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    Erstens kommt es anders, zweitens wenn man denkt

    Zerknüllte Zeitungsfetzen türmten sich im trüben Bühnenlicht, ein glubschäugiges, breitmäuliges Menschenwesen, nackt bis auf die Feinrippshorts, kroch aus einem riesigen, durchsichtigen Plastikball und glotzte verständnislos ins Publikum. Das glotzte ähnlich zurück. Das GOP Hannover liebt es, seine Besucher von Zeit zu Zeit mit ungewöhnlichen Shows zu verblüffen und hielt den Start ins Jahr 2000 wohl für eine würdige Gelegenheit. „Carpe diem“, nutze den Tag, lautete der Titel der einzigartigen Produktion des Cirqe Bouffon, die in einem wortlosen Reigen aus Musik, Licht und stimmig inszenierten Varieté-Nummern die Zuschauer letztlich zu Beifallsstürmen hinriss. Star des Abends: Ball-Artist Frederic Zipperlin, frisch preisgekrönt vom Zirkusfestival in Paris, der mit durchsichtig glänzenden Kugeln und Würfeln brillierte und dabei im engelsweißen Drachenkostüm ein wunderbar absurdes Bild abgab. Mit Percussionist Ernesto Terri gab er zudem eine grandios witzige Comedy-Einlage gab – allerdings war Terri in seinen Soloauftritten enttäuschend, der Bremser des Abends. Inszeniert hatte das Ganze der Herr der Glupschaugen-Maske Philippe Naud; den ungewöhnlich vielfältigen musikalischen Rahmen schuf Klangkünstler Finn Martin auf Saxofon, Olivetti-Schreibmaschine und, nicht zu vergessen, seinen Stimmbändern. Für eine war die Show ein Heimspiel: Sarah Schwarz begann ihre Karriere einst beim hannoverschen Kinderzirkus Giovanni; sie überzeugte mit einem spannenden Tanz auf dem Seil.

    Ansonsten beherrschen wenige Wochen vor dem Tag X (=Expo) eher bange Visionen das Bild der Stadt. Oder, wie es unser Stadtkabarettist Dietrich Kittner beschreibt: „Überall in Deutschland werden die Hannoveraner derzeit freundlich empfangen: Nirgendwo Baustellen, Umleitungen oder Staus, denn: Alle Schilder sind in Hannover.“ Die Spannung steigt, was von der Baustelle sich noch rechtzeitig eröffnungsreif mausert. Die Bühnen jedenfalls haben sich – mehr oder weniger gut - gerüstet: Das GOP streicht seine Sommerpause und bietet unter dem Titel „Bilder einer Ausstellung“ ein international verständliches Programm mit hochkarätigen Künstlern; als Ausgleich stehen ab 17. Juli – also mitten in der Expo-Zeit - ausschließlich norddeutsche Künstler auf der Bühne, moderiert von Desimo. Das stets ausverkaufte Kleine Fest im Großen Garten legt erstmals ein viertes Wochenende ein, vom 6. bis 30. Juli wird verwandelt sich der Barock-Garten jeweils Donnerstags bis Sonntags in eine große Kleinkunstbühne.

    Als Bonbon für Expo-Gäste lädt an teilweise recht ausgefallenen Stätten in und um Hannover eine halbstädtische Institution namens Kulturkaleidoskop zu Musik, Kunst und Kleinkunst ein. Der moderierende Magier Desimo zaubert im Kunstatelier, die fünf Sänger der A-capella-Gruppe Modell Andante singen „zwischen 1000 Gurken und Tomaten“ und „Garantiert Kaktus frei!“ im Gewächshaus Nötel in Jeinsen, Niels zeigt seine Körperkunst zum Thema „Mime, Natur, Technik“ im Stadtmuseum Burgdorf und Marianne Iser und Thomas Duda praktizieren gnadenlose Lebenslust ausgerechnet im Amtsgericht Wennigsen. Das Hildesheimer Gesangsduo befindet sich übrigens weiter im Aufwind und hat kürzlich einen neuen Preis eingeheimst – wie im Porträt auf einer anderen Seite in diesem Heft ausführlicher zu lesen ist. Alix Dudel, Ingrid Bensch, Bengt Keine und Holger Kirleis, alle sind dabei; wann und wo genau liest man am besten unter www.kulturkaleidoskp.de.

