17. Internationale Kulturbörse Freiburg:
Überraschende Parallelwelten
Alle Jahre wieder ist die Internationale Kulturbörse Freiburg eine Börse der Superlative, eine, die Besucher- und Ausstellerrekorde bricht, und eine, die immer wieder für Überraschungen gut ist.
Endlich, die 17. Kulturbörse hatte eine Spielstraße, die minutiös aus dem Straßentheaterzusammenhang entliehen war. Eine tolle Idee, Stelzengänger, Walk-Acts und mobile Bands aus dem Januarregen zu holen und in Halle 1 auf das Kunsttrottoir mit Straßencafé zu schicken. Blaue Rollmöpse, „Blaurauschen“ von Art Tremondo, kullerten leise durch die Flure, und auch Sicurteatro aus Italien stelzten erfreulich für die vielen Schauwilligen. Wenn aber die Bläsertruppe Men in Blech übers Teppichpflaster donnerte, war man selbst im Theatersaal noch wie vom Donner gerührt. Dafür konnten die armen, schwarzen Männer nichts. Wenn sich 2006 auch frustrierte Aussteller vom Stand beim therapeutischen Bobby-Car-Fahren solidarisch outen dürften, wäre diese Spielstraße bestimmt ein Segen und für eine Walk-Act-Sause von nie gekanntem Ausmaß gut.
Im Kontrast dazu ließ das Innovationskonzept in Halle 2 –⁞ Musik auf nur einer Bühne, aber im Stundentakt – weder Stimmung noch Besucherquote aufkommen. Tonangebendes konnte man im „Stundenhotel“ schwer ausmachen, denn die Musikbühne wurde zur schemenhaften Parallelwelt. Das lag zum Glück daran, dass im Theatersaal ein hochkarätiges und auf je drei Kurzauftritte eingedampftes Programm zu sehen war. Ein Musikblock, wenn im Theatersaal keine prime time mehr herrscht, wäre prima gewesen. Stattdessen musste man zum Beispiel ab 18.20 Uhr noch 40 Minuten warten, bis einem die nächste, stur festgelegte Musikstunde schlug. Auch der diesjährige Varieté-Block fiel mau aus, selbst wenn die Reifenakrobatik eines Tigris oder die Kraftakrobatik von Pop Eyed Höhepunkte waren. Ein Zauberer als Moderator und drei Zauberer im Programm: das war entschieden zu viel. Da hätte Conférencier Thorsten Strotmann besser neben seinen Kunststückchen auch die Kunst der Kollegen gebührend angekündigt. Vielleicht täte der Kulturbörse eine Rückbesinnung auf ihre Kernkompetenzen gut, denn im Theatersaal wurde, vor allem von der starken Riege der Nachwuchskünstler, viel Qualität geboten.
Mit „Liebe“ von Hagen Rether gelang ein phänomenaler Einstieg. Als Barpianist bekundete Rether der „handverlesenen Kulturelite“ lapidar seine Spielwilligkeit und legte auf der Kante des Konzertflügels demonstrativ einen Baseballschläger nieder. Doch der Pianist behielt mit ruhiger Hand nur die Klaviatur im Anschlag, plätschernd, virtuos, zuweilen aufbrausend, während er, ganz en passant, lächelnd zum gemeinen Gedankenstich ausholte und die Republik, ihre Ikonen und den Rest der Welt verbal in Einzelteile zerlegte. Rethers distinguierte Livree erwies sich als Kampfanzug für die seismographische Kabarettistenseele, unterm Jackett eine rote Armbinde, die als schwarzes A-Abzeichen den nationalen Notstand vor Augen führte und befremdliche Assoziationen weckte. Verwirrender, verträumter Bar-Jazz ,wenn Rether die Augenbrauen hob und arglos in die Runde stierte. Der harmlose Anstrich wirkte, denn mit den Zwischentönen ließ Rether seine Gedanken aufblitzen wie Messerschneiden. Das hatte Kultstatus und ist in diesem Format in der Kabarettlandschaft schon lange nicht mehr gesichtet worden. Danach hatten die Ringelreimlieder, die Tom van Hasselt am Piano an den Fachhörer bringen wollte, keine Chance.
