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    Aktuelle Kritik - Claire Waldoff-Abend

    Ich will aber gerade vom Leben singen... - Sigrid Grajek ist Claire Waldoff

    artbild_220_Sigrid_Grajek_CDass es sowas noch gibt: Tischtelefone. Unseres ist die Nummer 26, die kugelige Lampe darüber leuchtet in einem warmen Rot. Wir sind im Ballhaus Berlin, Chausseestraße 102. Der Mann am Empfang war ungewöhnlich freundlich - untypisch für Berlin ­- und jetzt fragen wir uns, wo wir hier gelandet sind. Flashback in die 1920er Jahre Berlins: ein zweistöckiger, riesiger Ballsaal, von den großen Leuchtern hängen bunte Glitzersteine, an den Wänden großbusige Frauen in Stuck neben Löwenköpfen, und über der Bühne mit rotem Vorhang glitzert eine riesige Schleife.

    Energiebündel Sigrid Grajek

    Und während wir noch staunen und ganz vorsichtig den Hörer des Telefons abheben, um zu sehen, was passiert, rast da auf einmal eine Frau in Männerkleidung in den Saal, rennt um die Tische herum auf die Bühne und fängt an zu singen – „Man ist nur einmal jung“. Schon ab diesem Moment wissen wir: das hier wird ein gelungener Abend. Denn Sigrid Grajek, begleitet am Piano von Stefanie Rediske, artbild_180_Grajek_Rediske(Bold) kann nicht nur singen, sie hat auch die nötige Energie, um diese Rolle auszu-füllen. Die Rolle einer Königin des Kabaretts, einer Künstlerin, deren Lieder in den Zwanzigern jedes Kind singen konnte. Claire Waldoff (1884-1957) war von 1907 bis 1935 der Star auf den Brettern der großen Kabaretts und Varietes - nicht nur in Berlin. Eine Zugwanderte war sie – berlinerte aber wie eine Echte. Ihre Lieder wurden auf der Straße gesungen -"Hermann heeßt er!", "Wer schmeißt denn da mit Lehm?" oder "Sein Milieu" kannte jedes Kind. Zille zeichnete Claire Waldoff, Kurt Tucholsky be- dichtete sie.

    Der richtige Ton

    Waldoff traf den Ton, der die Menschen berührte, weil sie eben "gerade vom Leben singen wollte" - von den Sorgen und Nöten, von den Freuden und Verwicklungen, die das Leben mit sich bringt. Mit ihrer Liebe zu ihrer „Braut“ Olga hielt sie nicht hinterm Berg. Noch bevor das Zeitalter der "neuen Frau" ausgerufen wurde, nahm sie sich alle Freiheiten, die ihr in den Sinn kamen und setzte sich über die Beschränkungen, die Frauen damals auferlegt wurden, hinweg. Eine emanzipierte Frau, aber keine männerfeindliche: Männer waren zwar „Lümmels“, aber doch erwünschte Freunde.

    Die Berliner Schauspielerin Sigrid Grajek, die seit 1998 mit der Comedy-Figur Coco Lorès und seit 2005 mit ihrem Solo-Programm "Cocooning" unterwegs ist, hat ihr Waldoff-Programm anlässlich des 50. Todestages der Künstlerin im Jahre 2007 konzipiert und gastiert seitdem damit deutschlandweit.

    Wer schmeißt denn da mit Lehm?

    In Nadelstreifenhose, Schlips und Jackett macht Grajek nicht nur die Geschichte der Claire Waldoff lebendig, sondern auch das Berlin der Zwanziger und folgenden Jahre. Sie lässt die Jahre Revue passieren: 1914 sang sie, um die Leute während des Krieges bei Laune zu halten, nach dem Krieg trat sie in Garçon-Mode auf, mit Zille zog sie durch die Kneipen – „ich hab mir dann immer ein Damengedeck genehmigt“.

    Die Welt wurde leer

    Ab dem Aufstieg der Nazis wurde ihre Karriere dann – vor allem durch Goebbels – behindert. „Die Welt wurde leer, viele meiner Freunden waren Juden“, sagt Grajek/Waldoff dann nachdenklich. Aber sie war zu populär, als dass man sie wirklich verbieten konnte. Nach dem Krieg konnte sie nicht mehr anknüpfen an ihren Erfolg, verarmte, zog schließlich mit ihrer Lebensgefährtin nach Süddeutschland. Aber ihr Lebenswille war unerschütterlich bis zum Ende. Und so sieht Grajek die Waldoff jetzt fröhlich auf einer Wolke hocken: die „kieckt wat da unten so looft“ und zu vielem Heutigen ihren Senf dazugeben: über Schönheits-Operationen beispielsweise hat auch sie schon ein Lied gesungen – „Ich lass mir nicht meine Nase verratzen“.

    Immer noch aktuell

    Was das Programm spannend macht, ist nicht nur, dass Grajek/Waldoff auch weniger bekannte Lieder singt, die vergessen sind, wie z.B. „Mein YoYo“ oder „Die kleine Villa“, sondern dass sie immer wieder den Bogen in die Gegenwart spannt: „Drei Themen beschäftigen uns auch heute noch: Liebe, Arbeit und Geld. Darum geht es letztendlich“, sagt Grajek. Und genau darüber hat Waldoff gesungen.

    Wat fürn Abend also: tolle Künstlerinnen, begeisterte ZuschauerInnen, viele älteren Semesters – von denen einige immer wieder zustimmend während des Programms nicken – und was das Ballhaus Berlin betrifft: keine aufdringlichen Kellner, die unbedingt was zu trinken verkaufen wollen. Eine Wohltat. Unser Tischtelefon hat zwar nicht einmal geklingelt, aber wir haben uns dennoch ganz prächtig amüsiert.

    Weitere Informationen: Sigrid Grajak Ballhaus-Berlin


    Redaktion: Katrin Schielke

    Bildnachweis:
    Oben
    - Sigrid Grajek_Claire Waldoff-Abend Foto:Guido Woller
    Unten - Grajek und Rediske Foto: J. Hartmann

     

    2016-01-04 | Nr. 89 | Weitere Artikel von: Katrin Schielke





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