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  • Themen-Fokus :: Strassentheater

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    Mehr als nur zuschauen

    Strassentheater ist, mehr als jede andere Kunstform, angewiesen auf direkten Austausch mit der eigenen Bevölkerung. Die entwickelt oft genug den Komplex vor der Kultur, selbst wenn diese sich im öffentlichen Raum und ohne Eintrittsgeld darbietet. Politiker, die Festivals finanzieren, verlangen oft konkreten Imagegewinn als Gegenleistung, und das nicht nur dort, wo Festivals neu entstehen. Künstlerisch unabhängig agieren, nicht zum Festspielbetrieb verkommen und die Bindung mit der Bevölkerung unter Beweis stellen. Wie lassen sich diese Erwartungen erfüllen und miteinander vereinbaren?

    René Marion ist es in Cognac teilweise gelungen, die Hemmschwelle abzuschaffen. Dazu musste er eine Ausgabe seines Coup de chauffe direkt in einer der Wohnsiedlungen am Stadtrand austragen. Der Besucherstrom schwillt nun von Jahr zu Jahr an und trotzdem droht dem Festival der Subventionsentzug. Im letzten Jahr traf sich in Cognac das « European Network of Street Arts » (Eunetstar, s. Trottoir Nr. 34). Nicht alle Mitglieder waren anwesend, aber die Direktoren der Festivals in Polen, England, den Niederlanden und Slovenien stellten sich meinen Fragen zu den Beziehungen, die sie mit der eigenen Bevölkerung unterhalten.

    Im United Kingdom ist das Subventionssystem indirekt festgeschrieben, dass die Bevölkerung aktiv in Kreationen eingebunden wird, berichtet Frank Wilson, Gründer und Leiter des Stockton Riverside Festival. So gehörte zum Festival seit der ersten Ausgabe (1988) ein Karnevalsumzug, an dem mindestens dreihundert Einwohner der Stadt teilnehmen, nachdem sie Monate lang an Kostümen und Auftritt gefeilt haben.. Dazu sucht Wilson ständig nach Produktionen, in denen Amateure mitspielen. So wie das Orchester der Perkussionisten in "Lâcher de violons" der französischen Kompanie Transe Express. « Die stehen, in ihrem Dialog mit einem am Himmel schwebenden Streichquartett, wirklich im Herzen der Aufführung. Die Musik ist anspruchsvoll und führt zu intensivem Austausch mit den Berufsmusikern. Aber ich wünsche mir, dass für die Amateure noch mehr stattfindet, als musizieren. Sie sollen einen neue Erfahrung machen und zum Nachdenken angeregt werden. So wie in einem Projekt, das wir zusammen mit dem Festival in Gent produzierten. Ein Friedensprojekt, das um die Welt gereist ist, u.a. nach Equador und Indonesien. Es war ein Kunstprojekt, für das die Einwohner Tipis bemalten. Das ist die Art von Initiativen, die wir für Stockton suchen. » Amateurkünstler, von denen es in Stockton reichlich gibt, sieht Wilson nicht unbedingt als die besten Teilnehmer an. « Diejenigen, die Amateurtheater spielen, im Chor singen etc. verschanzen sich hinter ihren Gewohnheiten. Wenn man sie einlädt, auf andere Weise zu kreieren, kommt es zu Angstreaktionen. Outdoor zum Beispiel. Es könnte ja regnen, oder die Akustik nicht den gewohnten Standards entsprechen. Am besten läuft es mit Normalbürgern, die sich zuvor nie künstlerisch betätigten. Die einfach nur denken: Wir werden Spass haben, los geht’s. Diese Personen haben keine vorgefassten Ideen und fühlen sich weniger einer Beurteilung ihrer Person aufgrund des künstlerischen Ergebnisses ausgesetzt.“ Die aktive Teilnahme der Bürger betrifft zwar nur zwei oder drei Aufführungen pro Ausgabe, aber sie verzahnt das Festival mit der Region, meint Wilson. „80-85% des Publikums lebt im Umkreis von 15km. Aber in jedem Jahr kommt ein Drittel der Zuschauer zum ersten Mal. Der Kreis derjenigen, die das Festival kennen, erweitert sich rapide.“ Das Riverside Festival hat auch innerhalb der Stadt einiges bewegt. Die Selbstwahrnehmung der Einwohner zum Beispiel. Stand Stockton, ein klassischer Schwerindustrie-Standort, in den 1970/80er Jahren für Arbeitslosigkeit und Depression, so ist sein Image heute mit dem Festival verwachsen. „Die vom Festival ausgelöst Kreativität brachte auch mehr Lebensfreude.“  Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur haben sich im vergangenen Jahrzehnt Richtung Hi-Tech verschoben, doch „Stockton bleibt eine Arbeiterstadt.“

