Bereits vor mehr als 10 Jahren prognostizierten Freizeitforscher, dass im kulturellen Bereich die Produktionen auf dem Vormarsch seinen, bei denen wahre „Kostümschlachten“ gepaart würden mit unterhaltsamer und guter Musik. Die Flut der Musicals scheint dies zu bestätigen. Aber noch in anderer Hinsicht scheint an den Prognosen etwas dran zu sein.
Tschaikowsky hätte es sich wohl nicht träumen lassen, dass zwei Männer sein 1892 in St. Petersburg uraufgeführtes Ballett „Nussknacker-Suite“ eines Tages aufs Glatteis führen würden. Einer von beiden der Generaldirektor Mikhail Kaminow, der andere ein begnadeter Choreograf namens Konstantin Rassadin.
Die beiden haben gemeinsam an der Quadratur des Kreises gearbeitet und es geschafft, klassisches Ballett mit Eistanz zu fusionieren. Das St. Petersburger Staatsballett On Ice ist das einzige Eisballett der Welt. Und ein wahrer Publikumsmagnet. Mit mehreren tausend Menschen erlebte ich gemeinsam in einer der Vorstellungen Tschaikowskys Erfolgswerk in einer zauberhaften Eis-Choreografie.
Winterlich-weihnachtlich das Bühnenbild, in welchem märchenhaft die bekannte Geschichte von Clara und dem verwunschenen Nussknacker tanzend erzählt wird. Letzterer besiegt nicht nur die Armee der zerstörungswütigen Mäuse, sondern betört nach seiner Verwandlung in einen Prinzen auch das Herz der ihn anbetenden Clara. In seinem Reich der Süßigkeiten genießt das Paar die Eisakrobatik und den tänzerischen Anmut der Schneeflocken, der spanischen, orientalischen, chinesischen Tänze. Am Ende spüren die Zuschauer das Ende dieser wunderschönen Traumwelt, als Clara in der Realität anlangt und die ihr von Drosselmeier geschenkte Nussknacker-Puppe in den Arm nimmt.
Die Tänzerinnen und Tänzer des Petersburger Balletts haben an diesem Abend Grandioses geleistet. In einer imposanten Mischung aus temporeicher Eisartistik sowie überaus synchronem Eistanz mit wahrhafter Eleganz ist es ihnen gelungen, in einem fantasievollen Bühnenbild und mit einer mitreißenden Choreografie eine märchenhafte Tanzdarbietung auf die Bühne zu bringen, die unterhaltsam war, spannungsgeladen und zu keiner Sekunde langweilig.
„Schön war’s“, sagt am Ende ein Zuschauer. Recht hat er. Allerdings wär’s wohl noch schöner gewesen, wenn die Musik aus dem Orchestergraben und nicht aus den Lautsprecherboxen gekommen wäre.
Womit wir also wieder bei den Musikern wären, die Handgemachtes präsentieren und auf voluminöse Kostümierungen vollkommen verzichten.
Einer dieser Menschen ist Wolfram Schmitz. Inspirieren lässt sich der grandiose Pianist und Arrangeur sowohl von Klassikgrößen wie Richard Strauss oder Brahms als auch Jazzgrößen wie Baden Powell oder Keith Jarrett. Auch seine Nähe zu Dave Brubeck ist spürbar. Mit ihm stehen Volker Heinze am Bass und der Drummer Roland Höppner auf der Bühne, um einmal mehr mit der Vitalität des Jazz nicht zu geizen und ganz nebenher Clubatmosphäre zu schaffen. Standards und Eigenes hat das Trio sich vorgenommen – nicht avantgardistisch, sondern eher harmoniebesessen und beseelt von ureigenen Ausdrucksformen. Schon bei „Night in Tunesia“ erfährt der Zuhörer die musikalische Sprachfähigkeit der drei Musiker. Tempo- und Rhythmuswechsel werden scharf konturiert, Breaks auf den Punkt gespielt. Der unendlichen Spielfreude und Spontaneität lässt Wolfram Schmitz freien Lauf, wählt zwischendurch die Klangfarbe für seinen musikalischen Stempel – und lässt seiner Band Freiheit, wenn es um virtuose Improvisationen geht. Zwischen Swing und Bebop übergeht der Bassist Heinze keine Chance, mit gekonnten Soli dem Werk weitere Facetten hinzuzufügen. Schlagzeuger Roland Höppner schwelgt im ihm gegebenen Freiraum nicht nur bei „Diamonds are a girls best friend“ mit kreativen Drumapplikationen. Das Können der Drei fließt ineinander, lässt Jazzfreude aufkommen, wenn sich aus der ruhig-brodelnden „Ballade“ ein wahrhaftes Feuerwerk an instrumentaler Spannung entwickelt, welches sogleich zu fantastisch lyrischen Klangträumen mutiert.
Dabei und dazwischen immer wieder die beflügelten Tastenspiele von Wolfram Schmitz, der etwa über Latino-Rhythmen eher selten Ausflüge zu Querständen unternimmt, dafür aber das Publikum in Klangwelten mitnimmt, die schnelle Pianoläufe und wirbelnde Akkordik zu einem groovenden Sound ohnegleichen formen. So klingt wahrlich starke Musik. Das ist wirklich befreiender, fröhlicher Jazz.
Mag sein, dass Schmitz mal Legende wird – so wie die Swinglegenden, die ich live erleben durfte.