Ein Kleinkunstkompott gelang Detlef Winterberg. Mit Slow-Motion und Dolby Surround zeigte der geräuschvolle Pantomim-Kabarettist, wie unterschiedlich ein Happy End im herkömmlichen und im Tierfilm der neuen Generation ausfallen kann. Gibt Winterberg einen Pantomime-Klassiker, dann hört man immer den Schlick, durch den er an den Genre-Grenzen watet. Unverstanden, wie bei den Pantomimepäpsten, blieb Winterberg auf der Kulturbörse nicht, denn das ging erfrischend runter. Wie wahnsinnig gingen Sybille und der kleine Wahnsinnige auf das Fachpublikum los, das sich aufs Spielchen nicht einließ. Das Liebesverwicklungslied hat auch mit einem „Normalo“-Mann funktioniert. Als partout auch noch die Stimme versagte, da hat Sybille sich gut rausgeredet und mit doppeltem Einsatz weitergemacht. Die Präsentation war überdreht. Das Gefühl, in kurzer Zeit so richtig aufdrehen zu müssen, mag begründen, warum so viel Druck auf Stimme und Publikum lag. Im Normalbetrieb passiert das nicht. Diplom-Physiker Vince Ebert hat mit dem Stand-up-Kabarettprogramm „Urknaller“ rechtzeitig zum Einstein-Jahr eine Formel gefunden, die Physik sexy macht. Ob im Swingerclub oder auf der Suche nach dem Tempo der Liebe: er rechnet immer mit zwei Unbekannten. Wenn er das Publikum spröde mit Formeln überfordert oder mit flotten Bewegungsmodellen erklärt, wie drei miteinander gekoppelte Körper Chaos verursachen, dann überzeugte die Performance nicht nur durch den nüchtern wissenschaftlichen Blick, sondern irgendwie auch durch das blasse Aussehen des Protagonisten. 428 Tage gefühlte Zeit hat Chansonniere Christiane Weber mit ihrem Pianistenpartner Timm Beckmann im letzten Jahr verbracht und das hat sich gelohnt. Perfekte Paar-Chemie ließ das Duo Weber & Beckmann mit „Kurz vor endlich“ Funken sprühen. Freches, junges Liedgut enttarnte den Liebhaberreigen im IKEA-Schrank und Partnerstichelei schuf knackige Programmbrücken. Dabei langt die Weber gerne kräftig zu, denn wenn der Beckmann zu wüst wird, schläft sie nicht, sondern reagiert sich mit Schäfchentöten ab. Lautlos rückten Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub als Ohne Rolf mit Papier und Druckerschwärze an, um die Plakatkunst in eine neue Spieldimension zu führen. Sprechfreie Improvisation ist mit vorgedruckten Texten machbar, besonders, wenn mit dem Medium selbst gehadert wird, wenn Worte und Tinte ausgehen, oder ein Mitspieler aus dem Publikum sich mit durch den Blätterwald hangelt. Da glaubt man nicht, dass dieser Sturm im Blätterwald vorgefertigt ist, so spontan wendet sich das Blatt. Eine wundervoll vielschichtige Nummer. Marco Tschirpke brachte ein neues Tempo in die Unterhaltungsbranche. „Lapsuslieder“ nennt der Klavierkabarettist winzige Song-Frechheiten. Liedtexte und Kompositionen reduziert er auf ein nihilistisches Mindestformat, das selten länger als 20 Sekunden währt und Inhalte auf den aberwitzigsten Punkt bringt. Da wünscht man sich, dass seinen verschrobenen Kleinigkeiten zumindest ein langes Bühnenleben beschert ist.
Auffallend viel durfte über Adolf Hitler gelacht werden. Wohl eine Art Kleinkunstkompensation des Oskar-nominierten Films „Der Untergang“. Selbst beim Perkussionsspektakel Auto Auto, das als abendfüllendes „Special“ zu sehen war, tauchte der „Führer“ als phrasendreschender Redner auf. Bei der Materialschlacht mit einem Opel Kadett E verband sich höchste Musikalität mit scheinbar blinder Zerstörungswut zu einem Programm mit irren Spannungsmomenten. Atemberaubend, wenn die Axt beim rabiaten Percussionpart das Autodach zertrümmert und im nächsten Moment der dünngeschlagene Karosseriestreifen sphärisch als singende Säge erklingt. Warum das so schön geschundene Auto am Ende dann doch brachial zertrümmert wurde, blieb unklar. Der Schweizer Kleinkunstpreisträger 2004, Andreas Thiel, aber verdeutlichte, dass es allemal Tabus im deutschen Politkabarett gibt. Thiel fragte sich, ob die israelische Politik immer Recht hat, weil sie ohnehin rechts steht und sich das vielleicht von woanders ins Land geholt hat. Wenn die Katze Arafat, der Hamster Hamas und der Hund Gaddafi heißen, machen ganz normale Alltagsplaudereien verdächtig. Dranbleiben lohnte sich bei Thiels Wortkolonnen, auch wenn es nicht leicht war. Wer eine Sentenz verpasste, konnte nur partiell wieder einsteigen. Wer aber den feinen Ideenfaden behielt, genoss das edle Gespinst wie ein Gourmet.
