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    Dampfwalze Klassik überrollt Kleinkunst

    War im letzten Trottoir noch die Rede von der langen Tradition des Théâtre du Ranelagh als Hochburg der Zirkuskünste und Clowns auf Theaterbrettern, so bläst der Wind in der rue des Vignes nun scharf aus Richtung Sprechtheater. Ein harter Schlag mit dem Brett ins Gesicht der Clowns und Artisten, die dort bisher durch die Eichenholzbänke stürmten und dem Publikum auf den Knien herumturnten. Und gleich noch ein Opfer: die "Pépinière Opéra", das "Saatbeet" der Kleinkunst, nur zwei Straszenkeuzungen von der Opéra Garnier (die mit dem Phantom) entfernt und bisher reserviert für Chansonniers, Clowns wie Howard Buten und Talente aus Akrobatik, Mime, Tanz, Chanson etc. Verschluckt von einem Privattheater wurde die Pépinière nun zu dessen Zweitbühne. In Paris, das gerade wieder eine lebendige Kneipentheaterszene entwickelt, ist eine richtige Bühne leider nur mit geschwollenem Scheckbuch zu besteigen. Fällt Kleinkunst nun ins Wasser? Schon schwimmt auf der Seine ein neuer Talentschuppen, direkt vor den vier Türmen der neuen Mega-Bibliothek und doch nicht in Gefahr, von Klassikern erdrückt zu werden. "El Alamein" heiszt das Boot, jeden montagabend angemietet von der Initiative "Les copains, d'abord", so getauft nach einem Chanson von Brassens. Es gilt, Talente aus allen Bereichen zu entdecken: Comedy, Tanz, Akrobatik, Poesie, Musik, Mode, Foto, was auch immer... Das kleine Extra: Die Ausgewählten werden von echten Stars aus Chanson und Schauspiel betreut, und das schafft ein wenig Publicity. Wer von M.A. Productions entdeckt werden möchte um auf "El Alamain" eine Kostprobe seines Talentes zu geben, der greife zum Handy und wähle 00 33 1 43 87 00 04 oder schreibe an: M.A. Productions - "Les Copains, d'abord" - 7, rue Gammeron - 75018 Paris. Der Sinn der Abende liegt auch darin, am reservierten Künstlertisch Kontakte zu Kollegen und Stars zu knüpfen. Ein ex-Hamburger war schon mit an Bord: Comedy-Jongleur Immo, der mit luftigen Gags und Jonglage Light sein Publikum mit softem Lächeln umgarnt und sich dem Charme der Seine als würdig erweist. Den Mann aus der Schmidt-Show wirft Pariser Wellengang nicht um. Vom Feinsten war der Handtheaterauftitt von Fred: Zwei Hände und ein Gesicht, die nur zwei Kugelaugen brauchen um die Essenz der Kreatur in ein paar Fingerübungen zu erfassen: vom Tintenfisch über Schildkröten und Schlangen bis Frankenstein. Doch bei den "Copains" darf, wenn er die Sichtung besteht, auch auf die Bühne wer bisher nur in der Metro auftrat. Das gab es in der Pépinière nicht, wo ein Art-Brut-Auftritt wie Diesteln im Gewächshaus gewirkt hätte.

     

