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    Mimos '98 - Hommage an Etienne Decroux

    Weder Possenreißer noch trommelnder Hochseilkabarettist, sondern hundertjährig. Das wäre er heute, hätte ihn nicht 1991 in medialer Versenkung das Zeitlose gesegnet. Etienne Decroux, geboren 1898, verhalf der Artikulation des Körpers zu ihrer eigenen Grammatik, entwickelte Theorie und Praxis des "Mime corporel". Das geschah weder auf der Straße noch im Caf'Conc', sondern es begann im heimischen Wohnzimmer. Angestiftet wurde Decroux in den 20er Jahren in der Theaterschule von Jacques Copeau, dem Leiter des Théâtre du Vieux Colombier. Wörtlich genommen, Körperkunst aus dem Taubenschlag. Welch große Kunst war das, denn Viele die heute im Theater den Körper in den Vordergrund stellen, verdanken ihr Konstruktionsvermögen indirekt Etienne Decroux - bei dem nicht nur Jean-Louis Barreault und Jacques Lecoq in Lehre gingen, sondern auch Marcel Marceau.

    Der Mime corporel baute auf für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gewagten Prinzipien auf. Der Körper war so spärlich bekleidet wie es die Moral  - der Akteure, nicht des Publikums - zuließ. Bühnenbild oder Accessoires gab es nicht. Eine Kunstsprache ist umso reicher, je weniger Material sie einsetzt, lautete ein weiteres Prinzip. Die Schlichtheit von Decroux's Mimodramen macht es unmöglich, den Mime corporel ästhetisch einer Epoche zuzuordnen, ähnlich wie die Höhlenzeichnungen von Lascaux heute avantgardistisch anmuten. Decroux's abstraktes Bewegungstheater ist universell wie dieGrammatik der Linguisten. Viele sahen darin eine Art Tanz und der lebensfrohe, wortgewandte Decroux haßte solche Interpretationen ebenso wie das antiquierte Sprechtheater und die Pantomime des 19. Jahrhunderts. Asketisch waren seine stark stilisierten Übungssequenzen, eher lyrisch seine Ausarbeitungen für das Publikum, mit viel Musikalität in den Bewegungen. Sein Repertoire aus der Gründerzeit umfaßt Szenen, die das Wesen der Bäume erforschen ebenso wie Arbeitsabläufe aus Handwerk und Fabriken. Narrativ wurden sie erst später und geegn die Überzeugung des Meisters.

    Im Mime corporel vereinen sich Geometrie und Philosophie mit Kritik an dehumanisierender Industrialisierung. Die Prinzipien legte er in "Paroles sur le mime" nieder. Wer auch immer seinen Körper auf der Bühne einsetzt, wird das mit Decroux wesentlich bewußter tun. Sein Einfluß ist spürbar bis hin zu Bob Wilson. Mime corporel wird heute mehr und mehr auch in Tanzausbildung und Therapie eingesetzt, aber vor allem natürlich inder Theaterausbildung, da das Bedürfnis der Schauspieler, Herr über den eigenen Körper zu sein sich immer stärker artikuliert.

     

    1998 : Jahr der Mime

    Das Festival Mimos in Périgueux widmete in diesem besonderen Jahr dem Meister des Mime corporel eine Hommage zu der viel seiner ehehmaligen Schüler anreisten. Diese sind heute selbst Pädagogen und haben ihre eigene Form von Körpertheater entwickelt, allen voran das Théâtre du Mouvement aus Paris (Claire Heggen un Yves Marc) und die Kompanie Omnibus aus Montréal (Denise Boulanger und Jean Asselin). Gekonnt präsentierte Festival-Direktor Peter Bu einige Kompanien, deren Arbeit aufzeigte, wie der Mime corporel heute forlebt und welche Alternativen entwickelt werden. So die russische Kompanie Derevo, die inzwischen mit ihrer Schule in Dresden ansässig ist.  Und deren Arbeit mit hohen Anforderungen an Disiplin, Kraft und Willen eine, für das Auge des Zuschauers, dem Butoh nahekommende Langsamkeit und Eindringlichkeit der Bewegungen erreicht. In Wahrheit sind Derevo vom Butoh ungleich weiter entfernt als Decroux. Was Mime corporel und Butoh verbindet, ist daß die Beherrschung von Bewegungsabläufen über ihr Verständnis erworben wird und kein späteres Training erfordert.

