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    Eckig oder rund?

    Tradition & Manege

    Es ist kein Geheimnis dass Zirkus mehr und mehr für frontale Bühnen inszeniert wird und tendenziell aus dem Zelt in feste (Theater-) Bauten zurück kehrt. Ein Beweis dafür, dass Wanderromantik Grenzen hat. Ob der Cirque du Soleil in Kanada, der Circus Space in London oder die gerade eröffnete Académie des arts du cirque Annie Fratellini in Saint Denis bei Paris. Wenn aber für den Zirkus fest gebaut wird, dann geht’s immer noch (ins) Rund! Auch wenn im Fall Fratellini die Architekten fast ausschließlich rohes Holz einsetzen und die Nebengebäude etwas von der Leichtigkeit der Zeltbauten bewahren. Die Académie ist eine lebende Gedenkstätte für die verstorbene Annie Fratellini. Die Manege ist, natürlich, ein Holzbau, für mindestens 1.500 Zuschauer und euphorisiert ähnlich wie die Kathedrale von Zingaro. In dieser Mausoleumsmanege kreierte nun Tochter Valérie Fratellini mit „Kiang“ das erste Werk ihrer Kompanie Galouma. Ein Tanztheater des Abschieds, tibetanisch durchdrungen. Schwarz die Zeremonie, und alle Zirkuskunst nur Schimäre und Erinnerung. Die sich gerade wegen ihrer Abwesenheit umso stärker ins (Negativ-)Bild setzt.

    Welch ein Kontrast zum Cirque d’hiver Bouglione im Zentrum von Paris. Der strahlt und glänzt und feiert sein 150jähriges Bestehen. „Voltige“ heißt die Zirkusshow zum Jubiläum. Ici, c’est chic! In der rot ausgelegten Manege wird, was die Pferde fallen lassen, sofort weggesaugt und der Boden mit Spray neu parfümiert. „Voltige“ wartet mit einigen Nummern auf, in denen die Faszination Zirkus so frisch ist wie vor 100 Jahren. Ohne Schweißgeruch und Nostalgie. So ragen aus dem Programm die dressierten Krokodile von Karah-Khavak heraus, oder die turbulente Jongleuse Shirley Dean. Sie beweist, was wir schon immer ahnten, nämlich dass Frauen es gewandter und temperamentvoller können als die Herren, die aus unerfindlichen Gründen die Jonglage dominieren. Deans Salto Mortale der Hüte, ihr Wirbel der Bälle, ihre Musikalität... Selten hat sich jemand mit so viel Eleganz über die Schwerkraft hinweg gesetzt. Viel Charme auch in Natalia Leontievas Hoola-Hoop-Akrobatik. Dabei balanciert sie auf einem einen Meter hohen Ball! Les Catana treiben, mit Balkan-Flair, die Faszination des Risikos auf die Spitze. Bis in die fünfte Etage der Pyramide aus Trägern fliegen die Akrobatinnen. Da kommt direkt rüber, warum Jean Genet vom Zirkus so fasziniert war. Genauso bei Michael and Adrian, die in einer vertikal rotierenden Stahlkonstruktion um ihr Leben zu rennen scheinen. Jeder an einem Ende, mal oben, mal unten, in oder auf einem Laufrad das Fantasien von zermalmenden Maschinen auslöst. Wer meint, ihm könne keine Zirkus-Nummer mehr Angst einjagen, der sollte seinen letzten Versuch für diesen Action-Thriller aufheben.

    Zirkus der alten Schule, ganz in der Tradition der großen italienischen Zirkusfamilien aus der Zeit des Risorgimento bietet Darix Togni aus Bologna. Die Truppe kommt mit Großmutter, Kind und Kegel und begnügt sich nicht mit ihrem Zelt, dessen über einhundert Jahre alte Masten und historische Lampen allein längst versunkene Atmosphäre zaubern. Ein ganzes Zirkusdorf baut Togni auf, mit Gold und Zierrat wie aus dem Märchen. Renata Scant lud Darix Togni mit ihrem Programm « Florilegio » zu ihrem Festival de Théâtre européen in Grenoble. Die Truppe stürmt die Manege tanzend und zu Pferde in Höllentempo, in Kosaken- und Flamencokostümen. Auch für Gänse ist Platz. Später für Elefanten und Dompteur mit Pickelhaube. Tanz, Trapez und Jonglage bilden ein wahres Feuerwerk. Eine Spur Ironie ist immer dabei, denn alle Folklore ist schelmisch imitiert.

    Authentischer ist die neue Vorstellung des Cirque Romanès. « Die Zigeunerhochzeit » heißt das Programm, das an Tradition anknüpft. Die will, dass zwei Jugendliche im Alter von etwa vierzehn Jahren für eine Nacht gemeinsam der Kontrolle der Eltern entwischen und fortan als verheiratet gelten. So erklärte es Alexandre Romanès, abtrünniger Spross der illustren Familie Bouglione. « Unsere Vorfahren waren Bärenschausteller, die unterste aller Kasten, » beschreibt er die Ursprünge seiner eigenen Zirkustradition. Zur Premiere war selbst seine Kusine Madonna Bouglione zu Gast, die in Paris das Théâtre du Ranelagh leitet. Im 2/3-Kreis, geschlossen von den Musikern, bleibt der Cirque Romanès seiner Tradition treu. Das Zigeunerorchester swingt von Anfang bis Ende, und die Artistik wird von Akrobaten und Jongleuren aller Generationen geboten. Die Nummern sind einfach. « Zirkus braucht nicht mit der Gefahr zu spielen », sagt Alexandre. Stimmt. Wenn Artisten und Publikum sich so verbrüdern wie hier, dann verzaubert Seiltanz auch in niedriger Höhe. Die Nähe zu den Artisten, das familiäre Ambiente machen aus dieser Truppe ein Unikum. Jede Aufführung wird zur gemeinsamen Feier. Am Schluss tanzt das junge Brautpaar auf dem Dach eines bunt bemalten Wohnwagens.