    Neue Nasen verplappern Klassiker

    Auch neue Nasen sind rot: Les Nouveaux Nez, das bedeutet, wenn gesprochen, auch: Die Neugeborenen. Sie sind unbestritten Frankreichs beste Clowns und eine feste Kompanie aus vier Bouffons war glasklar eine Neugeburt als die Zirkusakademie von Chalon, das CNAC, zum erstenmal eine Abschluszprüfung in Form einer Aufführung veranstaltete. Aus diesem Brutkasten für neue Zirkuskunst stammt übrigens auch die Kompanie Anomalie mit ihrem von Josef Nadj inszenierten "Cri du Caméléon". Alle vier Neu-Nasen sind geleichzeitig Akrobaten, Sänger und Clowns. Ihre Akrobatik läuft präziser und schneller als jedes schweizer Uhrwerk. In ihrem neuen Stück, "Le Théâre des Nouveaux Nez" verulken sie die Klassiker von Molière über Shakespeare bis Cyrano de Bergerac oder Lewis Caroll. Und wissen, dasz sie mit solcher ver-Textung im Ausland mit sprachkundigem Publikum einen Saal nicht füllen können. Und keine Gelegenheit zu ihren Scherzen hätten: Zuspätkommer jagen sie gern mit Fusztritten zum Sitz oder tragen sie auf dem Rücken durch den Saal. Daher verspricht ihr Regisseur, Eric Riot-Sarcey, im nächsten Jahr wieder ein Stück ohne Worte zu schreiben.

     

    Bulgarisches Handspiel

    Das Spiel mit den Händen beherrscht auch Ivomir Ignatov. Der Bulgare reiste nach Frankreich um auf Europas grösztem Marionetten-Festival in Charleville-Mézières aufzutreten und ragte dort aus der Sintflut von Aufführungen hervor. Dann hatte er das Glück dasz ihm Pierre Moutarde in seinem protzigen Betontheater in Saint-Quentin-en-Yvelines (nicht so weit von Paris entfernt wie es klingt) einen Arbeitsaufenthalt ("résidence") finanzierte. Wer solche Gönner hat, braucht nicht mehr zwischen den Blumenkästen der Hausboote aufzutreten. Ignatov ist Clown, Mime, Schattenspieler und das "Theater Hand" in einer Person. In dem 60-Minuten-Programm "Ego" werden  seine Hände zu Kasperfiguren, abstrakten Objekten oder Lichtpunkten. Sein zweites Programm ist für Kinder. Dort verwandelt er bunte Plasiktüten in schwebende Meeresfauna und gibt selbst den Clown. "Ego" ist dagegen von Clownerei und Lazzi befreit und gewinnt Klarheit und Tiefe in simplen Gesten und Formen. Ignatov ist ein lachender Beckett des Schattenspiels.

     

    Magie im Techno-Wirbel

    Auch unter den Magiern findet sich an der Seine ein Einwanderer. Der hektischste aller Zauberer stammt aus Österreich: Otto Wessely. Dasz er sich "Le magicien fou" nennt, ist glatte Untertreibung. Seine Weltklasse-Tricks unterstreicht der Zappelfreak, der schon in Las Vegas und im Crazy Horse wirbelte, mit Techno-Beats. Dasz er nicht völlig ausflippt, verdankt er wohl seiner Frau Christa, die ihn auf der Bühne begleitet. Wenn der Raver mit den flinken Fingern sich das "Todesmahl" aus hundert Rasierklingen am Bindfaden aus dem Hals zieht, stockt Allen der Atem auszer ihm selbst, der mit Extasy zur Welt gekommen zu sein scheint. Dasz er plant, im September in Paris die Techno-Parade mit seinen Tricks zu begleiten, kann niemanden wundern. Wer einen Auszug sehen möchte, kann das bis 15. Juni im Stuttgarter Friedrichsbau-Variété wo Otto zur Zeit mit Künstlern aller Sparten die Bühne teilt.

     

    Magie unter Dalis Vorhang

    Ganz anders, durch und durch französisch, nämlich surrealistisch-raffiniert, präsentiert sich Yvan Gauzy. Nicht die Tricks sind ihm das Wichtigste, sondern das Konzept einer Show, die selbst zum Kunstwerk wird. Gauzy be-zaubert im Badetrikot von 1920, mit weiszem Faltenrock und trägt den Bühnenvorhang auf dem Kopf, wie ein von Dali gemalter Scheich, zwischen surrealistischen Kupferskulpturen und Tonbandeinspielungen von eben jenem Salvdore der sich anläszlich eines Theaterbesuches empört "Il n'y avait même pas de rideau!" (Nicht einmal einen Vorhang gab es!), womit der Titel des Abends erklärt ist. Kein Grosztrickwirbel wie bei Wessely, sondern 100% Close-Up mit Kartentricks die sich als solche fast auflösen im Schlund des Messing-Rabens, zwischen Satie und Aztekenkunst. Neben einfühlsamen Gesprächen mit Kindern verpackt Gauzy seine Tricks in Satire und läszt Dali sprechen: "Jesus ist ein Käseberg!"

