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    Nachdenkliches und Ausgefallenes im Stuttgarter Festival-Sommmer

    Zum 90. Geburtstag von Hanns Dieter Hüsch haben Jürgen Kessler, Holk Freytag und Irmgard Haub ein Programm über das Leben von Hüsch zusammengestellt, der im Dezember 2005 gestorben ist. Dieses Programm wurde im Stuttgarter Renitenztheater aufgeführt, in dem Hüsch sehr oft aufgetreten ist. Prägend sind Informationen über das Leben von Hüsch, und im zweiten Teil gibt es einen langen Dialog zwischen Hüsch, gespielt von Freytag, und seinem Agenten Kessler, der das im richtigen Leben auch 3 Jahrzehnte lang war. An alles wird erinnert, an seine Tourneen, an die Frieda Geschichten, an seine Heimatstadt Moers, seine Bewunderung für Thomas Bernhard, an erste Radiosendungen und an die große Zahl an Programmen, beinahe 50, die der Künstler in seiner Karriere geschrieben und oft über Jahre gespielt hat.

    Neben seinem Programm „Und sie bewegt mich doch“ aus dem Jahr 1984, das von Hüsch  - seine letzte geschlossene gesellschaftliche Auseinandersetzung - als seine beste Arbeit bezeichnet wurde, spielt ein weiteres Programm als Meilenstein eine Rolle: „Enthauptungen“. Hüsch war 1968 auf dem Festival auf der Burg Waldeck von linken Besuchern so stark gestört worden, dass er sein Programm nicht fortsetzen konnte. „Enthauptungen“ war seine Antwort darauf, und er zog sich in die Schweiz zurück und trat, von kleinen Ausnahmen abgesehen, jahrelang in Deutschland nicht mehr auf.

    Ansonsten lebte Hüsch lange in Mainz, nach dem Tod seiner Frau Marianne zog er nach Köln. Im Jahr 2001 erlitt er einen Schlaganfall und lebte mit seiner zweiten Frau Christiane in Windeck.

    Neben den biographischen Daten gab es immer wieder Ausschnitte aus seinen Programmen, mehr die ernsteren Stücke. Und natürlich Lieder, vorgetragen von der Sängerin Irmgard Haupt, die von Johannes Reinig gut und einfühlsam begleitet wurde. Ein Höhepunkt war „Ich sing für die Verrückten, die seitlich Abgeknickten“, ein Lied, welches das kabarettistische Lebensmotto von Hüsch wunderbar beschreibt. Er war ein Poet, er war der Lyriker unter den Kabarettisten, der wunderbar mit Sprache und sehr feinem Humor umgehen konnte. Immer wieder überschlugen sich die Kritiken mit Aussagen wie „Einzelgänger der kritischen Phantasie“, „Vagant am Straßenrand des Lebens“ oder mal schlicht „Vaterfigur der Klein-kunstszene“. Mit einem Augenzwinkern weist Jürgen Kessler auch darauf hin, was aus den nachgeborenen fernsehkompatiblen Kollegen geworden ist.

    Zum Ende jedes Teils wird ein Originaltext von Hüsch eingespielt, außerdem zwischendurch Statements und Grüße an den unsterblichen Jubilar von Ottfried Fischer, Harald Martenstein und Renate Küster-Hildebrandt.

    Mit dieser wunderbaren Collage haben Jürgen Kessler, der auch Aktuelles einfließen ließ, und seine Mitstreiter Hüsch zum Geburtstag ein wunderbares Denkmal gesetzt.


    artbild_250_Ernst__Heinrich Trotz des heißen Sommers mit einer kurzen Sommerpause gab es ein dichtes Kleinkunst- programm im Renitenz-Theater. Spitzen- kabarettisten wie Matthias Richling mit „Richling spielt Richling“, das Duo Ernst und Heinrich (Foto) mit „Schnäpple City“, humorvoll, musikalisch perfekt, schwäbisch und ein Dauerrenner, Hagen Rether mit seinem Programm „Liebe“, das ständig aktualisiert wird, Lisa Fitz, Uli Keuler, das Urgestein des schwäbischen Kabaretts und immer wieder Werner Koczwara mit „Einer flog übers Ordnungsamt“, der mit unterschied- lichen Programmen in diesem Theater häufig zu sehen ist.


