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    Aktuelle Kritik: „Angies Sonntagssalon“ in der Komödie am Kurfürstendamm

    Nie spürt man das Alter des alten Berliner Westens so deutlich, als wenn man dort vor einer Bühne sitzt, auf der eine Berliner Bühnenshow aus dem Umfeld der Lesebühnen abgehalten wird. Zum Beispiel bei „Angies Sonntagssalon“ in der Komödie am Kurfürstendamm. Schon seit Jahren exportiert das Kreuzberger Mehringhoftheater – eine Heimstätte der alternativen Szene – seinen traditionellen kabarettistischen Rückblick artbild_200_Christoph_Jungm„Jahresendzeitprogramm“ mit Christoph Jungmann als Angela Merkel (siehe Haupttext) hierher. Im Wahljahr wurde nur für diese Bühne ein Ableger mit dem Titel „Angies Sonntagssalon“ entwickelt. Immer am ersten Sonntag des Monats empfängt Jungmann nun als Angela Merkel eine bunte Kollegenschar nach Art der typischen Lesebühnenshows: Man sitzt gemeinsam auf der Bühne, plaudert ein bisschen und zwischendurch hat jeder der Gäste Gelegenheit, ein paar Solonummern zu bringen. Das in diesem Genre geübte, meist eher junge Publikum weiß genau, was zu erwarten ist: ein Sammelsurium unterschiedlicher Künstler, mit oder ohne Musik, mit oder ohne Literatur, gekonnt oder manchmal auch etwas ungelenkt. Dabei kann man tolle Entdeckungen machen. Aber auch mal gelangweilt werden. Das Schöne ist: immer nach ein paar Minuten ist es vorbei und der nächste Gast ist dran.

    Dieses entspannte Grundwissen scheint dem tendenziell grauhaarigen, ungefähr zur Hälfte aus der Provinz angereisten Publikum an diesem Sonntagmittag im Dezember zu fehlen. Es hat keinen Schimmer, dass es schon zur Show gehört, wenn Wortvarietist Bov Bjerg, langjähriger Mitstreiter Jungmanns, als Hauswart im Blaumann beiläufig über die Bühne schlurft, hier ein Wasserglas richtet, dort ein Sofa zurechtrückt, und dabei Fühlung mit den Zuschauern aufnimmt, die gerade ihre Plätze suchen. Auch Jungmann, in charakteristischem Kanzlerinnenoutfit und mit gut sitzender Perücke ein erstaunlich dynamisches Ebenbild der Merkel, grüßt schon entspannt ins Publikum. Doch erst, als es offiziell losgeht, scheint das Publikum überhaupt bereit, dem Geschehen auf der Bühne seine Aufmerksamkeit zu widmen. Unter dem Oberthema „Größe“ soll es diesmal um deutschsprachige Komponisten der klassischen Musik gehen, erklärt Jungmann. Als ersten Gast begrüßt er Autor Dan Richter, der erst umständlich an seinem e-Reader herumfummelt, bevor er ihm die zu lesenden Texte entlocken kann. Das ist natürlich gewollte Verzögerungstaktik, um auf den skurrilen Charme seiner Texte einzustimmen: ein halbes Dutzend Miniaturanekdoten aus dem vermeintlichen Alltagsleben von Mozart, in einem singenden Wiener Dialekt souverän vorgetragen. Im Zuschauerraum beginnt man allmählich zu ahnen, dass hier kein klassisches Politkabarett geboten wird. Ein Teil verabschiedet sich daraufhin in den Sonntagmittagsdämmer. Nur wer noch einen Funken Leben und Neugier in sich glimmen spürt, lässt sich auf die Wundertüte ein und wird in der nächsten Stunde beim Lachen ertappt.

    Als zweiter Gast referiert der Musiker Benedikt Eichhorn kenntnisreich über Richard Wagners Revolutionierung des Dur- und Mollgebrauchs. Normalerweise ist Eichhorn als musikalischer Dauerbegleiter und ritueller Prügelknabe von Comedian Thomas Pigor Stammgast auf Deutschlands Kleinkunstbühnen. Hier hat er endlich einmal Gelegenheit, selbst im Vordergrund zu stehen. Die nutzt er weidlich aus und beweist, dass sein Ego auch dem Solo gewachsen ist. Jungmanns Angela Merkel hält alles in gutgelaunter Zackigkeit souverän zusammen. Lediglich stimmlich erinnert der langjährige Improvisationsschauspieler in dieser Rolle eher an Dirk Bach als an die Kanzlerin.

    Erst nach der Pause kommt das Publikum auf seine Kosten. Dann lässt der Parodist Hannes Heesch, auch er Mitglied des Jahresendzeit-Ensembles, in mehreren explosiven Nummern von Willy Brandt und Herbert Wehner bis Franz Müntefering und Gerhard Schröder bekannte Politiker in wilden Zwiegesprächen aufeinander einbrüllen. Wenn Helmut Schmidt über den s-pitzen S-tein s-tolpert weiß das Gros der Zuschauer endlich, was von ihm erwartet wird und amüsiert sich eifrig.

    „Angies Sonntagssalon“ in der Komödie am Kurfürstendamm ist ein interessantes Experiment. Wie verhält sich die moderne Berliner Comedydisziplin des Bunten Abends so tief im alten, traditionellen Westen? Für die Versuchskaninchen im Publikum vielleicht ein wenig irritierend. Für das souveräne und gut gelaunte Ensemble um Christoph Jungmann wahrscheinlich jedes Mal von neuem ein skurriler Ausflug in eine fremde, seltsame Welt.


    Redaktion: Susann Sitzler

    Bildnachweis: Christoph Jungmann als Angela Merkel. Foto: David Baltzer

    2013-12-30 | Nr. 81 | Weitere Artikel von: Susann Sitzler





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