     

    Magie auf Betriebsausflug

    Den klassisch-konservativen Magier verkörpert der graumelierte Jan Madd. Von klimpernden Münzen bis zur schwebenden Jungfau im Orient-Look und der durchbohrten Geisha-Imitation: zurück in die Phantasien der 20er Jahre. Otto Wesselys Rasierklingen am Bindfaden könnten fast die Seine überspannen, Jan Madd bringt es auf exakt vier Stück. Das aber auf seinem eigenen Theater- und Restaurant-Schiff, der "Metamorphosis", die gegenüber von Notre-Dame ankert (Tel 00 33 1 45 84 10 11). Die unbeholfenen Choreographien der drei "Magic Girls" zielen treffsicher auf den Geschmack eines internationalen Betriebsausflugspublikums. Dabei bewies Madd vor Jahren mit einem Programm zu Méliès und der Magie des entstehenden Kinos, dasz er nicht immer so anbiedernd und konzeptlos herumkünstlert wie zur Zeit in "Artifices".

     

    Zauber der Historie

    Neben den lebenden Magiern kann man in Paris auch den Illusionisten der Historie begegnen. Das "Musée de la Curiosité et de la Magie" lädt zu einer Reise durch die Zauberei von der Antike bis Houdin und Houdini. Wer wissen möchte, welches der einzige im Mittelalter von der Kirche erlaubte Trick war, wer sich mit angewandter Physik amüsieren will, wer historische Requisiten, Schreine und Accessoires oder eine Sammlung kurioser mechnischer Puppen in Aktion erleben möchte, bekommt als Zugabe nicht nur einen Rundgang durch mittelalterliche Kellergewölbe im Marais-Viertel die einst als Krawanserei dienten, sondern auch eine äuszerst humorvolle Close-up-Kurzperformance geboten. Die Adresse des Museums ist: 11, rue Saint-Paul, 75004 Paris. Führungen werden auch auf deutsch und englisch angeboten.

     

    Tango als Konzeptkunst

    Auch Tango paszt auf kleine Bühnen, wenn von einem Duo gespielt das Artango heiszt und wenn dieses darauf verzichtet, von einem Streichquartett oder Symphonieorchester begleitet zu werden. Jacques Trupin (bandoneon) und Fabrice Ravel-Chapuis  (piano) komponieren den besten zeitgenössischen Tango, und das so konsequent dasz sie auf Arrangements alter Ohrwürmer ganz verzichten. Ihre Auftritte, auf deutschen Bühnen nicht mehr unbekannt, enthalten immer eine Prise Theater und visuelle Kunst, arrangiert von der Regisseurin, Ghislaine Lenoir. Je gröszer die Begleitung, desto pointierter das Bühnendesign. Die Musiker begegnen sich, entdecken, zwinkern und erzählen mit "Un soir"/ "One night" eine Geschichte die keine ist, am Abend X in einer anonymen Stadt. Auf der neuen CD, "Un soir", stehen sie im Dialog mit dem Orchester (siehe Kasten), auf der Bühne spielen sie allein oder in Begleitung. Im August treten sie im Rahmen des Schleswig-Hostein Musikfestival auf, danach am 20. Und 21. November in Bad Homburg und Altena.