Veranstaltungen mit diesen Swinglegenden sind kein geeignetes Treffen für Nostalgiker. Im Jazz und mit dem Jazz scheint das Altern nicht einmal biologisch eine Rolle zu spielen. Da besteigen mit Hugo Strasser, Paul Kuhn und Max Greger mehr als 230 Jahre Musikgeschichte die Bühne, und mit ihnen und der SWR-Bigband erlebt das Publikum erneut, dass der Swing unsterblich ist. Seit 4 Jahren touren die Swinglegenden durch ganz Deutschland. Sie zelebrieren nicht sich dabei, sondern die Musik, für die sie Synonym geworden sind. Die Musik, mit der gleich mehrere Generationen gelernt haben, das Tanzbein zu schwingen. Tausende von Titeln haben die Drei eingespielt, die es nach wie vor den Zuhörern schwer machen, ruhig im Sessel zu verharren, wenn etwa Glenn Miller musikalisch wiederaufersteht. „Jeder Ton ist ehrlich und live“, sagt Greger. Er hat Recht. „Pennsylvania 6-5000“ strotzt vor Authentizität. Und bei „Serenade in Blue“ oder der wunderschönen Ballade „Stardust“ lässt der Saxofonist und Bandleader die Swingträumer dahinschmelzen. Hugo Strasser, mit 82 Jahren gerade mal 4 Jahre älter als Greger, tut es seinem ehemaligen Bandchef gleich. Sein irischer „Danny boy“ im Glenn-Miller-Arrangement verbreitet Klarinettenzauber. „Some of the state“ wird zur Ode an Django Reinhard, und mit „Bei mir bist du scheen“ präsentiert er einen Welthit im mitreißenden Two-Beat.
Der Junior im Bunde ist Paul Kuhn, 76 Jahre jung. Als Pianist („Ol’ Man River“) oder als Sänger von Sinatra-Titeln entfacht er Swing-Feuer in seinem Auditorium, dass Feuer fängt und Freudentaumel erlebt.
Das alles ist eingebettet in humorvolle Moderationen. Und bei allem bildet die SWR -Bigband das, was zum satten Sound gehört: Großartige Bläsersets, fantastische Rhythmusarbeit und eine grandiose Spielfreude, die überspringt und etwa bei Count Basies „Wonderclub-Jump“ sogar zur Musik fürs Auge mutiert.
Musik fürs Herz lernen die Konzertbesucher seit vielen Jahren bei einem Musikgenie kennen, das durch den Film „Schindlers Liste“ Berühmtheit erlangte.
Leise klarinettierend geht Giora Feidman durch den Konzertsaal, bringt die Zuhörer dazu, einen Grundton zu singen, über den er herrlich zu improvisieren weiß. Schon zu Beginn des Konzertes lässt der Klarinettenvirtuose keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Instrument auch sein Sprachrohr ist. Er lässt es schreien, jauchzen, erzählen und malt die Vielfalt der musikalischen Farben direkt in die Seelen der faszinierten Fans. Und die kommen einfach alle auf ihre Kosten.
Feidman überschreitet die Grenzen zwischen U- und E-Musik, verbindet mit kurzen Übergängen Klassik, Klezmer, Folklore und Jazz zu einem gediegenen Ganzen.
Der Klarinettenmann ist nicht alleine gekommen. Guido Jäger am Bass und Jens-Uwe Popp an der Gitarre zelebrieren mit ihm als Trio das Programm „Dance of Joy“. Und sie sind nicht nur Beiwerk, nicht nur gut für die Percussion, die sie auch auf ihren Saiteninstrumenten vollführen. Das Trio lebt durch 3 Solisten, die ihr Können auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Gemeinsam durchwandern sie die ganze Bandbreite der Dynamik, machen sich vor allem die leisen Töne zu Eigen. Dabei entstehen atemberaubende Klangteppiche, gewebt aus sehr feinen Ton- und Rhythmusreihen.
„Musik vereint“ sagt und lebt Feidman. Mahler, Piazolla und Prokofiev begegnen Gershwin und traditioneller Musik. Vereint sind auch Mozart und Scott Joplin. Zauberhaft erklingt das Adagio aus dem Klarinettenkonzert, das „without a border“ in Joplins Ragtime „The Entertainer“ mündet und von Jäger und Popp noch mit Exerpten der Jazzlegende „Weather Report“ verziert wird.
Feidman lässt die Klarinette das „Ave Maria“ flüstern, schaukelt sich und seine Mitspieler hoch in die ebenso temperamentgeladene wie wunderschön melancholische Klezmerfröhlichkeit.
Musik verbindet auch Trio und Publikum. Immer wieder, selbst bei Mozart, summt und singt die Feidman-Gemeinde, meditiert das „Dona, Dona“ und klatscht die Rhythmik des „Hawa nagila.“
Musik verbindet auch Völker. Feidman engagiert sich einmal mehr politisch für Frieden und Gerechtigkeit. Musikalisch setzt er das um in eine beeindruckende Verbindung der Nationalhymnen von Deutschland, Israel und Palästina.
Bei allem ist das Konzertprogramm nicht zusammengewürfelt, sondern mit einer unglaublichen Liebe fürs Detail inszeniert. Gefangen von der Musik folgen die Zuhörer gespannt dem, was die drei Künstler aus ihren Instrumenten zaubern. Die Angst, nur einen dieser Töne überhören zu können, schwebt im Raum. Frenetisch applaudieren die alten und neuen Feidman-Fans, danken am Ende für ein Konzert, das alle Erwartungen übertroffen hat.
Das war’s für heute. Mehr Tipps in der nächsten Ausgabe von TROTTOIR.
Bis demnäx. Euer Bernhard Wibben
Redaktion: Bernhard Wibben
2005-03-15 | Nr. 46 | Weitere Artikel von: Bernhard Wibben