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    Auch in der Gascogne



    Der „nouveau cirque“ scheint derzeit wieder richtig in Fahrt zu kommen, und das ironischerweise, weil er immer mehr daherkommt wie eine Kunst, die zwar neu gestylt ist, im Grunde aber alles den Wurzeln der Tradition schuldet. Geht die Entwicklung so weiter, dürfte es bald müßig sein, zu unterscheiden zwischen der Alten Garde und den Jungen Wilden, die einst gegen sie rebellierten. Zumindest die Ästhetik des Familienzirkus steht immer höher im Kurs. Heute liegt im Trend, wer einen Abend aus einzelnen Nummern aufbaut, zusammengehalten durch die Beziehungen zwischen den Figuren. Die sind außerdem immer häufiger Artisten und Musiker in einem. Immer häufiger, und dafür gebührt Dank, wird auch Wert gelegt auf musikalische Kreativität. Kitschig säuselndes Summen und Trällern, wie es in den letzten Jahren häufig aus wenig inspirierten Kehlen schallte, scheint out zu sein. Das ist schön, denn Zirkus genießt man gerne auch mit den Ohren. Immer öfter wird Musik ins Stück eingebunden und auch inszeniert. Das war so bei dem in mancher Hinsicht bemerkenswerten „Question de directions“ des Collectif AOC (Trottoir 51). Und der Trend verstärkt sich. Deutlich wird das schnell auf einem Festivals wie Circa, das im November 2007 bereits seine zwanzigste Ausgabe feiern wird. Circa entstand in Auch (gesprochen: „ohsch“), einer Kleinstadt im Niemandsland namens Gers, zwischen Toulouse und der Atlantikküste, im Herzen der Region Gascogne. Fand das Festival bis 2003 auf einem Gelände am Stadtrand statt, so versucht Festivalleiter Marc Fouilland inzwischen, die Artisten in den Alltag der Stadt zu integrieren. Es ist ein Drahtseilakt. Nicht nur, dass die Stadt auf einem Hügel liegt und ebene Flächen kaum zu finden sind. Fouilland muss auch mit vielen Ladenbesitzern verhandeln, denen der Festivalbetrieb die Kundenparkplätze zustellt. Doch nichts ist eleganter als das Überwinden von Hindernissen. Das blaue Zelt vor der Kathedrale stand zwar schief, aber gerade deshalb wirkte es wie subtile Kunst im öffentlichen Raum. Diese unabsichtliche Skulptur, alle Achsen kippend vor einem Kirchenbau, der selbst von Baugerüsten umspielt wurde, schien zu fragen, was eigentlich mit Sicherheit bestimmbar ist. Fouilland will weitergehen und bald auch die Wohnwagen der Artisten eine Woche pro Jahr im Stadtbild verankern und weiterhin das Duo Zirkus und Zelt verteidigen gegen den Trend, Artisten in Theatern auftreten zu lassen. Zirkus ist eben auch eine Lebensart, für Akteure und Publikum. Das Publikum dieses Festivals kommt längst aus ganz Europa. Getragen wird das Event von der Vereinigung Circuits. Das klingt wie „Cirque, oui!“ und war zur Gründungszeit eine mutige Aussage in einer auf sich selbst bezogen lebenden Region, wo Nomadentum keinen guten Ruf genießt (www.cicuits-circa.com).

    Keimzelle von Circa war ein Treffen von Zirkusschulen in Auch, und der Nachwuchs ist auch im 19. Jahr noch die Seele des Festivals. Der Überraschungsgast war Tunesien. Die Ecole Nationale des Arts du Cirque de Tunis (ENACT) existiert erst seit drei Jahren. Sie wurde gegründet von Mohammed Driss, dem Leiter des Théâtre National Tunesien und wird geleitet von Férid Elmi. Vorbild sind die institutionellen Zirkusschulen Frankreichs. Das Projekt genießt die persönliche Unterstützung des Staatspräsidenten Ben Ali. Gerade stellt ENACT mit „Halfawin“ die erste Kreation vor, und die Begeisterung war einhellig. Zwei Choreografen haben den vier Artistinnen und sechs Artisten eine pulsierende, stets kraftvolle Choreografie geschrieben. Interessant zu beobachten, wie hier am Chinesischen Mast ganz neue Beziehungen zwischen dem Gerät und den Körpern entstehen. Die Regie lag in den Händen des französischen Choreografen Gilles Baron und auch er verzichtete darauf, die Energie der Akteure in zu starke narrative Vorgaben zu zwängen. Der tunesische Choreograf Soufiane Ouissi lässt sie selbst auf dem Seil und am Mast leicht und tänzerisch aussehen. Umso spannender ist es zu beobachten, wie die schöne Fassade immer wieder bröckelt und abrupten Gesten weichen muss. Da bricht hervor, dass einige der Artisten aus schwierigen Verhältnissen kommen. Diese soziale Komponente des Projekts ENACT verschweigt man in Tunesien gern. Auf Teppichen und zu tunesischer Musik (hier noch vom Band, aber für die nächste Kreation versprechen sie Live-Musiker) erinnern die getanzten Abschnitte an drehende Derwische, um 45 Grad gekippt und frei in der Luft kreiselnd. „Halfawin“ mischt westliche Zirkustechnik und Kostüme mit Sufi-Spiritualität. So entsteht ein sanftes, anziehendes Bild arabischer Kultur, eine Ode an die Gemeinschaft und an die Harmonie zwischen Tradition und Moderne, nie aber irgendwelcher Postkartenkitsch. Tunesien will nun der Zirkuspol Afrikas werden und das Projekt ENACT ist auf dem Kontinent tatsächlich einzigartig. Es wird in Tunis die gigantischen Gebäude der ehemaligen Schlachthöfe beziehen und in späteren Jahren auch internationalen Kompanien Auftrittsmöglichkeiten bieten (www.theatrenational-tn.com).