     

    Haiku am Haken

    Das innovativste Körperspiel auf Mimos bot das deutsch-tschechische Theater Alfred, auch Alfred im Hof. In "Hanging Man" hängen die Akteure sich an den Füßen auf und spielen, den Kopf nach unten, kurze Szenen die so beklemmend wie Kurzdramen von Beckett und so poetisch konzentriert sind wie japanischer Haiku. Entweder entsteigen die Akteure, einem Pferd beim Abdecker gleich, einer Mülltonne, oder sie spannen sich in Gummiseile oder sie spielen stumme Dialoge einer entseelten Partnerschaft. Die Körper scheinen, ganz wie im Mime corporel, nur aus Gelenken zu bestehen und dennoch kann sich in einem einzigen Muskel ein ganzes Psychodrama abspielen. Die Füße sind die Proletarier des Körpers, sagte Decroux, denn sie müssen alles (er)tragen. Adeligster Teil des Körpers ist der Rumpf, dessen Gelenke am schwierigsten einzusetzen sind und in den meisten Kunstsprachen vernachlässigt werden. Das Theater Alfred macht, ganz wie Decroux, den Rumpf zum Ausgangspunkt aller Mechanik. Das Ergebnis ist tiefe Emotion, denn leeres Gestikulieren wäre in dieser Position tödliche Vergeudung von Ressourcen. Zwar weicht bei Alfred im Hof Decroux's Lyrik einer härteren Mechanik, die sich nur durch Trainingsdisziplin ölen läßt, doch erstickt der Diskurs über die unendliche Last des Menschseins jegliches zirkusgleiche Hervorkehren der athletischen Performance. "Hanging Man" ist eine Demonstration der Schwierigkeit, nicht von der Schwerkraft der Entfremdung in die Tiefe gezogen zu werden, und gleichzeitig, ein Beispiel dafür, daß der Mensch durch kreatives Handeln die "Condition humaine" herausfordern kann.

     

    Burleske Meditation

    Surrealistische Begegnungen der dritten Art gab es reichlich auf Mimos. Da geißelten konservative Politiker, daß die katalanische Kompanie Semola in "Esperanto" der Gesellschaft ihren pornographischen Spiegel vorhielt. Da führte der zauberkünstlernde Straßenclown Carmelo, Liebling aller Kinder, an einer starren Leine aus Draht seinen imaginären Hund so gekonnt spazieren, daß die Hunde im Publikum auf den Trick hereinfielen und laut kläffend das Duell suchten. Da entflohen die vier orwellschen "Bigbrozeurs" (Kompanie Albedo) auf ihren Stelzen allen Zuschauern und vergnügten sich privat indem sie den städtischen Straßenreininger in seinem Diestvehikel zur Verzeiflung trieben, bis ihm ein Passant klar machte daß doch gerade Mimos stattfinde! Und da schwebten zwei russische Clowns gleichsam auf einem Raumschiff ins Theater und begleiteten mit leisem Reggae und Räucherstäbchen eine burleske Meditation über die Helden der Gesellschaft. Das Duo namens Axe entpuppte sich als ein Team stoischer Heimwerker das mit sinnlos-absurden Experimenten die Gesetze der Physik herausfordert. Die Disproportion zwischen ihren komplexen Maschinen und deren Wirkung entwickelt eine geradezu rituelle Dimension, und birgt im innersten einen zutiefst jiddischen Humor. Oft wird bei Axe der Körper ein Teil der Maschinerie und trägt die an Fäden hängenden Bücher ebenso wie die Fast-food-Küche, anders gesagt: den Campingkocher auf dem Kopf, oder die von einem Gebilde aus Drähten und Stangen beiläufig sezierte (volle!) Colaflasche. Das spritzt ordentlich und wäre statt am Anfang eher am Ende nützlich, wenn die beiden Zeitlupen-Derwische allzu liberal mit dem Feuer spielen. Nicht immer haben sie ihre Experimente auch im Griff. Daß die Aufführung eine Stunde länger dauerte als geplant lag nicht an den Löscharbeiten, sondern "kam einfach so", von den beiden mit einem Achselzucken quittiert. Ist halt eine Performance, und vor allem eine russische. Doch gewinnen Axe ihrem Chaos einen seidenfeinen Humor ab, der eine kosmische Spur von New Age in sich trägt. Was mag wohl seit Mimos (im August '98) aus den beiden geworden sein?

