Neuer Zirkus oder zeitgenössischer Zirkus? Solche Haarspalterei riecht nach akribischer französchischer Schubladendifferenzierung, doch ist an der Sache etwas dran, wenn man am Tag ein paar Herzschläge für den Zirkus übrig hat. Die Unterscheidung, so wie sie Jean-Michel Guy vom Kulturministerium in "Mouvement", Frankreichs bester Tanzzeitschrift, vorschlägt, bezieht sich auf die Tendenz vieler Kompanien, aus ein oder zwei Zirkusdiszplinen in Verbindung mit Musik, bildender Kunst und Schauspiel neue Formen von Zirkustheater zu begründen. So arbeitet Zingaro ausschließlich mit Pferden, Les Arts Sauts arbeiten nur am Trapez, Triplex jonglieren, Les Nouveaux nez tragen rote Nasen und Johann Le Guillerm ist ganz allein der Cirqu'ici und integriert bildende Kunst, so wie Que Cirque als Akrobaten vor allem den eigenen Körper zum Kunstwerk erheben. Dem gegenüber stehen als zeitgenössischer Zirkus Le Cirque Plume oder Le Cirque baroque und die bieten weiterhin einen Mix aus vielerlei Akrobatik, Clowns und Jongleuren. Nur die Dressur muß draußen bleiben, man ist politisch korrekt. Suche nach Dynamik und Schauspiel setzt ein, nach zu erzählenden Geschichten und neuen Musiken - und das heißt oft Rock. Und dann gibt es den Versuch, dem Zuschauer eine neue Position anzubieten.
Jonglierender Erdgeist
Le Cirque baroque legt in "Ningen" Kissen zu beiden Seiten des Laufstegs aus so dass ein Teil des Publikums direkt an diesem "Weg der Blumen" sitzt oder kniet. "Ningen" ist japanisch und bedeutet Mann. Recht männlich geht es zu, denn das Stück (sic!) erzählt (sic!) das Leben von Yukio Mishima. Dessen Welt bestand, bis zum Suizid, aus Machismus und Härte, aus Cocktailparties und Fliegerei, dargestellt durch Uniformen aus Leder. Der Cirque Baroque hat hervorragende Jongleure und Artisten. Die Regie von Augustin Letellier verrät dessen Herkunft: das Teatro del Silencio aus Santiago de Chile dessen letzt Produktion, "Nanaqui", dem Kreuzweg Antonin Artauds in der Psychiatire gewidmet war. Viel Schreie und verzerrte, uniforme Gesichter. Schmerz und Schocks. In "Ningen" vereinen sich Archaik und Modernität in einem Bildertheater das vielleicht einen der Trümpfe des Zirkus preisgibt: die Faßbarkeit des Artisten, seine unmittelbare Realität. Exzess einer konstruktiven Entwicklung: Als ein Makel des traditionellen Zirkus war ja gerade ausgemacht worden daß der Artist und seine Nummer einzig auf sich selbst verweisen und isoliertes Entertainment produzieren, aber weder Sinn noch Gemeinsamkeit. "Ningen" setzt vor allem auf die Schönheit der Bilder und manchmal fragt man sich warum der wollhaarige weiße Erdgeist denn jonglieren muß. Aber wenn die Keulen so richtig wirbeln und, wie schon in früheren Produktionen der Kompanie (Candides) das Kampfgetümmel bilden, dann wirkt auch der Tanz des Samurai auf dem Feuer nicht mehr aufgesetzt.