    Das Vorbild in Sachen Schule kam in Form von „Toto Lacaille“, der Aufführung des 17. Jahrgangs der staatlichen Zirkusschule in Chalon. Was die aber taten, würde in Tunesien als Rebellion gelten. Anstatt nämlich wie alle Jahrgänge zuvor auf einen Choreografen oder Regisseur zu hören, machten sie’'s allein. Ohne Chef schrieben sie eine muntere Folge aus ironischen Szenen, und sogar ein Pferd ist dabei. Ob Seiltänzer, Akrobaten oder Voltigeure: alle sind auch Musiker. „Toto Lacaille“ ist die perfekte Synthese der alten und der neuen Zirkuswelt, ohne sich je ernst zu nehmen. So wie sie „Sex Machine“ auf klapprigen Instrumenten spielen, erinnert das Stück selbst an einen Trottel, der weiß, dass er einer ist, aber zum Vergnügen aller so tut, als nähme er sich für voll.

    Noch „klassischer“ ist (man muss es aber nicht so sehen) die Kompanie Zanzibar mit „Sang et or“. Hier ist das Publikum wirklich lebendiger Teil der Aufführung, im Rundzelt ist es einfach aktiver, geistig und körperlich. Die Nummern aus Akrobatik, Moonwalk, Trapez, Jonglage etc. sind bunt wie ein Kindertraum. Die Jazzband ist dynamisch und fröhlich. Das Aktuelle liegt in der Ästhetik, z. B. jener der Flugbahnen von Objekten und Körpern. Zanzibar ist wie Familienzirkus, der den Draht zum Heute gefunden hat. „Sang et or“ zeigt, dass Zirkus eine Antwort auf die Atomisierung der Gesellschaft sein kann (http://cirque-zanzibar.com).

    Das Spiel mit der Gefahr holt den neuen Zirkus ein, wie ein Spiegel des wieder zunehmenden Gefühls, in einer riskanten Welt zu leben. Auffällig ist auch, wie häufig Stücke mit Drahtseil-Acts beginnen und das Seil immer mehr eine Metapher aktueller Zukunftsängste wird. Der Umgang mit dem Seil wird choreografischer und kreativer. Das gipfelt in „Le fil sous la neige“ von Les Colporteurs. Ein Seil unter dem Schnee, bitte, was ist das? Sieben Seiltänzer sind im Spiel und keine andere Zirkusdisziplin. Dieses völlig neue Konzept war die Idee von Antoine Rigot, einst Frankreichs bekanntester Seilkünstler. Dann kam sein fataler Sturz. Er überlebte knapp. Heute kann er wieder gehen, mühsam und unter dem Seil. Für seine sieben Interpreten spannt er Seile auf drei Etagen und lässt sie darauf choreografisches Theater spielen. Das feinsinnige Stück ist eine Recherche darüber, wie Poesie entsteht, wenn sich Zirkus im Kunststück auflöst. Auch hier geht es um die Beziehungen der Figuren, in der Gruppe oder im Paar. Das Trio der Musiker ist ebenfalls erfreulich kreativ. Es wäre wohl noch kreativer, hätte Rigot mit einem Choreografen gearbeitet. Aber dieses Stück ist in seiner Poesie und seiner Komplexität ein gelungener erster Schritt, dem zeitgenössischen Zirkus eine neue Facette hinzuzufügen (www.lescolporteurs.com).

    Die Sackgasse, in die Zirkus steuert, wenn er sich ungeschicktem Geschichtenerzählen unterwirft, demonstrieren die zwei Leuchtturmwärter von „Le phare“, die nach und nach den Verstand verlieren. Skurrile Käuze sind sie, die an der Einsamkeit und den Naturgewalten zerbrechen. Doch Regisseur Boris Gibé von Les choses de rien offenbart, dass seine Vorstellungen von Poesie und Dramatik über gemeingefälligen Kitsch nicht hinauswachsen.

    Redaktion: Thomas Hahn

     AdNr:1085

    2006-12-15 | Nr. 53 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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