Keimzelle von Circa war ein Treffen von Zirkusschulen in Auch, und der Nachwuchs ist auch im 19. Jahr noch die Seele des Festivals. Der Überraschungsgast war Tunesien. Die Ecole Nationale des Arts du Cirque de Tunis (ENACT) existiert erst seit drei Jahren. Sie wurde gegründet von Mohammed Driss, dem Leiter des Théâtre National Tunesien und wird geleitet von Férid Elmi. Vorbild sind die institutionellen Zirkusschulen Frankreichs. Das Projekt genießt die persönliche Unterstützung des Staatspräsidenten Ben Ali. Gerade stellt ENACT mit „Halfawin“ die erste Kreation vor, und die Begeisterung war einhellig. Zwei Choreografen haben den vier Artistinnen und sechs Artisten eine pulsierende, stets kraftvolle Choreografie geschrieben. Interessant zu beobachten, wie hier am Chinesischen Mast ganz neue Beziehungen zwischen dem Gerät und den Körpern entstehen. Die Regie lag in den Händen des französischen Choreografen Gilles Baron und auch er verzichtete darauf, die Energie der Akteure in zu starke narrative Vorgaben zu zwängen. Der tunesische Choreograf Soufiane Ouissi lässt sie selbst auf dem Seil und am Mast leicht und tänzerisch aussehen. Umso spannender ist es zu beobachten, wie die schöne Fassade immer wieder bröckelt und abrupten Gesten weichen muss. Da bricht hervor, dass einige der Artisten aus schwierigen Verhältnissen kommen. Diese soziale Komponente des Projekts ENACT verschweigt man in Tunesien gern. Auf Teppichen und zu tunesischer Musik (hier noch vom Band, aber für die nächste Kreation versprechen sie Live-Musiker) erinnern die getanzten Abschnitte an drehende Derwische, um 45 Grad gekippt und frei in der Luft kreiselnd. „Halfawin“ mischt westliche Zirkustechnik und Kostüme mit Sufi-Spiritualität. So entsteht ein sanftes, anziehendes Bild arabischer Kultur, eine Ode an die Gemeinschaft und an die Harmonie zwischen Tradition und Moderne, nie aber irgendwelcher Postkartenkitsch. Tunesien will nun der Zirkuspol Afrikas werden und das Projekt ENACT ist auf dem Kontinent tatsächlich einzigartig. Es wird in Tunis die gigantischen Gebäude der ehemaligen Schlachthöfe beziehen und in späteren Jahren auch internationalen Kompanien Auftrittsmöglichkeiten bieten (www.theatrenational-tn.com).
Das Vorbild in Sachen Schule kam in Form von „Toto Lacaille“, der Aufführung des 17. Jahrgangs der staatlichen Zirkusschule in Chalon. Was die aber taten, würde in Tunesien als Rebellion gelten. Anstatt nämlich wie alle Jahrgänge zuvor auf einen Choreografen oder Regisseur zu hören, machten sie’'s allein. Ohne Chef schrieben sie eine muntere Folge aus ironischen Szenen, und sogar ein Pferd ist dabei. Ob Seiltänzer, Akrobaten oder Voltigeure: alle sind auch Musiker. „Toto Lacaille“ ist die perfekte Synthese der alten und der neuen Zirkuswelt, ohne sich je ernst zu nehmen. So wie sie „Sex Machine“ auf klapprigen Instrumenten spielen, erinnert das Stück selbst an einen Trottel, der weiß, dass er einer ist, aber zum Vergnügen aller so tut, als nähme er sich für voll.
Noch „klassischer“ ist (man muss es aber nicht so sehen) die Kompanie Zanzibar mit „Sang et or“. Hier ist das Publikum wirklich lebendiger Teil der Aufführung, im Rundzelt ist es einfach aktiver, geistig und körperlich. Die Nummern aus Akrobatik, Moonwalk, Trapez, Jonglage etc. sind bunt wie ein Kindertraum. Die Jazzband ist dynamisch und fröhlich. Das Aktuelle liegt in der Ästhetik, z. B. jener der Flugbahnen von Objekten und Körpern. Zanzibar ist wie Familienzirkus, der den Draht zum Heute gefunden hat. „Sang et or“ zeigt, dass Zirkus eine Antwort auf die Atomisierung der Gesellschaft sein kann (http://cirque-zanzibar.com).
Das Spiel mit der Gefahr holt den neuen Zirkus ein, wie ein Spiegel des wieder zunehmenden Gefühls, in einer riskanten Welt zu leben. Auffällig ist auch, wie häufig Stücke mit Drahtseil-Acts beginnen und das Seil immer mehr eine Metapher aktueller Zukunftsängste wird. Der Umgang mit dem Seil wird choreografischer und kreativer. Das gipfelt in „Le fil sous la neige“ von Les Colporteurs. Ein Seil unter dem Schnee, bitte, was ist das? Sieben Seiltänzer sind im Spiel und keine andere Zirkusdisziplin. Dieses völlig neue Konzept war die Idee von Antoine Rigot, einst Frankreichs bekanntester Seilkünstler. Dann kam sein fataler Sturz. Er überlebte knapp. Heute kann er wieder gehen, mühsam und unter dem Seil. Für seine sieben Interpreten spannt er Seile auf drei Etagen und lässt sie darauf choreografisches Theater spielen. Das feinsinnige Stück ist eine Recherche darüber, wie Poesie entsteht, wenn sich Zirkus im Kunststück auflöst. Auch hier geht es um die Beziehungen der Figuren, in der Gruppe oder im Paar. Das Trio der Musiker ist ebenfalls erfreulich kreativ. Es wäre wohl noch kreativer, hätte Rigot mit einem Choreografen gearbeitet. Aber dieses Stück ist in seiner Poesie und seiner Komplexität ein gelungener erster Schritt, dem zeitgenössischen Zirkus eine neue Facette hinzuzufügen (www.lescolporteurs.com).
Die Sackgasse, in die Zirkus steuert, wenn er sich ungeschicktem Geschichtenerzählen unterwirft, demonstrieren die zwei Leuchtturmwärter von „Le phare“, die nach und nach den Verstand verlieren. Skurrile Käuze sind sie, die an der Einsamkeit und den Naturgewalten zerbrechen. Doch Regisseur Boris Gibé von Les choses de rien offenbart, dass seine Vorstellungen von Poesie und Dramatik über gemeingefälligen Kitsch nicht hinauswachsen.
Redaktion: Thomas Hahn
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