    Sozialen Zusammenhalt und Selbstporträts kreiert Zirkus nicht nur in Afrika oder bei Romanès. Das Festival Furies stellte die Zirkusschule Phare Ponleu Solpak aus Kambodscha vor. Die Schule befindet sich in Battambang. Die jungen Artisten aus dem Khmer-Volk entstammen einem Flüchtlingslager an der Grenze zu Thailand. Der Titel ihrer Aufführung, „Bon touy Ban Tom“ ist die Khmer-Bezeichnung für Kinderbanden, die mit Kleinkriminalität überleben. Eine Anspielung auf ihr eigenes Schicksal. Die Schule bildet heute 120 Artisten aus, von denen fünfundzwanzig täglich trainieren.

     

    Futurismus & Bühne

    Mimos präsentierte die neue Kreation von Mauricio Celedon und seinem Teatro del Silencio. Der Chilene tat sich mit zwei spanischen Kompanien, SamarKanda und Karlik Danza zusammen und ließ sich zu „Amloii“ von Hamlet inspirieren. Intensive Farbflächen, klare Formen, kraftvolle Akrobatik, musikalische Power. Celedon hat eine choreografische Bildersprache entwickelt, die sich mit der von Bob Wilson messen kann. „Hamloii“ ist für die Theaterbühne produziert, monumental, manchmal auch provokant.

    Zirkus der Zukunft zeigt Myriam Barreau aus Brüssel in einer Soloperformance. Die Reise in die Welt der Obsessionen und Fantasie beginnt in einem unterirdischen Gang, etwa in der U-Bahn, wo die Figuren der Werbeplakate unserer Heldin immer aggressiver zu Leibe rücken. Dann sieht man die orientalisch gekleidete Bodenakrobatin und Kontorsionistin im Dialog mit einem Film aus Synthese- und Zeichentrickbildern. Ihre Traumwelt ist fantastisch, surrealistisch. Filigranes Zusammenspiel aus Körper und Trickbildern erlaubt es ihr, sich in einen Raben zu verwandeln, sich von Fantasy-Händen oder Mündern verschlingen zu lassen. Wunderschön und absolut innovativ. Barreau ist Absolventin der Ecole Supérieure des Arts du Cirque in Brüssel. So auch Ante Ursic, der als Jongleur die Körpersprache und Emotionen der Corrida studiert hat. Schlicht und ohne in Folklore abzugleiten jongliert er mit Stäben die nicht den Stier verkörpern sondern die Gefahr und die Emotionen des Toreador.

    Auch Jean-Baptiste André experimentiert mit neuen Film-Technologien. In „Intérieur nuit“ sehen wir ihn in einer Art Trompe-l’oeil in Hi-tech-Form. Trotz digitalen Videos funktioniert der Effekt letztendlich aber nur dank seiner Kontorsionskunst und extrem genauer Studien der Körpersprache. Horizertikal nennt er sein verwirrendes System. Da legt er selbst sich so geschickt in die Horizontale, dass er, vertikal an die Wand projiziert, ganz natürlich zu sitzen scheint. Später scheint er zu gehen, zu klettern, zu laufen. Und obwohl wir André gleichzeitig in Natur und in der Projektion sehen, versagt uns die Fähigkeit, die Perspektiven zu trennen. André absolvierte das Centre national des arts du cirque (CNAC) in Châlons-en-Champagne und zeigte dort auch die Premiere von « Intérieur nuit » im Rahmen des Festivals Furies.

    Was André als Miniatur gelingt, nennt sich im Großformat „Plan B“. Dahinter steckt die Compagnie 111 und deren Regisseur Phil Soltanoff aus der experimentellen Theater- und Tanzszene von New York.  Im finalen Bild das gleiche Spiel: Horizontale Schleuderfiguren auf schwarzem Bühnenboden zeichnen im vertikalen Filmbild eine fantastische Reise durch das All. „Plan B“ kreiert ein neues Verhältnis zur Bewegung, zur Langsamkeit und zum Körper. Einzigartig ist die Recherche im ersten Bild: Auf einer Schrägfläche in 45° rutschen die vier Artisten in einer Choreographie, welche die schiefe Ebene mal horizontal, mal vertikal erscheinen lässt. Die Reibung verlangsamt ihre „Flugbahnen“. Der Halt den die Fläche bietet erlaubt ihnen ungeheure Salti und Schleuderfiguren in einer Vorstufe zur Schwerelosigkeit. Von viel Humor getragen spielt hier auch der Geist des Absurden mit. Alle vier jonglieren übrigens auch noch sehr kreativ.

    Redaktion: Thomas Hahn

    2003-12-15 | Nr. 41 | Weitere Artikel von: Thomas Hahn





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