    Apropos Duo im Aufwind: Caroline Schreiber stellte jüngst gemeinsam mit ihrem Pianisten Andreas Tarkmann ihre erste CD von Chansons vor. Die Texte schrieb, wie könnt’s in Hannover anders sein, unser Front-Texter Friedhelm Kändler, und da die Dame so gut schauspielern wie singen kann, war das Programm so kurzweilig wie bissig. Üblicherweise eher mäkelige Kritiker-Kolleginnen amüsierten sich auch beim dritten Mal noch köstlich. Auch sonst bastelt Niedersachsen eifrig weiter am Nachwuchs, nachdem Matthias Brodowy mit seinem „Kaltstart“ ja nun dermaßen abhoben hat, dass er uns nur noch selten beehrt. Wie er gebürtig aus Braunschweig stammen Die Handwerker alias Sven Nagel und Detlef Schumann, deren Szenen aus dem alltäglichen Tiefsinn unter dem schönen Motto „Erstens kommt es anders, zweitens wenn man denkt“ Publikum wie Kritiker begeisterten: „In kurzen Szenen aus dem Leben karikieren sie gekonnt den einfachen Menschen, ohne immer alles nur schlecht zu finden“, schrieb ein Göttinger Kollege, und den Satz könnten die beiden eigentlich nahtlos ins Programm übernehmen. Von sprechenden Crash Test Dummies bis zum Tag der offenen Männergruppe – vom 23. bis 25. 3. im tak. Dort debütierte Mara Hudek im Oktober im Nachwuchswettbewerb und wurde trotz nicht schlechter Konkurrenz mitsamt Akkordeon und Liedern aus eigener Feder eindeutiger Publikumsliebling. Sie schafft Wohnzimmeratmosphäre und singt, während sie spricht, oder spricht, während sie singt, von Liebe und anderen schaurigen Dingen.

    Weniger überzeugend fiel leider die diesjährige Premiere von Haus-Haudegen Dietrich Kittner im tak aus: „Früher habe ich Politiker karikiert – heute zitiere ich sie nur noch“, kann man als den Kernsatz nehmen. Kittner zitiert, und zwar fassungslos, aus Wahlreden und Parteiprogrammen, die alle dem Krieg abschworen und ihn kurz darauf führten. „40 Jahre unter Deutschen“, so wollte der Kabarettist sein Bühnenjubiläum feiern, doch die Rückschau verkürzte sich unversehens aufs letzte Jahr. Dass von deutschem Boden noch einmal eine Kriegsbeteiligung ausging, hat den unerschütterlich Linken wohl zu tief getroffen, um sich satirisch darüber auszulassen. Da schwang ein anderer doch wesentlich schärfer das Satirebeilchen: Thomas Reis, der in „Ein Schwein wird Metzger“ mit Verve und Wortgewandheit die seltsame Metamorphose der Generation zwischen 30 und 40 beschrieb und sich damit prompt den diesjährigen „Gaul von Niedersachsen“ ermetzelte, den Preis, den das tak dem jeweiligen Saisonliebling verleiht. Verdient, logisch.

    Eines aber werden wir der internationalen Gästeschar vorenthalten: Die Mimuse, Norddeutschlands großes Kleinkunstfestival startet erstmals nicht im Oktober, sondern erst im November, wenn der ganze Zinnober vorbei ist und wir wieder erleichtert lachen können. Das gab’s im letzten Herbst reichlich und gleich von vorneweg. Da nämlich schlich sich ein biederer Herr Marke Oberlehrer in Schlips, Anzug und Goldrandbrille auf die Bühne und stellte sich als Pantomime vor. Zumindest wollte er das mal gerne werden, meinte er, aber Pantomimen seien ja eher so große schlanke dunkellockige Typen und das sei er nunmal leider nicht. Außerdem habe zwar die Pantomime eine Renaissance erlebt, nicht aber das Publikum. Dafür aber kenne er sich aus, mit der Pantomime, und rollt eine unglaubliche Einmann-Show ab: Von der Erzieherin im preußischen Offiziersgeist bis zurm lippenfeuchten Vamp, vom verstörten Beamten bis zum smarten Youngster: „Pinguin“, so sein Künstlername, schafft sie alle. Zu gern würde man Norbert Herrmann, so der bürgerliche Name des urkomischen Meisters der Körperkarikatur, öfter auf öffentlichen Bühnen sehen. Doch als waschechter Schwabe spielt der lieber für viel Geld vor wenig Publikum auf Managerseminaren.