    Die Geschichte des Strassentheaters in Polen ist in höchstem Masse eine politische. Wenn auf westlichen Festivals Kompanien aus Osteuropa auftreten, dann in der Regel polnische. Ewa Borowska koordiniert die künstlerischen Belange des Malta-Festivals, des grössten polnischen Theaterfestivals, das jährlich in Poznan stattfindet und seinen Namen nicht zu Ehren unseres Chefredakteurs trägt, sondern nach einem See im Herzen der Stadt, ähnlich der Hamburger Alster. Das Malta-Festival mischt indoor und outdoor und ist nicht das älteste Strassentheaterfestival in Polen. Älter ist z.B. das Festival in Jelena Gora, denn Strassentheater existierte in Polen auch im Sozialismus. Und da gab es gute und schwierige Zeiten. Kompanien wie Teatr Osmego Dnia (Theater des achten Tags, s. Trottoir Nr.37, S. 57) waren die Stimme des polnischen Volkes im Bezug auf die politische Lage. So musste Osmego Dnia während langer Jahre ins Exil weichen. „Die Kompanien waren mehr als die Stimme des Strassentheaterpublikums. Sie spielten eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft allgemein. Das zeigt sich bis heute daran, dass das Publikum sich nicht damit begnügt, Jongleuren zuzuschauen. Es erwartet geistige Anregung.“ Auch in Polen werden ständig neue Strassentheaterfestivals gegründet. „Und das schafft einen wachsenden Markt, so dass auch neue Kompanien entstehen. Die polnische Strassentheaterszene ist vielfältig, bleibt aber in Europa weitgehend unbeachtet.“ Ewa Borowska spricht, da das Malta-Festival beide Sparten anbietet, aus Erfahrung wenn sie glatt verneint, dass Strassenaufführungen ein Mittel sein können, das Publikum zum Sprechtheater in die Säle zu ziehen. „Strassentheater ist eine eigene, unabhängige Kunstsprache die ihre eigene Art hat, mit dem Publikum zu kommunizieren. Und der Zuschauer sucht Theater, das seine Realität reflektiert. Es macht Spass, zu sehen dass Strassentheater sich zu einer weltweiten Kunstsprache entwickelt.“ Dass das Malta-Festival kein reines Strassenfestival ist, mag daran liegen, dass die Stadt mit ihren 700,000 Einwohnern einfach zu gross ist. „Nicht umsonst finden die grössten Strassentheaterfestival in relativ kleinen Städten statt. Man braucht eine gewisse Intimität und geschützte Bereiche. In Poznan gewährt uns das der Malta-See.“

    In Slowenien nimmt die Bewegung ihren Ursprung allerdings in den grössten Städten. Dafür hat aber die Hauptstadt Ljubljana auch nur 300,000 Einwohner und die „leben wie in einem Dorf,“ sagt Goro Osojnik, der neben dem Festival Ana Desetnica auch die Strassentheaterkompanie Ana Moro leitet. Der Titel des Festivals, die „Zehnte Schwester“ spielt an auf die slowenische Legende des zehnten Bruders, des Prügelknaben den die Familie aussetzt, da sie nur neun Kinder ernähren kann. Seit sieben Jahren trifft das Festival auf ein Publikum, das keine Strassentheatertradition kennt. „Die Menschen von hier waren gewöhnt an eine volkstümliche, stark alkoholisierte Unterhaltungskultur aus Volkstanz und Musik. Unser Festival vermeidet es daher, Getränkestände aufzubauen. Es gibt ja genug Cafés und wir brauchen kein Fussballambiente.“ Ein anderes Problem ist die Vielfalt der Kulturen, in dem kleinen Land, das praktisch nur aus Grenzregionen und Mischkulturen besteht. „Das offizielle Slowenisch wird nur im TV gesprochen.“ Doch Ljubljana ist auch eine Kulturstadt. „Jährlich gibt es hier etwa zwanzig Festivals, viele davon auf hohem Niveau. Aber fast alle sind introvertiert. Sie versuchen nicht, den Kreis des eingeweihten Publikums zu erweitern. Strassentheater ist extrovertiert und Ana Desetnica ist fast das einzige Festival, bei dem das Publikum keinen Eintritt zahlt. Und wir hatten die einmalige Chance, ein völlig neues Publikum heranzubilden. 2002 hatten wir 30,000 Zuschauer, die meisten davon in Ljubljana und Maribor. Langsam gehen wir auch in kleinere Städte um die ausländischen Kompanien vorzustellen. Das Ziel sind grössere Produktionen, an denen die Bevölkerung aktiv teilnimmt. Aber wir müssen das langsam angehen. Die Slowenen sind kontaktscheu.“ Bereits die Hälfte des Programms sind einheimische Kompanien, wenn auch das Kulturministerium diese noch nicht als „wahre Künstler“ anerkennt. So wird das Festival von den Rathäusern unterstützt. Strassentheater braucht nicht nur Biotope im Grossstadtdjungel, sondern auch eine Art minimale Grösse der Städte. „ Es ist eine urbane Kultur. Wer im Wald auftreten will, der soll auch seine Stücke für den Wald schreiben.“