    Besonders möchte ich auf weitere satirische Kleinkunstproduktionen hinweisen, die in Stuttgart praktisch immer wieder zu sehen sind. Im Theaterhaus ist es das Stück „Caveman“ von Rob Becker, das von Martin Luding gespielt wird. Rund 700 Vorstellungen hat es im Theaterhaus bereits gegeben. Im Windschatten dieser Produktion etablierten sich der „Männer Abend“ mit Luding und Roland Baisch und „Cavewoman“, eine Comedy mit Heike Feist. Das Männer- und Frauenthema ist seit Jahrzehnten aus dem deutschen Klein- kunstszene nicht mehr wegzudenken. Ob es mehr feinsinnig satirisch oder mehr im Stil von Comedy bearbeitet wird, ist eine Frage des Geschmacks, die das jeweilige Publikum selbst für sich beantworten muss.


    artbild_250_staehlin Die deutsche Kleinkunstszene hat einen großen Ver- lust erlitten. Im Alter von 73 Jahren starb im Sep- tember nach einer schweren Krankheit der Lieder-macher und Kabarettist Christof Stählin. Er war bereits Mitte der 60er Jahre auf der Burg Waldeck bei den Festivals bekannt geworden, wo er neben Degenhardt, Süverkrüpp, Mey und Wader auftrat. Nach seiner LP  „Privatlieder“ bei einer bekannten Plattenfirma gründete er sein eigenes Label, um unab- hängiger produzieren zu können. Im Gegensatz zu vielen Kollegen schrieb er keine harten Politsongs, sondern beschäftigte sich mit Dingen des Alltags, wurde zum Meister der poeti- schen Lieder. Sein Wissen gab er in seiner Schule für „Poesie und Musik“, die er „Sago“ nannte, weiter und unterstützte damit Kolleginnen und Kollegen wie Judith Holofernes, Bodo Wartke, Sebastian Krämer und viele mehr. Nach den Stationen Marburg, Bonn und Tübingen wurde er in Hechingen sesshaft. Stählin schrieb auch Essays für überregionale Zeitungen, auch hier griff er, wie in seinen Liedern und Satiren, Menschliches und Allzumenschliches auf. In diesem Sinne ist er natürlich mit Hanns Dieter Hüsch verwandt. Grobe Comedy war ihm ebenfalls fremd. Er war ein Mann der leisen Töne, philosophisch, intellektuell, humorvoll. Auch wenn Christof nicht mehr unter uns weilt, seine Anstöße, seine Haltung, seine Texte und Lieder werden für alle, die seine andere Kleinkunst erlebt haben, auch weiterhin ein guter Begleiter sein.


    Um über den Tellerrand der Kleinkunst zu schauen, möchte ich noch über zwei wichtige Festivals berichten: Das „Jazz Open 2015“ und das Tanztheaterfestival „Colours“.

    Die Macher des „Jazz Open“ in Stuttgart präsentieren nicht nur reinen Jazz, sondern laden auch interessante Gäste aus anderen Musikstilen, zum Beispiel aus der Rockmusik, ein. So gab es einen Abend mit Bob Geldof. Ein tolles Konzert in der Freilichtbühne des Mercedes-Museums an einem warmen Juliabend. Zunächst bricht Geldof das erste Lied ab, weil Zuschauer zu spät aus der Pause zurückkommen und ununterbrochen vor seiner Nase herumlaufen. Aber dann ist er nicht mehr zu bremsen. Mal spielt er Lieder mit irischem Einschlag, mal erinnern seine Songs aus seiner Solokariere an Bob Dylan. Dann schwenkt er wieder um, arbeitet sich an einem Blues ab. Und natürlich dürfen auch seine Hits mit den „Boomtown Rats“ wie „I don`t like Mondays“ nicht fehlen. Die Zuschauer sind so begeistert, dass der Zugabenteil fast eine Stunde dauert.

    Als Vorgruppe gab es Folkrock mit Carl Verheyen, der bei Supertramp gespielt hat. Ein ausgezeichneter Gitarrist, was er mit vielen Soli demonstriert. Einer der Höhepunkte seines Konzertes war eine Coverversion des Hits „The times they are a changin´“ von Bob Dylan.