     

    Schlacht von Verdun unter dem Esstisch

    Zwei Kompanien zeigten auf Mimos die clowneske Seite des Körpertheaters und bedienten sich dabei doch der Sprache. Das Duo Comedia Infinita beschränkt sich in "Monsieur et Madame O" auf eben jenes "Oohh!" in allen Tonlagen und Betonungen, während die vier Arbeiter und Vorarbeiter in "Société anonyme" von Dram Bakus ihre Sätze phonetisch deformieren und die non-verbalen Energien ihrer Befehle, Beschimpfungen und Beruhigungen betonen, aber den Wortlaut noch erahnbar lassen. Befehle werden in englisch erteilt: "Get to work!"

    Herr und Frau O liefern sich die Schlacht von Verdun unter dem Esstisch als Politik der verbrannten Blumentopferde. Verstricken sich in Wollfäden wie Soldaten in Stacheldraht und finden Frieden erst nach der Apokalypse. Sie überraschen nicht immer mit ihren Gags, doch ist das Drama fein gestrickt in seiner beklemmenden Sprachlosigkeit und der Spiegelung alltäglicher Obsessionen, die das Eheleben so gänzlich unerträglich machen. Dram Bakus zeigen dagegen eine moderne, überraschende Variante des Clowngewerbes. Obwohl heute wie damals aktuell, wird die Rolle des Arbeiters vor der grossen Maschinerie der "anonymen Gesellschaft" im visuellen Theater selten genug mit Komik behandelt. Thema ist die vermeintliche Banalität des Arbeitsalltags zwischen Spind und Besen, mit Einflüssen von Chaplin bis Zeichentrickfilm. Ihr Spiel ist psychlogisch und lässt sich in keiner Weise auf "L'Usine" von Decroux zurückführen. Subtil komponieren Dram Bakus ein Feuerwerk aus Mikro-Gags, flott und doch fein gewoben aus dem Bedürfnis nach Harmonie und den Fallstricken der harschen Arbeitswelt. Und nun : Get to work!!!

    Redaktion: Thomas Hahn

     

     

    Termine

     

    Matières à conversations

    3 Tage Improvisation vor Publikum verschiedener Kompanien aus Figurentheater, Clown, Tanz, Mime... zum Thema: Das Verhältnis des Körpers zum Raum

    4.-6. Dezember, Théâtre du Lierre,

    22, rue du Chevaleret, 75013 Paris

    Tel: 00 331 45 86 55 93

     

    Internationales Symposium Etienne Decroux

    13.11.1998

    Universiteit Volderstraat

    55 9000 Gent, Belgien

    http://users.skynet.be/iti.vlaams.centrum

     

    "Quatre" von Jérôme Thomas

    im Théâtre D'Ivry Antoine Vitez

    1, rue Simon Dereure

    94200 Ivry-sur-Seine

    00 33 146 70 21 55

    Form: choreographierte Jonglage

    Datum: 24.12.

     

    "Padox Café Concert" Figurentheater mit Chansons von Yvette Guilbert

    vom 2.12 bis 28.1.

    Maison des cultures du monde

    101, Bd Raspail

    75006 Paris

    00 33 1 45 44 41 42

    http://www.mcm.asso.fr

     

    Die Kompanie Flash marionnettes mit zwei Stücken für Kleine und Grosse:

     

    "Leonardo da Vinci"

    Figurentheater mit Text

    16.-22.1.

    Théâtre 71

    3, place du 11 novembre

    92240 Malakoff

    01 46 55 43 45

     

    und

     

    "Flash Circus"30.1.- 16.2.

    Figurentheater/Zirkus

    Théâtre des jeunes spectateurs

    26, place Jean Jaurès

    93100 Montreuil

    00 33 1 48 70 48 92

     

    1998-12-15 | Nr. 21 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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