    Und wie wäre es mit einer Düne, auf einer Insel mit 3.000 Einwohnern? Jedes Jahr besteigen 60.000 Zuschauer die Fähren, um auf der holländischen Nordseeinsel Teerschelling exklusive Kreationen zu sehen. Osojniks Bemerkung zielt in die richtige Richtung. Eine Kreation sollte mit ihrem Aufführungsort in direktem Bezug stehen. Joop Mulder erinnert ein wenig an José Bové. Nicht nur wegen seines Asterix-Bartes, sondern weil er gegen die Normierung des Strassentheaters kämpft. „Die europäische Szene vermittelt den Eindruck, überall von demselben Sand bedeckt zu sein. Alles wiederholt sich ständig, überall dieselben Ideen, Konzepte und Effekte. Es geschieht immer öfter, dass die Entstehung einer Kreation nicht künstlerisch sondern wirtschaftlich begründet ist. Dann verflachen die Kreationen, so wie bei Le Cirque du Soleil, Stomp oder der argentinischen Kompanie De la Guarda, die heute für den US-Markt produziert.“ Was für Mulder zu einer Art Strassentheater-Fast-Food führt. „Wir brauchen neue Motivationen. Die Menschen interessieren sich immer aktiver für ihre unmittelbare Umgebung. Doch wo entwickeln Kreationen auf den grossen Festivals wie Aurillac oder Chalon dans la rue eine aktive Beziehung zum regionalen Umfeld?“ Auf Teerschelling kreieren die Kompanie in situ, die Insel selbst ist Inspirationsquelle für Aufführungen, die nur hier zu sehen sind. Der Leiter des Oerol-Festival argumentiert entwaffnend einfach. „Warum sollte das Publikum zu Zehntausenden auf unsere Insel strömen, wenn es hier doch nur dieselben Stücke sehen könnte wie auf den anderen Festivals? Wenn dem so wäre, gäbe es unser Festival nicht. Doch es existiert seit 22 Jahren.“ Fühlen sich die wenigen Einwohner der Insel nicht überrollt? „Sie haben viel Spass daran und fühlen sich mit dem Festival sehr verbunden. Viele beteiligen sich an der Organisation. In jedem Jahr wird den Kompanien ein neues Thema vorgegeben, das  im Zusammenhang mit der Insel und ihrer Geschichte steht. Wir benutzen die Insel selbst als Bühne für Theater, das von der hiesigen Gemeinschaft erzählt, von Ereignissen und dem Zusammenleben.  So hat sich die Beziehung zu den Einwohnern in den letzten sieben Jahren stark intensiviert. Wenn Sie heute während des Festivals einkaufen, wird die Kassiererin Ihnen die Stücke empfehlen, die ihr gefallen haben. Ich glaube fest, dass in dieser Art von Beziehung zum Umfeld die Zukunft liegt. Entweder so, oder das Strassentheater wird zur Soap Opera verkommen.“

     

    Redaktion: Thomas Hahn

     

    Die Festivals im Internet:

    www.oerol.nl

    www.anamoro.org

    www.malta-festival.pl

    www.fantasticfestival.com

     

     

    2003-06-15 | Nr. 39 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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