    Eine ausverkaufte Vorstellung gab es wie im letzten Jahr mit Jamie Cullum im Ehrenhof des Stuttgarter Schlosses. Cullum hat in Stuttgart ein Stammpublkum.

    Bei seinen bekannten Liedern singen alle mit, lautmalerische Refrains werden vom Publikum mehrfach wiederholt. Eine interessante Stimme, mal bluesig-jazzig, mal im Stil eines Rocksängers. Seine Songs sind aber auch  im Popbereich angesiedelt. Und immer wieder gibt es Showeffekte, wenn Cullum zum Beispiel minutenlang sein Klavier wie ein Schlagzeug bearbeitet.

    Weitere Festivalgäste waren Ralph Towner, Mariza, Lizz Wright, die auch ein ständiger Gast in Montreux ist, Gregory Porter, Davis Sandborn, Marcus Miller, Zaz und Max Heere & Friends.


    Überraschungen konnte man auch auf dem Tanztheaterfestival „Colours“ erleben, organisiert vom „Gautier Dance Theater“, das  im Theaterhaus Stuttgart beheimatet ist.

    Das erste Stück, das ich während des Festivals besuchte, hatte fast einen satirischen Charakter: Shaun Parker & Company mit „Blue Love“, ein Stück über ein Paar und die Suche nach der perfekten Beziehung. Und es beginnt sehr ausgefallen. Das Paar verteilt zuerst einmal wie im Kino Popcornbecher an die Gäste, setzt dann noch einen drauf und kommt mit Bierflaschen in den Saal, alles wird gratis unter den Zuschauern verteilt. Neben Tanzelementen dominierten Filmeinspielungen und lange gesprochne Passagen, wie man es im Tanztheater selten erlebt.

    Ein Höhepunkt war eine verbale Auseinandersetzung, die nur mit Rock- und Poptiteln geführt wurde. Er: „I beg you pardon, I never promised you a rosgarden“, wonach sie mit „Love is a battlefield“ antwortet. Natürlich wird dabei gut und akrobatisch getanzt. Das Thema Liebe als Schlachtfeld - und das leicht und locker präsentiert mit Musik aus unterschiedlichsten Stilen, viel Augenzwinkern, Humor, ein echter Überraschungsabend. Aufgrund der vielen Elemente ein abwechselungsreicher Abend, der vom Publikum mit langem Applaus belohnt wurde.


    Ganz anders der Abend mit dem „Netherland Dance Theater 1“, die vom „Kronos Quartet“ begleitet wurden. Das Ensemble ist eines der führenden Tanzkompanien der Welt. „Spiritwalking“ war einer der Höhepunkte des Festival. Die Musik stammte von Philip Glass. Auch wenn die Kompositionen von Glass nicht jedermanns Sache sind, hat diese Zusam-menarbeit weltberühmter Künstler einen starken Eindruck auf dem Festival hinterlassen.

    Zum Abschluss noch mal ein Höhepunkt: Dada Masilos „Carmen“. So lebendig geht es selten auf der Bühne zu. Da wird geklatscht und getanzt, mit dem Hintern gewackelt, da wird gesprochen und geschrien. Aber es steckt viel mehr dahinter. Diese Interpretation ist eine  Auseinandersetzung mit dem Mann-Frau Thema auf einem hohen politischen und künstlerischen Niveau. Das Carmen-Thema ist bekannt. Getanzte Zweikämpfe zwischen den Rivalinnen, perfekte Körpersprache, die Liebe, Aggression, Erotik und Eifersucht symbolisiert. Wenn man in „Carmen“ oft Frauen als Spielbälle von Männern sieht, so gibt es  in diesem Stück einen anderen Schluss. Nach ihrer Vergewaltigung durch Don Jose muss dieser seine Tat mit dem Tod bezahlen, Carmen triumphiert. Eine rauschhafte Interpretation dieses Themas, das Publikum ist die ganze Zeit wie gebannt. Die Arbeit der Truppe wird mit lang anhaltenden Standing Ovations belohnt.

     

    Redaktion: Bruno Schollenbruch

    Bildnachweis:
    Mathias Richling (Teaser) Foto: Rafael Kroetz
    Duo Ernst & Heinrich Foto: Gudrun DeMaddalena
    Christopf Stählin Foto: Wolfgang Schmidt


    2015-10-01 | Nr. 88 | Weitere Artikel von: Bruno Schollenbruch





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