    Das wird Uwe Steimle schon eher selten passieren: Der frischgebackene Preisträger der Leipziger Lachmesse ließ seine kultigen Sachsen Frau Bähnert und Herrn Zieschong aus den Ruinen der Wiedervereinigung auferstehen. Wenn Frau Bähnert mit echtem Ossi-Dederon-Einkaufsbeutel berichtet, wie sie freiwillig mehr Miete bezahlt, weil ihre arme Wessie-Vermieterin doch so viele Häuser habe, für die sie so viel bezahlen müsse, dann schlagen die Wellen der Begeisterung im Theatersaal Langenhagen hoch. Und wenn der als Kommissar aus „Polizeiruf 110“ bekannte Künstler dann noch anhebt, mit schwellenden Halsschlagadern und quietschenden Stimmbändern Erich Honecker zu imitieren, ist kaum der Kleinmut der öffentlich-rechtlichen Sender zu verstehen, die Steimle noch immer nicht dem Publikum zumuten wollen.

    So furios wie dieser Auftakt konnte der Rest kaum sein, doch hielten von Susanne Weinhöppel über Arnim Töpel bis Gardi Hutter praktisch alle, was sie versprachen. Die Schweizer Clownin hatte zum Finale erstmals ihren Partner Ueli Bichsel mitgebracht und spielte absurde Szenen einer dreißigjährigen Ehe durch – zuletzt im Jenseits, in weißem Nachthemd, an einen ferngesteuerten Plastikeimer gebunden, warten die beiden auf das jüngste Gericht. Auch wenn mancher noch Hutters Heiliger Hanna nachtrauert, war dieses Programm deutlich schräger als das zuvor gezeigte.

    Bis nach der Expo,

    Evelyn Beyer

     

    Termine:

    noch bis 18.3.. „Reite den Tiger“, 14. Calenberger Kabarettwochen in der Werkstatt Galerie Calenberg

    01.03. Matthias Brodowy mit „Kaltstart“ in der Werkstatt Galerie Calenberg

    05.03. Mara Hudek im tak

    11.03. Theater-Dinner im Gsthaus Hahn in Ottenstein

    12.03. WoWo-Festival im Expo-Café

    12.03. Georgette Dee & Terry Truck mit „Kupfermond“, Theater am Aegi

    14.03. Friedhelm Kändler und Jo van Nelsen im daunstärs, Langenhagen

    23.-25.03. Handwerker im tak

    24.03. Clown-Comedy-Show 2000 von Absolventen der Clowns-Schule TUT in Hannover im Kurtheater in Bad Pyrmont

    25.03. Alix Dudel im Gasthaus Hahn in Ottenstein

    30./31.3. Hebebeühne mit „MUT IV – Ein Dichter singt, ein Pianist spielt Melodica und Geige (ungestimmt)“ in der Werkstatt Galerie Calenberg

    02.04. Matthias Brodowy mit „Kaltstart“ im Rathaus Hannover

    06.-09.04. Marianne Iser / Thomas Duda in der Werkstatt Galerie Calenberg, Release der neuen CD „Vor uns die Nacht“

    08.04. Coco Camelle im Gasthaus Hahn, Ottenstein

    09.04. Kändler classics im tak

    12.05. (voraussichtlich!) Comedy-Varieté-Bühne in Wolfenbüttel, die Veranstalter sind im Gespräch mit Gunnar Carino (Moderation/Zauberei) und MelvinMovin Brown (Stepptanz/Gesang)

    26.05. Hebebühne mit „MUT IV – Ein Dichter singt, ein Pianist spielt Melodica und Geige (ungestimmt)“ im Künstlerhaus Hannover

    07.-10.06. Thomas Reis im tak

    Voranzeige Mai 2001: 1. Wolfenbütteler Straßenfestival der Kleinkunst

    2000-03-15 | Nr. 26 | Weitere Artikel von: Evelyn Beyer





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