunden wünschen, bald mit Haydée Alba ihre Hommage an Borges zu teilen.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2000-03-15 | Nr. 26 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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