Routinier Jo van Nelsen zeigte sich frisch und ausdrucksstark. Dabei war er mit Thorsten Larbig am Flügel in bester Begleitung. Etwas von seinem Hang zur historischen Aufarbeitung ist ihm auch im aktuellen Programm geblieben. Aber jetzt kontrastiert er gekonnt Europa und die USA entlang von Grand-Prix-Schlagertiteln. Auch Deutschland erstrahlt im Licht von 50er-Jahre-Schlagern. So zeigte van Nelsen mehr vom Zeitgeist, als Bücher das je vermögen. Guru, Dichterfürst oder Gott – als changierende Erscheinung erklomm Friedhelm Kändler einen Thron und rezitierte per Vers. Das Schneebesenzepter schwingend, im langen Gewand, entspann er eine göttliche Komödie mit Sprache und Bedeutung. Gewand tragen bedeutet nicht gewandt sein, denn über ein Gewand kann man straucheln. So amüsierte sich der Wortgewandte kindlich und königlich und fütterte mit poetischer Wortnahrung das geneigte Publikum satt und glücklich.
In einer raffinierten Lesung beleuchteten die Schauspieler Gerlis Zillgens und Bernd Gieseking die Hintergedanken eines Mann-Frau-Balzkarussells. Ein Single Ostwestfale trifft auf eine paarungswillige, aber scharf kalkulierende Junggesellin. Das Verhältnis nimmt eine plötzliche Wendung zum Guten, als aus einem Treppensturz ein unvorhersehbares, neues Glück entwächst. Schade, dass die Lesung und auch Luise Kinseher in ihrer Paraderolle als Chamäleon vom Straßentheater in Halle 1 beschallt wurden. Die Kinseher entblätterte im Einfraubetrieb das ganze Charakterpsychogramm des monströsen Personalbestands der Firma „Glück & Co“ mit minimalen Gesten- und Kostümwechseln. Göttlich, wie Cousine Maria in ihrer Hobbystunde mit Biegeplüsch und Gummihuhn rabiat am kleinen Glückserlebnis bastelte. Kay Ray ist wohl der farbigste Paradiesvogel und die stimmgewaltigste Göre seit Nina Hagen und war wohl auch die schrillste Entdeckung der Börse. Als Moderationsversuchung eloquent wie Desiré Nick, zog er mit unzensierter Schnauze keine Grenze an der Gürtellinie. Mit beiden Beinen über von Tierschützern totgequatschten Robbenpelz stelzend, gerät er von Alzheimer-Bulimie, wo man frisst und vergisst zu kotzen, ins Haar von Angela Merkel und Hape Kerkeling. Ray singt mit der Kraft der drei Diven, rollt das „R“ wie Zarah Leander, hüpft Hagen-mäßig durch Oktaven und aalt sich in Tönen wie Milva. Seine Talente verwandelte er als Kunstgestalt regelrecht zum Kult. Eine entsprechende Fangemeinde wird wohl nicht lange auf sich warten lassen.
Zum Glück waren neben Auto Auto noch mehr Künstler vertreten, die sich in kein gängiges Bühnenformat pressen lassen. Das niederländische Musik-Comedy-Duo Tenor Stenzel & Mister Kivits etwa mit raumgreifender Klassik. Da lud der Flügel zur Rutschpartie, tanzte in voller Breite mit dem Pianisten, während der Tenor auf der Wippe um Ausgleich kämpfte, wenn ihn hohe Töne abheben ließen. Ein klasse Klassik-Tollhaus! Zum Schauen schönes Objekttheater inszenierte Philipp Boe mit „mémoire de la nuit“. Die sparsam kalkulierten Bedeutungsmotive René Magrittes erweckte er magisch zum Leben und vollendete das Bild mit einem überraschenden Bühnenabgang. Beim Figurentheater Raphael Mürle ging die Ausstrahlung der Marionettenmusiker zwar im Bühnenrahmen flöten, aber die hohe Spielkunst war im weißen Guckkasten besonders gut zu sehen. Abseits von Fachpublikum darf das Bühnenbild liebevoller ausfallen.
Redaktion: Sybille Zerr