Zirkus im Liegestuhl
Les Arts Sauts : wie erklärt man ein Wortspiel? Am besten mit einer Gleichung: Art (Kunst) + Sauts (Sprünge) = Arceaux (Turnringe). Die Kompanie kommt vom Strassentheater und bot ihre zu Gesang und Celloklängen poetisierte Trapezartistik auf diversen Festivals. Jetzt haben sie sich ein aufblasbares Kuppelzelt zugelegt und ein paar hundert Liegestühle für die Zuschauer. Wird in "Ningen" das andere Sitz-und Schauerlebnis noch angedeutet, gehen Les Arts Sauts in "Kayassine" in die vollen. Wie Meteoriten erscheinen die die Personen einer diffus keltischen Sage, ohne Ziel und Richtung in den Himmel gezeichnet, aus dem Dunkel des Alls über den Köpfen der Zuschauer. Die hängen derweil in den Liegestühlen ab und geniessen die unerwartete Perspektive. Kobolde, Flieger und eine Fee schweben am Himmel. Doch bevor die Geschichte sich entwickeln kann, wird sie abgebrochen. Die Truppe steigt direkt unter das Dach und verwandelt sich in am Trapez wirbelnde Schneeflocken. In der Horizontalen erleben wir ihre Flüge wie unter LSD. Die Körper treiben auf uns zu, beschleunigen und vergrössern sich unvermittelt. Manch einem mag dabei flau im Magen werden, wie in der Achterbahn. Doch hätten wir diese Perspektive nicht, wäre es eine stinknormale, wenn auch beeindruckende Trapeznummer. "Kayassine", so berichtet die Truppe, ist das laotische Wort für Zirkus. Die Suche nach neuen, exotischen Wegen und Impressionnen ist ein Merkmal des Nouveau cirque. Bartabas findet seine Sänger in Marokko, Rajastan und Korea während der Cirque Baroque trotz Mishima und japanischer Paravents Muster der westlichen Gesellschaft aufgreift.
Familienzirkus
Langsam versöhnt sich nun der moderne Zirkus wieder mit seiner Tradition. Da machte doch tatsächlich Pierrot Bidon, der Regisseur von Archaos, die Pferde mit Motorrädern ersetzen, eine Inszenierung für den Cirque Joseph Bouglione: "B wie Beethoven"! Und das mit Pferden und Tigern. An den Bougliones führt in Frankreich kein Zirkuspfad vorbei. Die Sprößlinge aller Sippen der Familie teilen sich auf in In, Off und Out. Als Babuschka thront Madonna Bouglione in ihrem Théâtre du Ranelagh im vor Geld triefenden 17. Arrondissement von Paris. Im gebeutelten 18. Bezirk haust der geoutete Alexandre, der aus Zwist mit dem Stamm der Familie sein Patronym aus dem Namen seiner Untenehmung gestrichen hat : Le Cirque Romanès heißt es jetzt. Ein Romazirkus in familiärer Herzlichkeit. Madonna ist von eher distanziertem Temperament, doch auch sie verkörpert den Widerspruchsgeist der Familie, indem sie im Ranelagh ausnahmslos Jongleure, Akrobaten, und Clowns aller Länder auf den Programmzettel setzt und so volkstümliches Theater bietet statt literarischer Prätention und Pariser Präziosen. Hölzernes Schnitzwerk im Foyer und im Saal bei Madonna; ein staubiger Hinterhof zwischen Wohnblocks, Ruinen und Büschen bei Alexandre. Der Cirque Romanès macht tatsächlich Kleinkunst, vom Opa bis zur Enkelin, und für manche Nummern genügt ein Dreher am Seil, ein Sprung auf das stehende Pferd oder ein Salto am Boden. Hauptsache der Rythmus stimmt. Der Rest der Familie steht im Halbkreis, macht die Musik und klatscht dazu, Babies auf dem Arm. Zum Knutschen. Bei so viel menschlicher Wärme ist laut Statistik die Kriminalität im Viertel gesunken seit die Truppe dort Quartier bezogen hat. Und das nun schon in der x-ten Saison. Zigeuner?? Sie haben zwar mal in München gespielt und dort auf einem Festival - neuer Zirkus???? - den ersten Preis gewonnen, sind aber die seßhafteste Truppe die man sich denken kann. Und sind vom Nouveau Cirque weit entfernt, dafür aber ein Beispiel für durch ganz behutsame Änderungen im Stil entstehenden zeitgenössischen Zirkus auf Schmusekurs mit den Ursprüngen.