    Zum Strassentheater: Die Kompanie Arche de Noé existiert seit 1967 und entwickelt ein historisch-sakral orientiertes Theater aus Gestik und Masken, Gemälden und Mythen. Aktuell im Repertoire: "La Quinta del Sordo", eine indoor-Performance nach den "Pinturas Negras" von Goya, in dem die Figuren geschnitzte Vollmasken tragen. Doch fast die Hälfte der bisher 20 Kreationen wird outdoor gespielt. Noch im Programm ist "L'An Mil" (Das Jahr 1000), in dem das nachgestellte Relief eines römischen Tympanon zu Leben erweckt wird. Gespielt wird auf einem Gerüst vor Fassaden von Kathedralen oder anderen historischen Mauern. Das ist Straszentheater vertikal, Fassadentheater. In "L'An Mil" gehen die Masken von Kopf bis Fusz, die Schwerter schlagen aneinender und aus der Hölle lodern die Flammen des Jüngsten Gerichts. Der sakrale Bezug reflektiert den Willen, in den Städten eine Art Archäologie zu betreiben und in Stein gemeiszelte Boten der Vergangenheit zu Leben zu erwecken. Masken sind älter als Literatur, begründet der Leiter der Kompanie, Guilaume Lagnel, sein textfreies Panoramatheater. Am Ende von "L'An Mil" erstarren die kämpfenden Ungeheuer. Fackeln, spanische Cantigas und Gedichte verstummen. Eine der beeindruckendsten Aufführungen, die über übliches Straszentheater weit hinaus wächst. 

     

    Redaktion: Thomas Hahn

     

    TERMINE

     

    Immo

    1., 8., 15., 19. Juni

    Espace Jemmappes

    116, quai Jemmappes

    75010 Paris

    Tel 00 33 1 48 03 11 09

     

    Cirque Ici

    Solo-Zirkus von Johann Le Guillerm

    La Villette

    18.Mai-27. Juni

    Tel 00 33 1 40 03 74 82

    www.la-villette.com

     

    Francois Chat

    Jongleur, Tänzer und Mime, der schon mit Robert Wilson zusammen arbeitete

    9.-23. Juni in Saint Denis/Paris

    Tel 00 33 1 55 870 870

    Festivals:

     

    Parade(s)

    5. und 6. Juni in Nanterre/Paris

    Straszentheater und neuer Zirkus

    u.a. mit:

    Gosh (D/F)

    Tout Fou to Fly (F)

    Itchy Feet (D)

    Stromboli (F)

    Les Grooms (F)

     

    Jonglage-Festival "Dans la jongle des villes"

    10.-13. Juni Theatre 71 in Malakoff/Paris

    mit Jérôme Thomas Tel 00 33 1 46 55 43 45

    Chalon dans la rue vom 22.-25. Juli

    mit, u.a.:

    Antagon Theater (D): "Equinox Terminal"

    Royal de Luxe (F) : "Petits contes nèegres"

    Theatre Blanc (CZ) : "Toi Skieur"

    26 000 Couverts (F) : "Direct"L'Arbre aà nomades (F)  : "UPH" / "Azar"

    Les Pietons (F) : "Urbanologues associés", "La Chose humaine"

    Tel 00 33 3 85 48 99 71

    www.chalondanslarue.com

     

    Festival d'Aurillac vom 18.-21. August

    u.a. mit:Kulmlus (F): "Tout va bien"

    Carabosse (F): "Les Jardins"

    S.A.M.U. (F): "L'Armée du S.A.M.U."

    Teatro del Silencio (Chile): "Alice Underground"

    La Fura dels Baus (e): "Furamobil"

    Tel: 00 33 4 71 45 47 46

    www.aurillac.net

     

    Mimos

    vom 2.-8. August in Périgueux

    u.a. mit:

    Antagon Theater (D) : "Terminus Equinox"

    Cirque Baroque (F): "Ningen"

    Theater Terra (NL): "Appel d'air"

    Theatre Blanc (CZ): "Vous, skieurs!"

    Nola Rae (Aus): "Mozart"

    Tel: 00 33 5 53 53 55 17

    1999-06-15 | Nr. 23 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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