Jonglage getantzt
Auf den neuen Zirkus treffen wir regelmäßig im Ranelagh mit der angesprochenen Tendenz der Zirkusdisziplinen, sich zu verselbständigen. In denen letzten Monaten waren Jonglage und Akrobatik Trumpf. "Einer für alle, alle Kousins", lautet der Schlachtruf von Les Cousins. Ansonsten sind sie, verglichen mit der typischen Kleinkunstkompanie - für die Kleinkunst immer auch Redekunst bedeutet - ziemlich schweigsam und konzentrieren sich auf das Jonglieren in schier unmöglichen Positionen lablilen Gleichgewichts, nur an den Hosenträgern vor dem Fall vom Küchentisch bewahrt. Den Rythmus ziehen sie aus Flamenco und brasilianischem Pop. Zu Beginn präsentieren sie sich dem in den Saal strömenden Publikum in einem einzigen Jackett als siamesischer Drillingskousin. Dann zeigt sich, daß sie zwar verbrüdert sind, nicht aber egalitär. Einen Chef muß es geben und auch den August, dem das Brett ins Gesicht gepfeffert wird während er sich sich auf einen Plastikbecher setzt. Neu sind die Gags nicht, aber sie laufen prächtig. Neuer Zirkus? Aber klar, denn erstens läuft die Show im Theater und zweitens machen Julot, Lolo und René in "C'est pas dommage" (Ist nicht schade) aus ihrer Kunst mit den Bällen einen Tanz auf dem Vulkan. Sogar eine Ballett-Parodie ist im Programm. Die Körper der drei Athleten werden manchmal selbst zu Objekten mit denen die Musik zu jonglieren scheint. Ein Szenenphoto findet sich unter www.neuronnexion.fr/les_cousins/.
Sogar die Jonglage selbst teilt sich in Sparten. Die einen, wie Les Cousins und Triplex, setzen ganz auf Bälle, die andern hantieren nur mit Keulen. So Les Accrostiches, die, wie Les Cousins, auf weltweiten Tourneen auch schon auf deutschen Brettern keine Keule fallen ließen. Ihr "Personellement vôtre" (Persönlich zu diensten) spielten sie schon über 350 mal, wie sie während der Aufführung immer wieder beteuern, und haben auch neue Auftritte zwischen Bonn und Berlin im Auge. Daß sie ihre Jonglage auch mit geschlossenen Augen aufführen könnten, glaubt man ihnen sofort. Sie werden auch nicht müde, es verbal zu betonen, und ebenso stolz sind sie auf ihre unbestreitbare Jungmananger-Dynamik. Echte oder nur gespielte Ironie? In seiner Perfektion gleicht "Personnellement vôtre" einer TV-Wiederholung. Von Anfang an ist klar, daß hier keine Keule zu Boden fallen wird. Die Nummern sind zu sehr geölt um ein Kribbeln im Bauch zu erzeugen. Les Cousins haben ihre Show wohl ähnlich oft auf die Bühne gebracht, doch haben sie sich Frische und Schauer der ersten Auftritte bewahrt. Wie sagte Jérôme Thomas, der König der Jongleure: Ein guter Jongleur muß am Abend zwei, drei Bälle fallen lassen. Das beweist, daß er das Risiko sucht und seine Grenzen erweitert. Auch Jérôme Thomas macht Nouveau Cirque bis hin zu Objekttheater à la Philippe Genty - mit Jonglagebällen. Jedes Jahr organisiert er im Süden von Paris, in Malakoff, das Festival "Dans la jongle des villes" (frei nach: Dans la Jungle des villes - Im Dickicht der Städte). Dieses Jahr vom 10.-13. Juni. Zurück zu Les Accrostiches. Deren geniale Seite ist nicht das Jonglieren, sondern die Bodenakrobatik. Höhepunkt im Programm ist eine grinsende Persiflage auf stalinistische Monumentalarchitektur in rosa Bodys und Badekappen (siehe Foto). Da läßt sich das Risiko nicht ausschalten. Der Dame im Sessel neben mir knackten vor Spannung ihre eigenen Knochen.
Besoffener Baryton
Natürlich gibt es nicht nur Zirkus. Einer der grössten Publikumserfolge 1998 war "Hop!éra" was sich auf französisch genauso spricht wie opéra. Ein Opernpotpourri in absurden Sketchen mit Persiflage auf das romantische Ballett; die Callas von Paparazzi abgeschossen und Carmen umgekrempelt als weibliches Torrero-Tio, das dem Stier-Mann die Genitalien absticht. Die Offenbach-Probe ersäuft im Sekt etc... Die einfachen Szenen werden ohne Accessoires gespielt und durch Intermezzi getrennt, in denen drei Zwerghexen in Barock-Kostümen wispern und kichern. Dahinter steckt die Analyse der katalanischen Regisseure Jordi Purti und Toni Alba. Opernnarren sind nicht verkalkt, behaupten sie, sondern sind Sadisten und gehen überhaupt nur in die Oper, um zu erleben wie Chorleute sich auf die Füsse treten, Balletttänzer im Schweissgeruch ihrer Partner zusammenbrechen und die Sopranistin mit dem Gesäss singt, woraufhin ihr die Stimme versagt. "Hop!éra" lässt da keine Wünsche offen.
Puppen oder Padox ?
Die Compagnie Dominqiue Houdart hasst das Wort Puppentheater, für ihre Padox ebenso wie für die Vögel, Fische und Kröten, mit denen Houdart die Alceste umb(!)ebenden Personen aus Molières "Menschenfeind" darstellt. Das ist nicht Kleinkunst sondern psychoanalytisches Theater und tiefschwarze Seelenforschung. Die Padox machen dagegen Kabarett und Strassentheater: Drei gealterte Herren mit Köpfen aus gräulichem Pappmaché und von kindlichem Charme. Im Café-Concert umgarnen sie Jeanne Heuclin, die als Diseuse und Sängerin Chansons von Yvette Guilbert und revolutionäres aus der Pariser Commune singt und spielt. Da heben die Padox auch mal den Fuss und wagen einen Rentner-Cancan. Die Padox sind wirklich ein Phänomen. In den Anzügen stecken natürlich keine Opas sondern junge, gelenkige ... ähh ... Puppenspieler? Schauspieler? Houdart glaubt, alle Wörter mit "marionette", also Puppe, klängen unausweichlich nach Kindertheater. Und spricht deshalb nur von "Formen" und "Figurentheater". Muss aber in jeder Diskussion irgendwann doch zur "marionette" zurückkehren. Schwamm drüber, schliesslich wird gerade Figuren- und Formentheater in Frankreich von einer eigenen kleinen Institution gefördert, und die heisst ausgerechnet "Théâtre de la marionette". Was Jeder ahnt: Houdart ist nicht Mitglied. Aber das Théâtre de la marionette macht sich wirklich verdient und präsentiert auch Perlen von ausserhalb. Zum Beispiel die junge israelische Puppenspielerin und Tänzerin Yael Inbar mit ihrer "Tragödie" von der alten Gertrude. Dieser Frauenfigur leiht Yael mal ihre Füsse, die Gertrudes Arme werden, mal tanzt sie mit Gertrude als alter ego, mal besteht die ganze Figur nur aus Yaels Händen. Yael Inbar vereint verschiedenste Techniken in einer Geschichte zwischen Märchen und Moderne. Sie war die umjubelte Entdeckung des Puppentheaterfestivals von Charleville-Mézières. Aus England kommen Andrew Dawson und Joseph Houben mit " Four Hands" und "Space Panorama", einer Auftragsproduktion der Fabrik in Potsdam. Ersteres ist fein stilisiertes Ballett mit vier Händen, fast hypnotisch in den Raum geschrieben. Eine Love-story voller Zärtlichkeit - zwischen den scheinbar leblosen Händen, die nur über parrallele Bewegung kommunizieren, und ihren Meistern deren Gesichter die auf die Hände projizierten Emotionen widerspiegeln. Eine treffliche Illustration in black & white zu Kleists Marionettentheater-Thesen. "Space Panorama" ist die humorvoll-pantomimische Abstraktion eines fiktiven TV-Propagandastückes über die erste Mondlandung. Mit gemimten Piktogrammen untstreichen die beiden Schauspieler ihre Fähigkeit zur Abstraktion und ihren Hang zum schwarzen Raum.
Redaktion: Thomas Hahn